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Alfons Söllner

ad Hannah Arendt Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft


E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-575-7

Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-117-9

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Print: ISBN 978-3-86393-117-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort:

Anleitung zu einem heterodoxen Klassiker

„Adieu, la France?“ – Frankreich im Frühwerk von Hannah Arendt

I.Pariser Exil 1933–1941: Spuren einer Politisierung

II.Die 1940er Jahre in New York: Frankreich im Windschatten der „jüdischen Politik“

III.Frankreich im Totalitarismus-Buch von 1951

IV.Die Menschenrechte als „theoretische Aporie“

Anmerkungen

Hannah Arendts Totalitarismus-Buch im Kontext der zeitgenössischen Debatte

I.Der Kontext der politikwissenschaftlichen Emigration

II.Von der juristischen zur gesellschaftstheoretischen Konstruktion des Nationalsozialismus – Ernst Fraenkel und Franz L. Neumann

III.Von der historischen Soziologie zur typologischen Politikwissenschaft – Sigmund Neumann und Carl Joachim Friedrich

IV.„Die Überflüssigkeit des Menschen“ – Hannah Arendts philosophische Deutung des Totalitarismus

Anmerkungen

Wollte Hannah Arendt wirklich ein Marx-Buch schreiben? Vom Totalitarismus-Buch zu „Vita activa“

Anmerkungen

Drucknachweise

Anleitung zu einem heterodoxen Klassiker

Es ist in der akademischen Sprache heute üblich geworden, ein großes Buch oder ein anderes herausragendes Geistesprodukt aus der näher liegenden Ideengeschichte als „modernen Klassiker“ zu bezeichnen. Dabei wird nicht immer bedacht, dass dieses kaum zu übertreffende Kompliment eigentlich einen ziemlich heftigen Widerspruch einschließt. Auch wenn das Empfinden dafür in immer weitere Ferne zu rücken scheint – nach wie vor gibt es die kanonbildende Tradition, dass „klassisch“ das seit der Antike Geltende, vor allem dessen ästhetisch vollkommene Darstellung ist, während der Ausdruck „modern“ irgendwie das Gegenstück dazu bezeichnet und dieses damit auch abwertet. Noch immer klingt herüber, was einmal die „Querelle des Anciens et des Modernes“ genannt wurde und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in der europäischen Geistesgeschichte beinahe omnipräsent war. Kann man mit dieser ausladenden Gedankenfigur einen Zugang auch zu Hannah Arendt finden?

In der vorliegenden Sammlung von drei Essays wird Hannah Arendt nicht ein weiteres Mal als die große politische Denkerin gefeiert, als die sie vor allem durch „Vita activa“, das „philosophischste“ ihrer Bücher, bekannt geworden ist. Das Ziel des Bändchens ist sowohl bescheidener als auch subjektiver: Der Verfasser möchte an Hannah Arendts erstes Buch von 1951 heranführen und greift dafür auf zwei ältere Aufsätze und einen jüngeren Essay zurück; und er möchte durch ihre leicht modifizierte Neupublikation Rechenschaft darüber geben, warum es für seine Generation, bei aller Faszination durch Hannah Arendts späteren Denkweg, eine Art von Zwang gegeben hat, immer wieder zu dessen Ausgangslage zurückzukehren. Was sagt das über die intellektuellen Fixierungen der Nachgeborenen, zumal derer, die im Umkreis von „1968“ politisch aufgewachsen sind? Für Hannah Arendt selber war das Totalitarismus-Buch von offensichtlicher Bedeutung, es machte sie, wie es oft heißt, „über Nacht berühmt“. Und was die „geistige Situation der Zeit“ betrifft, so lässt sich der bekannte Titel von Karl Jaspers aus den Krisenjahren der Weimarer Republik ohne Umschweife auf die spätere Prominenz seiner ehemaligen Doktorandin ummünzen: ihr publizistischer Erstling steht am Eingangstor der Epoche „nach Hitler“.

Wenn man also „The Origins of Totalitarianism“ als „modernen Klassiker“ des politischen Denkens bezeichnen möchte – was kann damit gemeint sein? Offensichtlich war es weder das Bekannte oder zeitlos Gültige noch die abgerundete Form der Darstellung, was das Totalitarismus-Buch so sensationell gemacht hat, vielmehr muss man eher vom Gegenteil ausgehen: Dieses Buch hatte nicht nur eine lange Inkubationszeit durchlaufen, bis es 1951 ans Licht der Öffentlichkeit trat, sondern es ließ die Spuren seiner wechselvollen Entstehung noch an seiner Endgestalt deutlich hervortreten, was seiner inneren Geschlossenheit, wie manche Kritiker meinten, eher abträglich war. Dieser Einwand wird im Folgenden aufgenommen und ins Positive gewendet:

Ist Hannah Arendts Totalitarismus-Buch etwa deswegen ein „moderner Klassiker“ des politischen Denkens geworden, weil sich in ihm intellektuelle und politische Ungleichzeitigkeiten der stärksten Art versammelt haben? Als Jüdin verfolgt und zur Flucht gezwungen, begibt sich eine junge Philosophin auf eine intellektuelle Reise, die sie in ganz unphilosophische Gegenden führt. Den widrigen Umständen zum Trotz geht daraus ein so eigenwilliges wie freistehendes Gedankengebäude hervor, das eines entschieden auszeichnet: es stemmt sich gegen die zeitgeschichtliche Katastrophendynamik. Das Ergebnis der weitläufigen Studien ist ein historisch-philosophischer Zwitter, ein Mammutwerk, das eine Unmenge an historischen Details transportiert, aber auch dezidierte politische Urteile fällt und dafür eine ganz eigene philosophische Sprache erfindet. Dieses Buch schlägt wie ein rätselhafter Meteorit in das Amerika der frühen 1950er Jahre ein, weil es Vergangenheit und Gegenwart auf eine Weise miteinander vermittelt, die so schockierend wie vieldeutig ist.

Das bedeutet nicht, dass das Totalitarismus-Buch ein Werk ohne Zentrum ist, vielmehr gibt es ein durchgehendes Leitmotiv, das das gesamte Werk durchdringt und auch dort präsent bleibt, wo sich die Erzählung, wie in den ersten beiden Hauptteilen des voluminösen Buches, in scheinbar weit entfernte historische Regionen begibt. Grundlegend ist und bleibt die Erfahrung von Fremdsein und Exil, die aber nicht statisch erlebt, sondern zur existentiellen Zeitgenossenschaft umgewandelt wird und aus diesem Schwung heraus großflächige Rückprojektionen erlaubt: Antisemitismus und Imperialismus, die Ideologien des 19. Jahrhunderts erscheinen als die Vorgeschichte eines destruktiven Gesamtprozesses, der in die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts einmündet und im Hitler-Faschismus zur Vollendung gelangt. Aber ist dieser Dreierschritt im einzelnen nachvollziehbar, steht diese wuchtige „grand narrative“ wirklich auf solidem Grund, sei es ein historischer, philosophischer oder eine Vermischung von beidem?

Am deutlichsten fassbar ist das fragliche Kontinuum der Erzählung am Komplex des Antisemitismus. Was als persönliches Erlebnis beginnt und mit Verfolgung und Vertreibung eine traumatische Vertiefung erfährt, wird zunächst in die Entstehungszeit des bürgerlichen Nationalstaates zurückprojiziert, erfährt im Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts sicherlich eine andere, mehr nach außen gewendete Dynamik, doch setzt sich der eigentliche Kern dieser europäischen Gewaltgeschichte, die Ideologie des Rassismus ungebrochen ins 20. Jahrhundert hinein fort: Die faschistischen Bewegungen halten sich zwar zunächst an nationalstaatliche Pfade, doch setzt sich mit Hitlers Machtergreifung im Zentrum Europas eine totalitäre Gewaltpolitik durch, die schließlich den ganzen Kontinent mit Aggression und Krieg überzieht. Mit der schonungslosen Schilderung der totalitären Lagerwelt, die dem organisierten Genozid zuarbeitet, erreicht das Totalitarismus-Buch seine größte Eindeutigkeit, ausformuliert in einer philosophischen Sprache, die den deutschen Existenzialismus sowohl beerbt wie umdeutet.

Doch selbst wenn man solche Überlegungen zu konstruiert, jedenfalls nicht überzeugend findet – offensichtlich strebte Hannah Arendt im Totalitarismus-Buch keine geschlossene Erzählung an, sondern orientierte sich am Bauplan einer offenen Form. Welcher, wäre zu fragen! Damals wie heute steht der Leser vor einem ebenso weitläufigen wie komplexen Gedankengebäude, das man durch viele Türen betreten kann und aus dessen Fenstern ebenso viele Ausblicke möglich sind. Der erste der drei Essays, zugleich der längste, leitet daraus die Freiheit ab, Hannah Arendts erste Exilstation, die in der Literatur bislang wenig Beachtung gefunden hat, als wegweisend für ihre politische Lerngeschichte zu behaupten, die sich dann, über die 1950er Jahre hinaus als so produktiv erwies. Ihr „französisches Jahrzehnt“ dient als Leitfaden, um sich auf dem „weiten Feld“ des Totalitarismus-Buches zu orientieren, und gleichzeitig erscheint der französische Nationalstaat als konstruktives Modell, das – im Guten wie im Schlechten – durch die europäische Geschichte führt, bis es vor den totalitären Lagern der 1940er Jahre schockiert zum Stehen kommt.

Damit ist sicherlich nur ein Bedingungsfaktor genannt, der die historischen Exkurse des Totalitarismus-Buches so ausschweifend, aber auch unverwechselbar gemacht hat. Um das Bild zu komplettieren, könnte es nützlich sein, sich den dritten Teil des Buches getrennt vorzunehmen, um die hier durchgeführte Totalitarismus-Theorie in Beziehung zu setzen zu „anderen“, mehr oder weniger prominenten Werken aus der Feder von Hitler-Flüchtlingen. Der Vergleich, der im zweiten Aufsatz des vorliegenden Buches angestrebt wird, ist nicht primär auf eine Bewertung angelegt, vielmehr soll Hannah Arendts „philosophischer“ Zugriff durch den idealtypischen Kontrast herausgestellt werden. Dafür eignet sich eben der Totalitarismus-Komplex am besten, weil er durch die politische Feindkonstellation, d.h. die prinzipielle Gegnerschaft gegenüber Nazi-Deutschland eine Gemeinsamkeit markiert, während jeder der Mitemigranten eigene theoretische und methodische Prägungen aus der Zeit vor Hitler mitbrachte, die jeweils zu alternativen Interpretationen führen konnten. Das Tableau, das sich daraus ergibt, ist pluralistisch und lässt das Totalitarismus-Buch in einem politiksemantischen Spannungsfeld erscheinen, dessen Dynamik sich in den 1940er Jahren steigerte und das man – natürlich verkürzt – durch den Übergang vom Faschismuszum Totalitarismusdiskurs kennzeichnen kann. Hier befindet sich die Stelle, an der Hannah Arendt in die Wissenschaftsgeschichte der Nachkriegszeit eintrat.

Der dritte Text des vorliegenden Buches ist als Rezensionsessay zum ersten Band der lange erwarteten Gesammelten Schriften entstanden. Er beschäftigt sich mit der turbulenten Phase im Schaffen von Hannah Arendt, die auf das Totalitarismus-Buch folgte, und verweist indirekt auf das vielleicht größte Desiderat der Arendt-Literatur, nämlich Auskunft darüber zu geben, wie dieses Buch in der Werkstatt der Autorin im Einzelnen „gemacht“ wurde. Wir wissen seit langem, dass viele Passagen der 1951 gedruckten Endfassung vorher als größere oder kleinere Essays in amerikanischen Zeitschriften erschienen waren – aber wie und nach welchen Gesichtspunkten hat die Autorin diese schon einmal publizierten Texte ausgewählt und umgearbeitet, um sie in das endgültige Buchformat einzupassen? Oder: welche Veränderungen hat Hannah Arendt vorgenommen, als sie den englischen Text von 1951 übersetzte und 1955 auf Deutsch herausbrachte? In der kreativen Dialektik von Essay und Buch lag offensichtlich eines der Produktionsgeheimnisse dieser Autorin – was verrät darüber die konkrete Machart des Totalitarismus-Buches? Auf den einschlägigen Band der Gesammelten Schriften darf man also gespannt sein!

Was aber die Werkentwicklung nach 1951 betrifft, so sieht es damit weit besser aus, zumal wenn man die hier aufgestellte Norm auf Hannah Arendts „Vita activa“ aus dem Jahr 1957 bezieht. Tatsächlich dürfte es einfacher sein, dieses Buch als „Klassiker“ zu bezeichnen, vielleicht sogar als „orthodoxen Klassiker“. Zwei Argumente lassen sich dafür stark machen, wenn man sich nicht mit der Aura der „politischen Philosophin“ begnügen will, die sich wirkungsgeschichtlich durchgesetzt hat, obwohl Hannah Arendt selber ihr bekanntlich abgeschworen hatte: Einmal ist „Vita activa“ sowohl dem Argumentationsaufbau wie der philosophischen Diktion nach keine offene, sondern eine geschlossene Form, zum andern war die Rückkehr zum politischen Denken der Antike tatsächlich programmatisch gemeint. Hannah Arendt wollte eine positive Tradition der politischen Philosophie wiederbeleben, deren Herzstück eine emphatische Theorie des politischen Handelns war. Sicherlich war damit der im Totalitarismus-Buch avisierte absolute Nullpunkt, der im Holocaust vollendete „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) nicht einfach beiseite gerückt, doch wurde jetzt der rettende „Tigersprung“ (Walter Benjamin) vorstellbar, der als Beute den Abglanz der Antike mit sich führte.

„Adieu, la France?“ – Frankreich im Frühwerk von Hannah Arendt

„Frankreich, das immer Modell für den Nationalstaat war, wie die Juden Modell der Minderheit“ 1

Wie ihr publizistisches und ihr nachgelassenes Werk selber, ist auch die Literatur über Leben und Wirken von Hannah Arendt längst unüberschaubar geworden. Versucht man sich darin zu orientieren, so erweist sich zumindest ein roter Faden als durchgehend präsent, nämlich die Erfahrung von Vertreibung und Flucht, die nicht nur Hannah Arendts persönliche Geschichte weit über die Lebensmitte hinaus geprägt, sondern auch die Entwicklung ihres Werks maßgeblich beeinflusst hat. Umso bemerkenswerter ist, dass die erste große Station auf dieser erzwungenen Wanderung, nämlich Hannah Arendts beinahe achtjähriger Aufenthalt in Frankreich zwar bekannt, aber in seiner Bedeutung kaum gewürdigt worden ist. Dabei ist offensichtlich, dass Frankreich und seine Geschichte in ihrem politiktheoretischen Erstling über den Totalitarismus häufig auftauchen, während ihr späteres Schlüsselwerk über die Revolution geradezu von der französischen Geschichte lebt, auch wenn es sich um eine scharfe Abgrenzung handelt.

Das Ziel dieses Aufsatzes ist weniger Hannah Arendts persönliche Frankreich-Erfahrung, die auch in der biographischen Literatur nicht dicht dokumentiert ist.2 Tatsächlich reicht die Mehrzahl der publizierten Briefwechsel nicht in die frühen 1930er Jahre zurück und ist damit zumindest für die erste Zeit in Paris wenig informativ. Trotzdem lassen sich die disparaten Facetten soweit zusammensetzen, dass ein Bild davon entsteht, wie Hannah Arendt in Frankreich gelebt und was sie dort erlebt hat, verlässlich jedenfalls insoweit, wie es zum Ausgangspunkt eines intellektuell so singulären wie politisch signifikanten Lernprozesses wurde. Das Exil als existentielle Erfahrung und als Exerzitium der Politisierung – dieser doppelte Topos spielt in der persönlichen Erinnerung Hannah Arendts eine ebenso große Rolle wie er durch die sog. Exilforschung nachträglich als das eigentliche Erbe der Epoche zwischen 1933 und 1945 bestätigt worden ist.

In diesem Sinne soll nach dem Stellenwert gefragt werden, der Frankreich in der Erfahrungsgeschichte einer deutschen Jüdin zukam, die in Philosophie promoviert war und durch das Hitler-Regime aus den vertrauten Verhältnissen geworfen wurde. Dass sie dadurch auf die exzentrische Bahn einer großen Politiktheoretikerin in spe geleitet wurde, ist natürlich eine nachträgliche Konstruktion. Doch dass das Politische oder genauer: die Untrennbarkeit von historischer Erfahrung und politischer Reflexion die zentrale Lektion war, die sie daraus ableitete – dies soll im Folgenden in drei Schritten dokumentiert werden: Ausgangspunkt ist ein Versuch über das Exil in Paris, wie es sich für Hannah Arendt in den 1930er Jahren darstellte (Kap. I). Nach ihrer (zweiten) Flucht in die USA kommt es in den frühen 1940er Jahren zu einer ersten Reminiszenz, jedoch tritt der Frankreich-Komplex angesichts neuer historischer Herausforderungen wieder in den Hintergrund (Kap. II). Auch im Totalitarismus-Buch von 1951 scheint Frankreich zunächst nur subkutan präsent, es erweist sich aber bei genauerem Hinsehen als das Modell, das der europäischen Geschichte Gestalt verleiht (III). Am Ende steht eine Spekulation, die der Historikerin Hannah Arendt eine theoriepolitische Perspektive ansinnt (Kap. IV).

I.Pariser Exil 1933–1941: Spuren einer Politisierung

Soviel wir über ihre Kindheit und Jugend wissen, wuchs Hannah Arendt wohlbehütet in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf, was frühe Brüche und Berührungen mit dem gesellschaftlich weit verbreiteten Antisemitismus nicht ausschloss. Ihr aufgeweckter oder sogar aufmüpfiger Charakter, wie er sich in der unkonventionellen Bildungsgeschichte ausdrückte, war sicherlich nicht nur der Reflex einer Verhaltensmaxime der Mutter: „Man darf sich nicht ducken! Man muss sich wehren!“3, sondern auch Resultat eines linken, sozialdemokratischen Milieus. Prägender für die junge Hannah Arendt dürften jedoch die bildungsbürgerlichen Ambitionen gewesen sein, wie sie sich z.B. in ihrer exzentrischen Studienkombination und besonders in der schwärmerischen Identifikation mit dem jungen Martin Heidegger manifestierten, auch wenn sie Marburg bald wieder verließ und schließlich bei Karl Jaspers in Heidelberg promovierte.4

Diese „heile Welt“ erhielt jedoch rasch grausame Risse: persönlich durch die unglücklich verlaufende Liebesaffäre mit dem „heimlichen König des Denkens“, und sozial im Gefolge der Weimarer Staatskrise. Wie das nach der Doktorarbeit aufgegriffene Buchprojekt über Rahel Varnhagen eher für die Aussichtslosigkeit einer akademischen Karriere stand, so kann man ihren brieflichen Disput mit Karl Jaspers, der die „Größe“ Max Webers auf sein „deutsches Wesen“ zurückgeführt hatte, als einen ersten politischen Orientierungsversuch auffassen.5 Und so war es kein Zufall, dass sie schon vor 1933 Kontakte mit zionistischen Kreisen aufnahm, die sie konsequenterweise in Konflikt mit dem frisch etablierten Hitler-Regime brachten. Hannah Arendt wurde im Juli 1933 verhaftet, kam aber nach einer Woche wieder frei und flüchtete mit der Mutter über die „grüne Grenze“ nach Prag, von dort weiter über Genf nach Paris.

Dass dieser Fluchtweg in die französische Hauptstadt führte, hing mit persönlichen Entscheidungen ebenso zusammen wie mit kulturellen Sympathien, die weniger für die politisch als für die „geistig“ Ambitionierten unter den Verfolgten der ersten Stunde typisch waren: Hatte schon Hannah Arendts Mutter in Paris ein paar Bildungsjahre verbracht, so erschien der assimilierten jüdischen Intelligenz die Metropole an der Seine als der Zufluchtsort, wo man einer ungewissen Zukunft noch die besten Seiten abzugewinnen hoffte. Die Mischung aus privaten Freundeszirkeln und intellektueller Halböffentlichkeit kennzeichnete wohl auch das Milieu, in dem Hannah Arendt sich in Paris bewegte, während politische Ideen und vor allem politische Befürchtungen zwar allpräsent, aber verbindlich nur so weit waren, als es die restriktiven Verhältnisse in einem Land erlaubten, das den Flüchtlingen – zumindest anfangs und solange ihre Zahl überschaubar war – noch gut gesonnen war. „Politisch“ war dieses Emigrantenmilieu vor allem in einem negativen Sinn: durch die Fixierung auf den einen und gemeinsamen „Feind“, d.h. auf Hitler und seine Bewegung und durch das Gefühl sich steigernder Ohnmacht, das hinter aller Exilpolitik lauerte, weil ihre Aktionen nur Deklarationen waren.

Der Freundeskreis, in dem sich Hannah Arendt im Paris der 1930er Jahre bewegte, ist bekannt. Er bestand im Kern aus geflüchteten jüdischen Intellektuellen, wobei sich den älteren Bekanntschaften aus Berlin neue hinzugesellt hatten. In den spärlichen Briefen immer wieder genannt werden für die ersten Jahre neben engeren Verwandten und ihrem Ehemann Günther Stern alias Günther Anders: der Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit, der Psychoanalytiker Fritz Fraenkel, der Schriftsteller Chanan Klenbort und Walter Benjamin. Signifikant für diesen engeren Kreis dürfte auch gewesen sein, dass er großenteils aus jüngeren Leuten ohne Zutritt zur Schriftstellerprominenz und zur „großen“ Exilpolitik bestand, wie sie durch Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht oder Leopold Schwarzschild, d.h. durch einen repräsentativen Teil der linksbürgerlichen bzw. kommunistischen Intellektuellen der Weimarer Republik inszeniert wurde.6

Falsch wäre allerdings, daraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass Hannah Arendt sich in einem politisch-intellektuellen Niemandsland bewegte. Das Gegenteil ist anzunehmen und kann exemplarisch an zwei Männern demonstriert werden, die in der zweiten Hälfte der Pariser Jahre für sie in den Vordergrund traten: an Heinrich Blücher einerseits, später vor allem dadurch bekannt, dass er ihr zweiter Ehemann wurde, und an Walter Benjamin andererseits, posthum vielleicht die berühmteste Ikone des Pariser Exils überhaupt. Dass sich diese beiden Männer, der kommunistische Autodidakt und der führende Essayist der Zwischenkriegszeit miteinander befreunden konnten, war sicherlich nicht nur dem Kommunikationstalent einer flotten und blitzgescheiten jungen Frau geschuldet, sondern sagt etwas über die Lebensbedingungen in Frankreich, die in gewisser Weise für das Exil zu verallgemeinern sind.

Weil der politische Raum mehr aus einem schwer greifbaren Fluidum als aus konkreten Organisations- und Handlungsmöglichkeiten bestand, gingen Privatheit und Öffentlichkeit unvermittelt ineinander über, waren isolierte, aber leidenschaftliche politische Überzeugungen ebenso wichtig wie die „offiziellen“ Verlautbarungen und Demonstrationen, wie sie z.B. Mitte der 30er Jahre in den spektakulären Kulturkongressen inszeniert wurden. So lautstark und europaweit hörbar der literarische Feldzug gegen Hitler auch war und so einig sich in der Epoche der Volksfront die kommunistischen Protagonisten und die linksbürgerlichen Intellektuellen auch zu fühlen schienen – tatsächlich hatten sie vor allem eines gemeinsam: Die Politik der Emigranten war und blieb reine Ideenpolitik. Dieser Makel lag wie ein Fluch über allen drei Fraktionen, die sich im Zirkel um Hannah Arendt überlagern mochten: dem politischen, dem literarischen und dem jüdischen Exil.7

Man kann den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Heinrich Blücher als Beleg dafür nehmen, um diesen Vermutungen Substanz zu verleihen. Er setzt zwar erst im Sommer 1936 ein, hat aber den zusätzlichen Vorteil, am ganz Privaten, dem Beginn einer stürmischen Liebesbeziehung zu studieren, wie weit politische Aspirationen trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Vergeblichkeit ins Denken und Handeln der Pariser Emigrantenszene hineinreichten. Während der Ältere von beiden auf eine kommunistische Vergangenheit zurückblicken konnte – Blücher hatte zum Kreis um Heinrich Brandler gehört, war mit diesem von der KPD ausgeschlossen worden und mauserte sich angesichts der Moskauer Prozesse gerade zum „Exkommunisten“ –, versuchte sich Hannah Arendt in der „jüdischen Politik“ zu orientieren. So mischt sich das romantische Spiel der neuen Leidenschaft mit dem Ernst der politischen Standortsuche, und, ob kokett gemeint oder nicht, der ehemalige „Berufsrevolutionär“ wird von ihr als Lehrer in Sachen Politik erkoren: „Stups der Kluge, Stups der Weise – quant à moi, je n’en comprends rien du tout, de la politique actuelle“8.

Nicht weniger rührend liest es sich, wenn Heinrich Blücher die von Hannah Arendt gespielte Unterwerfungsgeste mit liebevoller Ironie erwidert, seinem „jüdischen Mädchen“ ein strenge politische Lektion erteilt und sich dabei in das theatralische Gewand eines „Wunder-Rabbis“ kleidet, der die „richtige Politik“ für die Juden kennt: Nicht im Ausweichen nach Palästina liege die Antwort auf den ansteigenden Antisemitismus, vielmehr müssten sich die Juden auf internationaler Ebene mit der Arbeiterklasse zum „nationalrevolutionären“ Befreiungskampf zusammenschließen: „Der Beruf aber ist, der den Juden seit ihren heroischen Zeiten immer gefehlt hat, der des Soldaten. Jetzt aber wird er ihr notwendiger Beruf, ihre Berufung zum Kämpfer. Wenn den jüdischen Kämpfern in solchem Kampfe, wo sie für uns in die Bresche springen werden, erst ein paar Mal begeistert von Arbeitern, Bauern und Kulis zugerufen worden ist: ‚Die Juden an die Front‘!, dann sind die Juden ein Volk geworden.“9

Dass dieser Schlagabtausch nicht nur witzig gemeint war, kann man auch aus den Orten ersehen, zwischen denen er geführt wird: Hannah Arendt war im Auftrag einer zionistischen Auswandererorganisation, deren französische Sektion sie seit 1935 leitete, zur Gründung des jüdischen Weltkongresses nach Genf gereist. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Hannah Arendts politische Neigungen in Paris eher praktischer als theoretischer Natur waren. Sie gingen konform mit einer der schwierigsten Aufgaben, mit denen Flüchtlinge zu allen Zeiten konfrontiert sind und bei deren Lösung Hannah Arendt offenbar geschickter war als viele andere: mit der Beschaffung des Lebensunterhaltes. Es waren jedoch ausschließlich jüdische Organisationen, bei denen Hannah Arendt in den 1930er Jahren eine mehr oder weniger zuverlässige Anstellung erhielt: zunächst als Sekretärin bei „Agriculture et Artisan“, die Palästina-Auswanderern eine Berufsvorbereitung anbot, dann arbeitete sie bei der Jugendhilfsgruppe „Aliyah“, mit der sie 1935 auch eine Reise nach Palästina unternahm, später koordinierte sie im Auftrag einer Baronesse von Rothschild die Verteilung von Spendengeldern an jüdische Wohlfahrtseinrichtungen.

Die Beziehung zu Walter Benjamin ermöglicht es, noch einen anderen Aspekt an Hannah Arendts Verhältnis zu Frankreich hervorzuheben: Zunächst dürfte sich der Kontakt darüber hergestellt haben, dass Benjamin ein entfernter Verwandter von Günther Stern und also schon aus Berlin bekannt war. Daraus entwickelte sich in Paris eine Freundschaft besonderer Art: Zum regen intellektuellen Austausch gesellten sich persönliche Fürsorge und private Unterstützung, je länger sich das Exil hinzog. Benjamin war bekanntlich nicht im landläufigen Sinne „lebenstüchtig“, wie besonders sein Zögern belegt, Europa endlich den Rücken zu kehren. In dieser Situation boten sich Arendt und Blücher als besorgte Helfer in den notorischen Emigrantennöten an, nicht zuletzt weil sie zeitweilig in Benjamins unmittelbarer Nachbarschaft im 15. Arrondissement wohnten. Seine Wohnung in der rue Dombasle 10 dürfte der Ort gewesen sein, an dem sie in kleinerem Kreis ihre philosophischen und politischen Dispute geführt haben, wenn sie sich nicht in einem der Boulevard-Cafes trafen, die damals schon der locus classicus des Intellektuellenlebens waren.10

Damit ist der vielleicht interessanteste Punkt angedeutet, wenn es um Hannah Arendts Frankreich-Erfahrung geht: Benjamins Beziehung zu Paris war bekanntlich bereits in den 1920er Jahren intim und existentiell gewesen, mit dem Übergang ins Exil verstetigte sich diese Konstellation nicht nur, vielmehr wurden Paris und seine städtische Kultur gleichzeitig zum Medium und zum Gegenstand seines Schaffens.11 Das Ergebnis dieser intimen Engführung von Leben und Werk hat sich in seinem „Passagenwerk“ niedergeschlagen, das nicht zufällig so fragmentarisch geblieben ist wie Benjamins tragische Lebenskurve in Frankreich insgesamt. Das wiederum dürfte nicht ohne Einfluss auf Hannah Arendts Weltsicht geblieben sein, zumal wenn man bedenkt, dass sie es war, die dem besten Freund Benjamins als erste die schockierende Nachricht von seinem Selbstmord überbrachte: „Walter Benjamin hat sich das Leben genommen, am 26.9., an der spanischen Grenze, in Port B.“, schreibt sie am 21. Oktober 1940 an Gershom Scholem nach Jerusalem. „Er hatte ein amerikanisches Visum, aber seit dem 23. lassen die Spanier nur Inhaber ‚nationaler‘ Pässe durch… Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde.“12

Bedenkt man diese persönliche Nähe und ihre schicksalhafte Verdichtung in den dramatischen Monaten nach Kriegsbeginn, so liegt der Gedanke nahe, dass Benjamins Selbstmord an der spanischen Grenze für Hannah Arendt zur hautnahen Demonstration all dessen wurde, was die Kapitulation Frankreichs vor Hitler-Deutschland für die jüdischen Flüchtlinge bedeutete. Hinzu kam die feinfühlige Ahnung von der theoriegeschichtlichen Reichweite der berühmten „Geschichtsphilosophischen Thesen“, deren Manuskript Benjamin Arendt in Marseille übergeben hatte. Arendt und Blücher lasen sie sich gegenseitig vor, als sie im Frühjahr 1941 auf das Schiff warteten, das sie in letzter Minute von Lissabon nach New York brachte. Das alles dürfte ihre Phantasie an die letzten Monate in Frankreich gefesselt und sie, gleichsam in Auflehnung dagegen, zu den kühnen Abstraktionen ermuntert haben, die sich im Frankreich-Bild ihrer späteren politiktheoretischen Bücher zeigen.13

Hat also Frankreich, als Land und als Kultur, nur indirekt Einfluss auf die Erfahrungswelt einer Frau genommen hat, deren Weltoffenheit später beinahe sprichwörtlich geworden ist? Auffällig sind z.B. die wenigen Kontakte zu französischen Kreisen: Nur Raymond Aron erwähnt Hannah Arendt kurz in seinen Memoiren, er hat ihr wohl Zugang zu den Hegel-Seminaren von Alexandre Kojève verschafft, die aber ihrerseits keinerlei Resonanz in den Texten aus den 1930er und 1940er Jahren finden.14 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sieht, wie wenig sie in Paris fortsetzte, was am Ende der Weimarer Republik immerhin begonnen hatte: die publizistische Tätigkeit. Tatsächlich hat Hannah Arendt in den acht Pariser Jahren außer drei kleinen Gelegenheitsartikeln nichts auf Französisch publiziert.15 Und wenn man sich in den teilweise umfänglichen Manuskripten umsieht, die aus der Pariser Zeit aufgetaucht sind, so findet sich zwar bestätigt, was nicht anders zu erwarten war, nämlich dass Hannah Arendt sehr wohl und verstärkt wieder gegen Ende der 1930er Jahre „weitergeschrieben“ hat, doch noch mehr fällt auf, dass Frankreich in ihnen eine Leerstelle markiert.

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