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6. Zivilrechtliche Rechtsfolgen

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Auf die von Art. 4 Vertikal-GVO (Alles-oder-Nichts-Prinzip) abweichende Rechtsfolgenanordnung wurde bereits hingewiesen: Art. 5 Vertikal-GVO schließt lediglich überschießende Wettbewerbsverbote von der Freistellung aus. Kommt auch eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht in Betracht, ist ein Wettbewerbsverbot nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. Die Wirksamkeit des übrigen, vom Freistellungsausschluss nicht berührten Teils einer Vereinbarung ergibt sich aus dem anwendbaren nationalen Privatrecht.[363] In Deutschland gilt also § 139 BGB, wonach – sofern der Vertrag keine salvatorische Klausel enthält – eine gesetzliche Vermutung für die Gesamtnichtigkeit des Vertrages streitet. Ist eine Vereinbarung formularmäßig gestaltet (was bei Vertriebsverträgen regelmäßig der Fall sein dürfte), gilt ferner § 306 Abs. 1 BGB, wonach der Vertrag im Übrigen wirksam bleibt.

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Für die Praxis ergeben sich die beiden folgenden Fragen. Zunächst ist fraglich, ob mit Art. 5 Vertikal-GVO nicht zu vereinbarende Wettbewerbsverbote im Wege der geltungserhaltenden Reduktion in ein auf 5 Jahre beschränktes, zulässiges Wettbewerbsverbot umgedeutet werden können. Für Formularverträge (AGB) ist eine solche geltungserhaltende Reduktion nach ständiger Rechtsprechung des BGH nicht zulässig.[364] Auch bei Individualverträgen wird man im Lichte der ratio legis von Art. 5 Vertikal-GVO zur Unzulässigkeit gelangen müssen:[365] Andernfalls wäre die Effektivität der Regelung erheblich eingeschränkt, weil Vertragsparteien unbefristete Wettbewerbsverbote abschließen könnten und sich nur im Streitfall auf das noch zulässige Maße zurückziehen müssten.[366]

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Weiterhin stellt sich die Frage, ob es strategisch sinnvoll ist, eine salvatorische Klausel in einen Individualvertrag aufzunehmen. Eine solche hat die Umkehr der Beweislast zur Folge. Ist eine salvatorische Klausel vereinbart, trifft die Darlegungs- und Beweislast denjenigen, der den Vertrag entgegen der Erhaltungsklausel als Ganzes für unwirksam hält.[367] Vor diesem Hintergrund sollten sich die Parteien im Rahmen der Vertragsgestaltung insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, ob eine salvatorische Klausel im eigenen Interesse liegt.[368]

Beispiel:



7. Wettbewerbsverbote und Ausschließlichkeitsbindungen im Überblick

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IV. Besondere Vertriebsformen
1. Selektiver Vertrieb

a) Überblick

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Selektive Vertriebssysteme sind dadurch gekennzeichnet, dass Hersteller nur solche Händler zum Vertrieb ihrer Ware zulassen, die bestimmte, im Vorfeld definierte Kriterien erfüllen. Herstellerseitiges Ziel des Selektivvertriebs ist vor allem, einen qualitativ hochwertigen Vertrieb z.B. mit Blick auf die Warenpräsentation, Beratung und sonstige Serviceleistungen zu gewährleisten und ihr Markenimage zu schützen. Weil selektive Vertriebssysteme Händler, die die Kriterien nicht erfüllen, vom Warenzugang abschneiden und zudem auch Pflichten für zugelassene Händler begründen, können sie den Wettbewerb beschränken. Bei der kartellrechtlichen Beurteilung selektiver Vertriebssysteme stellt sich zunächst die Frage, ob und wann ein selektives Vertriebssystem die Tatbestandsvoraussetzungen des Kartellverbots erfüllt (s. hierzu unter b). Ist dies der Fall, folgt die Frage nach der Freistellung (c), entweder gem. Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO (aa) oder nach Art. 101 Abs. 3 AEUV (bb).

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Nach der Legaldefinition gem. Art. 1 Abs. 1 lit. e Vertikal GVO sind „Selektive Vertriebssysteme“ „Vertriebssysteme, in denen sich der Anbieter verpflichtet, die Vertragswaren oder -dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind“. Die Legaldefinition erfasst nur sog. „geschlossene Vertriebssysteme“, in denen die Vertragsware nicht an nicht zugelassene Händler abgegeben werden darf. Daneben werden zwar auch andere Formen des Selektivvertriebs praktiziert, für die die Vertikal-GVO grundsätzlich ebenso gilt. Die besonderen Regelungen der Vertikal-GVO für selektive Vertriebssysteme hingegen finden lediglich auf geschlossene Systeme i.S.d. Legaldefinition Anwendung.[371]

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Bei der Feststellung, ob ein selektives Vertriebssystem i.S.v. Art. 1 Abs. 1 lit. e Vertikal-GVO vorliegt, sind insbesondere zwei Gesichtspunkte von Bedeutung: Zunächst liegt ein selektives Vertriebssystem i.S.d. Vertikal-GVO nur dann vor, wenn Anbieter (Hersteller/Lieferant) und Abnehmer (Händler) wechselseitige Verpflichtungen eingehen. Im Selektivvertrieb sind nicht nur Händler, sondern auch Anbieter verpflichtet, die Vertragsware nur an Mitglieder des selektiven Vertriebssystems zu verkaufen.[372] Systeme, in denen nur den Händlern Vertriebsbindungen auferlegt werden, erfüllen nicht die Anforderungen der Legaldefinition.[373] Bei der vertraglichen Gestaltung von selektiven Vertriebssystemen sollte daher ein geschlossener Ansatz gewählt werden, wenn nicht auszuschließen ist, dass es der Freistellung vom Kartellverbot bedarf.[374]

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Weiterhin ergibt sich aus dem Passus „innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets“, dass es dem Anbieter grundsätzlich freisteht, seine Waren (nur) teilweise im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems, teilweise aber auch im herkömmlichen Vertrieb zu vermarkten.[375] In der Praxis findet sich die parallele Verwendung selektiven und sonstiger Vertriebssysteme etwa beim Vertrieb von Markenbekleidung: Während Hersteller die aktuelle Kollektion regelmäßig ausschließlich über zugelassene Händler im Wege des (qualitativen) selektiven Vertriebs verkaufen, werden Standardprodukte und (Rest-)Ware aus vorherigen Kollektionen über Outlets und Kaufhäuser regulär vertrieben.[376]

b) Anwendbarkeit von Art. 101 Abs. 1 AEUV

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Die Tatbestandsmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme nach Art. 101 Abs. 1 AEUV hängt davon ab, ob diese als rein qualitativer Selektivvertrieb ausgestaltet sind oder auch quantitative Selektionskriterien enthalten. Nach der ständigen Entscheidungspraxis der Unionsgerichte[377] sowie der Europäischen Kommission[378] fallen rein qualitative Selektivvertriebssysteme, sowie auch qualitativ selektive Reparatur- und Kundendienstsysteme, mangels wettbewerbswidriger Auswirkungen unter drei Voraussetzungen (sog. „Metro-Kriterien“)schon nicht unter das Verbot des Art. 101 Absatz 1 AEUV.[379] Damit ein selektives System zulässig ist, muss sowohl das Vertriebssystem in seiner Gesamtheit als auch jede einzelne Klausel diesen Anforderungen gerecht werden (sog. „Doppelkontrolle“).[380]

aa) Qualitativer Selektivvertrieb („Metro“-Kriterien)

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Nach den „Metro-Kriterien“ ist ein selektives Vertriebssystem unter folgenden Voraussetzungen nicht tatbestandsmäßig:


Die Produkteigenschaften müssen einen selektiven Vertrieb bedingen, d.h. der Selektivvertrieb muss zur Wahrung der Qualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der Produkte erforderlich sein.
Die Selektionskriterien dürfen schließlich nicht über das zur Qualitätssicherung und Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der jeweiligen Produkte erforderliche Maß hinausgehen.

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Beispiele: qualitative Selektionskriterien



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Die Selektionskriterien müssen zur Wahrung der Qualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der Produkte erforderlich sein.[384] Entscheidend dürfte insoweit sein, dass plausibel dargelegt werden kann, dass die Produkte aufgrund ihrer Charakteristika händlerseitige Zusatzleistungen erfordern, die die Kundenbedürfnisse sinnvoll adressieren.[385]

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Zunächst ist ein sich aus der Natur des Produkts ergebendes Bedürfnis für eine qualitative Selektion bisher insbesondere für langlebige, hochwertige und technisch anspruchsvolle Erzeugnisse anerkannt worden: Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass derartige Produkte ein qualitatives selektives Vertriebssystem rechtfertigen können, weil die qualitative Beratung des Kunden einen Mehrwert begründet, der bei „Allerweltsprodukten“, die ohne vertiefte Auseinandersetzung erworben werden, nicht gegeben ist.[386]

Beispiele: Produkte, die Selektivvertrieb erfordern



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Ob jenseits der Kategorie „langlebiger, hochwertiger und technisch anspruchsvoller Produkte“ auch die herstellerseitig intendierte Erzeugung sowie Aufrechterhaltung eines Produkt- oder Luxusimage die Einrichtung eines selektiven Vertriebssystems rechtfertigen kann, wird bisher uneinheitlich beantwortet. Dagegen spricht, dass die Qualität eines Produktes nicht auf materiellen Eigenschaften, sondern dem Prestigecharakter beruht. Während sich der EuGH insoweit zunächst nur zurückhaltend äußerte, hat er in dem „Coty“-Urteil nunmehr ausdrücklich anerkannt, dass Produkte der Luxuskategorie – auch wenn kein produktinhärenter Beratungsbedarf besteht – die Einrichtung eines selektiven Vertriebssystems rechtfertigen können.[391] So sei die „luxuriöse Ausstrahlung“ eines Produkts aus Sicht der Verbraucher ein maßgebliches Unterscheidungsmerkmal und deren Schädigung geeignet, die Qualität der Ware selbst zu beeinträchtigen.[392] Überdies nimmt der EuGH Bezug auf seine bisherige Rechtsprechung zunächst zum Markenrecht, wonach bereits eine bestimmte Form der Darbietung von Waren zu ihrem Ansehen und somit zur Wahrung ihrer luxuriösen Ausstrahlung beitragen könne.[393] Wichtiger ist allerdings die Klarstellung, dass diese Schlussfolgerung nicht durch die (kartellrechtliche) Entscheidung in der Rechtssache Pierre Fabre[394] entkräftet werde.[395] Damit hat der EuGH der gegenteiligen Interpretation[396] eine endgültige Absage erteilt, sodass mittlerweile unzweifelhaft ist, dass nach der Rechtsprechung des EuGH auch das Image eines Produkts den Selektivvertrieb erfordern kann.[397]

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Höchstrichterlich ungeklärt ist allerdings noch die Frage, ob bereits hochwertige Markenprodukte – im Gegensatz zu „Luxusprodukten“ – einen selektiven Vertrieb rechtfertigen können. In diese Richtung tendieren die Europäische Kommission in einer jüngst veröffentlichen Stellungnahme, das OLG Hamburg sowie das OLG Karlsruhe.[398]

Rechtsprechungsüberblick – Selektivvertrieb bei Markenprodukten:


Die Europäische Kommission sowie das OLG Hamburg haben mit guten Gründen dargelegt, dass eine Differenzierung zwischen Produkten der Luxusklasse und hochwertigen Markenprodukten mit erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten verbunden und nicht sinnvoll durchführbar sei. Überdies bestehe auch bei hochwertigen Markenprodukten ein rechtlich anerkennenswertes Interesse des Herstellers, den Charakter des Produkts durch seine Marktpositionierung und besondere Vertriebsleistungen zu unterstreichen.

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Die Selektionskriterien dürfen nicht über das zur Qualitätssicherung und Gewährleistung des richtigen Gebrauchs erforderliche Maß hinausgehen.[405] Sie müssen also in einem angemessenen Verhältnis zum jeweiligen Produkt stehen, um vom Kartellverbotstatbestand ausgenommen sein zu können.

Werden die Selektionskriterien schließlich im laufenden Geschäft nicht konsequent diskriminierungsfrei angewendet, etwa indem Händler aufgenommen werden, die bestimmte Kriterien nicht erfüllen, oder umgekehrt Händler nicht aufgenommen werden, obwohl sie allen Voraussetzungen gerecht werden, ist ein selektives Vertriebssystem grds. insgesamt nicht (mehr) vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen und insoweit freistellungsbedürftig.

bb) Quantitativer Selektivvertrieb und sonstige Selektionskriterien

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Selektive Vertriebssysteme, die jedenfalls auch sog. quantitative Selektionskriterien enthalten, sind demgegenüber grundsätzlich vom Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst.[406] In ihren Vertikal-LL[407] nennt die Europäische Kommission Beispiele für quantitative Selektionskriterien:


als indirekte Form des quantitativen Selektivvertriebs erachtet die Europäische Kommission die Verknüpfung qualitativer Kriterien mit der Vorgabe eines jährlichen Mindesteinkaufsvolumens der Händler;
Mindestgröße von Geschäftsräumen, wie z.B. einer Mindestwerkstattkapazität;
Koppelung der Anzahl an Verkaufsstätten/Werkstätten an die Einwohnerzahl oder Kaufkraft in einem Gebiet.

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Auch der (rein) quantitative Selektivvertrieb wird von der Legaldefinition in Art. 1 Abs. 1 lit. e Vertikal-GVO erfasst. Selektive Vertriebssysteme mit jedenfalls auch quantitativen Kriterien sind daher zwar tatbestandsmäßig i.S.d. Kartellverbots, aber nach der Vertikal-GVO freistellungsfähig. Insoweit besteht aber die Gefahr, dass der Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung von der Kommission (nachträglich) entzogen wird.[409] De facto scheint diese „Gefahr“ aber eher theoretischer Natur zu sein: Seit Inkrafttreten der Vertikal-GVO 1999 ist kein entsprechender Fall bekannt geworden.[410]

c) Freistellung vom Kartellverbot

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Ein den „Metro“-Kriterien nicht genügendes selektives Vertriebssystem mit überschießenden oder nicht diskriminierungsfrei gehandhabten qualitativen oder quantitativen Kriterien ist gleichwohl zulässig, wenn es freigestellt ist. Grundsätzlich unterfallen selektive Vertriebssysteme als vertikale Vereinbarungen der Vertikal-GVO und sind daher freigestellt, wenn die Marktanteile der beteiligten Parteien nicht über 30 % liegen (Art. 3 Vertikal-GVO) und die Vereinbarung keine „Kernbeschränkungen“ i.S.v. Art. 4 Vertikal-GVO enthält. In diesen Fall bliebe noch die Möglichkeit einer Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV.

aa) Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO

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Um in den Genuss einer Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO zu kommen, sind bei der Einrichtung und Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme insbesondere die Grenzen nach Art. 4 Vertikal-GVO zu beachten.

Verkaufsbeschränkungen, Art. 4 lit. c Vertikal-GVO

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Zunächst stellt es nach Art. 4 lit. c Vertikal-GVO eine Kernbeschränkung dar, wenn der (aktive oder passive) Verkauf an Endverbraucher durch Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems beschränkt wird. Diese Regel soll die selektiven Vertriebssystemen inhärente Gefahr des Verlustes von markeninternem Wettbewerb begrenzen.[411] Gegenüber Art. 4 lit. b Ziff. i Vertikal-GVO (wonach Beschränkungen des aktiven Verkaufs in Gebiete oder an Kundengruppen ausnahmsweise zulässig sind) geht Art. 4 lit. c als lex specialis vor.[412]

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Auch der Anbieter im Selektivvertrieb ist, wie die Händler, Mitglied des Systems.[413] Allen Mitgliedern dürfen insoweit, wenn sie auch auf der Einzelhandelsstufe tätig sind, keine Beschränkungen beim Verkauf an Endverbraucher auferlegt werden. Der Begriff „Endverbraucher“ ist dabei weit zu verstehen: Neben Privatverbrauchern sind auch „institutionelle“, also gewerbliche Verbraucher (wie öffentliche Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser oder Unternehmen) sowie Einkaufsmittler erfasst, die auf fremde Rechnung tätig werden.[414] Soweit die Vorschrift eine Tätigkeit auf der Einzelhandelsstufe voraussetzt, sind vertragliche Verbote, überhaupt auf der Einzelhandelsstufe tätig zu sein, keine Kernbeschränkung.[415] Wie sämtliche Kernbeschränkungen (vgl. den Einleitungssatz in Art. 4) ist auch Art. 4 lit. c Vertikal-GVO als umfassendes Verbot ausgestaltet, das sämtliche Beschränkungen des aktiven und passiven Verkaufs an Endkunden – mittelbar wie unmittelbar – untersagt. Beim Verkauf an Einzelhandelskunden sollen die auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems also völlig frei sein.[416]

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Als wichtige Ausnahmeregelung zu diesem Verbot sieht Art. 4 lit. c zweiter HS Vertikal-GVO die sog. Standortklausel vor. Demnach kann den zum selektiven Vertrieb zugelassenen Händlern verboten werden, Geschäfte von nicht zugelassenen Niederlassungen aus zu betreiben.[417] Vertragshändler dürfen die Vertragsprodukte demnach nur von solchen Standorten aus vertreiben, die im Vertriebsvertrag als Geschäftsadresse angegeben sind.[418] Möchte der Händler umziehen oder an einem anderen Ort – in einer anderen Stadt oder in einem anderen Land – eine weitere Filiale eröffnen, so ist dies nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Anbieters möglich.[419] Handelt es sich um eine mobile Verkaufsstätte („Laden auf Rädern“), so kann ein Gebiet festgelegt werden, außerhalb dessen die mobile Verkaufsstätte nicht betrieben werden darf.[420]

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Mit Blick auf Art. 4 lit. c Vertikal-GVO sollten die aus der Einführung eines selektiven Vertriebssystems resultierenden Vorteile stets mit den (strategischen) Nachteilen abgewogen werden, die sich daraus ergeben, dass gewisse Gestaltungsoptionen in der Folge nicht mehr zur Verfügung stehen. So liegt in der Entscheidung für einen selektiven Vertrieb etwa auch eine Entscheidung gegen den Alleinvertrieb[421] in derselben Region: „In einem Gebiet, in dem der Anbieter einen selektiven Vertrieb betreibt, darf dieses System nicht mit Alleinvertrieb kombiniert werden, da dies zu einer Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs durch die Händler nach Art. 4 Buchstabe c Vertikal-GVO führen würde [. . .].“[422] Die mit der Ausnahmeregelung des Art. 4 lit. b Ziff. i Vertikal-GVO vorgesehenen Gebiets- oder Kundenschutzregelungen sind in selektiven Vertriebssystemen also nicht zulässig.[423] Als „Alternative“ zu Alleinvertriebsgebieten in diesem Sinne besteht allerdings die bereits erwähnte Möglichkeit, Standortklauseln i.S.v. Art. 4 lit. c zweiter Halbsatz Vertikal-GVO zu vereinbaren.[424] Das Nebeneinander von selektivem Vertrieb und Alleinvertrieb ist dabei nur in der Region/dem Gebiet, in dem das selektive Vertriebssystem betrieben wird, unzulässig. Für andere Gebiete gilt diese Einschränkung nicht.

Beschränkungen von Querlieferungen, Art. 4 lit. d Vertikal-GVO

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Auch die Beschränkung von Querlieferungen unterliegt besonderen Restriktionen. Querlieferungsverbote im Verhältnis der Händler innerhalb eines selektiven Vertriebssystems sind als Kernbeschränkung zu qualifizieren (Art. 4 lit. d Vertikal-GVO). Zweck der Vorschrift ist es, die Austauschmöglichkeiten zwischen den Händlern offen zu halten, um insbesondere Parallelimporte zu ermöglichen und die Abschottung nationaler Märkte zu verhindern.[425]

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Für die Anwendung von Art. 4 lit. d Vertikal-GVO kommt es nicht darauf an, ob die Händler auf derselben oder auf unterschiedlichen Handelsstufen tätig sind.[426] Der Begriff der „Querlieferungen“ zwischen Händlern ist umfassend zu verstehen.[427] Nicht beschränkbare Querlieferungen sind Lieferungen[428]


zwischen Händlern derselben Handelsstufe;
zwischen Händlern verschiedener Handelsstufen, etwa des Einzelhändlers zurück an den Großhändler (Rücklieferungen) oder umgekehrt;
zwischen Händlern verschiedener Handelsstufen unter Auslassung der dazwischen liegenden Stufe wie Lieferungen des Importeurs an den Einzelhändler unter Umgehung des Großhändlers (Sprunglieferungen).

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Eine Beschränkung der Querlieferungsfreiheit der Vertragshändler liegt auch dann vor, wenn die Querbezugsfreiheit der Händler eingeschränkt wird.[429] Ein selektives Vertriebssystem kann also nicht mit anderen vertikalen Beschränkungen kombiniert werden, „mit denen die Händler gezwungen werden sollen, die Vertragsprodukte ausschließlich aus einer bestimmten Quelle zu beziehen.“[430] Die Kombination eines selektiven Vertriebssystems mit einer Alleinbezugsverpflichtung zulasten des Vertragshändlers (gleich welcher Handelsstufe) stellt demnach eine Kernbeschränkung i.S.d. Art. 4 lit. d Vertikal-GVO dar.[431] Unzulässig ist es damit, wenn zugelassene Händler Ware nur beim Anbieter oder einem durch den Anbieter bestimmten Großhändler beziehen dürfen.[432]