Stanisław Brzozowski

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ibidem Verlag, Stuttgart

Inhalt

Danksagung

Vorwort

Teil 1: Theoretische Schriften

Der Geschichtsmaterialismus als Kulturphilosophie. Ein philosophisches Programm

[Literatur und Revolution]

Die Menschheit und das Volk

[Romantik und Moderne]

Teil 2: Aus dem Roman „Flammen“

Katja [Phänomenologie des sexuellen Missbrauchs]

Spartakus und Simon der Säulenheilige [Literarisches Porträt von Sergei Netschajew]

Orcio [Kondition des modernen Menschen. Rechtfertigung von Gewalt]

Leichen [Diskussion zwischen Wladimir S. Solowjow und Konstantin P. Pobedonoszew]

Appendices

Abbildungsverzeichnis

Editorische Notiz

Danksagung

Die vorliegende Anthologie wäre ohne die Unterstützung des Ibidem-Verlags nicht entstanden. Spezieller Dank gilt Valerie Lange für die redaktionelle Hilfe und die aufgebrachte Geduld. Dem Suhrkamp-Verlag danken wir für die Bereitstellung der Texte Die Menschheit und das Volk und Ende der Legende oder Von der Not der passiven Wehleidigkeit. Eine ideologische Auseinandersetzung (hier: [Romantik und Moderne]), welche für die Vervollständigung dieses Bandes unabdingbar sind. Julia Furmańczyk danken wir herzlich für die Korrektur und das Lektorat des Vorworts.

Aleksandra Konarzewska und Alexander Karl Golec

Vorwort

Aleksandra Konarzewska

„Immer ist etwas da, das dem Menschen den Menschen stiehlt.“

Stanisław Brzozowski – Marxismus als Philosophie der Kultur und Entfremdung

Obgleich er nur das junge Alter von dreiunddreißig Jahren erreichte, ist es ihm gelungen ein Werk zu hinterlassen, das bis heute zu den wichtigsten Kulturphänomenen der Jahrhundertwende in Ost- und Mitteleuropa zählt. Stanisław Leopold Leon Brzozowski (1878–1911) war ein polnischer Kulturphilosoph, revisionistischer Marxist, Literaturkritiker, Dichter und Romancier und zählte zu den ersten, die – wie später Antonio Gramsci und György Lukács – den Marxismus in erster Linie als eine Kulturphilosophie ansahen.

Das Werk Brzozowskis wird oft als ein „revisionistischer“ oder sogar „häretischer“ Marxismus rezipiert.1 Wie viele der zeitgenössischen Denker:innen (u. a. Henri Bergson) entwarf auch Brzozowski eine Philosophie der Handlungspraxis, die eine strikte Trennung von ‚Leben‘, ‚Literatur‘ und ‚Philosophie‘ ablehnte, behielt dabei jedoch eine konsequent materialistische Perspektive bei. Das ‚Leben‘ wird in seinen Werken als ein Gegenstand der philosophischen Reflexion betrachtet, die ‚Ideen‘ sollten unterdessen weniger durchdacht, als vielmehr physisch ‚durchlebt‘ werden. Anders als bei den meisten marxistischen und sozialistischen Denker:innen seiner Zeit standen die Kultur (und nicht die ökonomischen Prozesse) und das Individuum (anstelle des Kollektivs) im Zentrum von Brzozowskis Interesse. Ähnlich wie für spätere marxistische Revisionist:innen aus Ost- und Mitteleuropa (Karel Kosík, Ágnes Heller, die Mitglieder der Warschauer Schule der Ideengeschichte) bedeutete der Marxismus für Brzozowski nicht die Suche nach Lösungen, sondern das Aufwerfen neuer Fragestellungen, die er auf Grundlage seiner Lektüre von Klassikern der sozialistischen Philosophie, beispielsweise Friedrich Engels (die längere Abhandlung Anty-Engels gilt als eine der geistvollsten Schriften Brzozowskis), entwickelte.2 Wogegen er lebenslang plädierte, war die Reduktion des Marxismus auf einen Automatismus, der bei Analysen von Kultur- und Sozialphänomenen einem Satz fester Axiome folgt und zu Unrecht verspricht, Geschichte und Ökonomie begreifen zu können, ohne sie gründlich studieren zu müssen. Brzozowski fasste den dialektischen und historischen Materialismus hingegen differenzierter auf, d.h. ohne einen Verzicht auf Ironie und Paradoxa, die die Praxis (‚das Leben‘) mit sich bringt. Dank einer solchen unorthodoxen Denkart ist in Brzozowskis Werken eine Perspektive zu finden, die den heutigen, an eine intersektionale Verknüpfung von Klassen-, Rassen/Ethnien- und Genderfragen gewöhnten Leser:innen besonders nah sein kann. Sie durchzieht vor allem literarische Werke Brzozowskis, in denen die strukturelle Diskriminierung ganzer ethnischer, nationaler und religiöser Gruppen (Juden, Unierte, Ukrainer) sowie sexuelle Gewalt und Ausbeutung thematisiert werden. Die Darstellung erfolgt ohne eine Romantisierung der Unterdrückten, die die sentimentale Prosa jener Zeit oft auszeichnete, und unter Berücksichtigung der intersektionalen Dynamik sozialer Ungleichheiten, die für das multikulturelle Ost- und Mitteleuropa der Jahrhundertwende charakteristisch war.

Gleichzeitig wurde der Marxismus in Brzozowskis Augen zu einer Philosophie der modernen Entfremdung, deren Spuren in verschiedensten Kulturströmungen zu erkennen sind, inklusive des religiösen Glaubens. Eine besondere Rolle spielte der römische Katholizismus: Brzozowski war von dem katholischen Modernismus und dem Werk John Henry Newmans fasziniert, dessen An Essay in Aid of a Grammar of Assent (1870) er ins Polnische übersetzte. Der Katholizismus verdiente laut Brzozowski eine besondere Aufmerksamkeit in der Kulturanalyse, aufgrund seiner Fähigkeit die wichtigsten Denkströmungen jener Zeit kreativ, aber ohne Integritätsverlust, aufnehmen und weiterentwickeln zu können. Auch die religiöse Spiritualität an sich, so Brzozowski, sei eine Tatsache und gehöre in verschiedensten Formen zur Sphäre menschlicher Erfahrungen; sie zu ignorieren, würde die Vernachlässigung eines wesentlichen Teils der Praxis (‚des Lebens‘) bedeuten. So gesehen steht Brzozowskis Religionsphilosophie dem gegenwärtigen, postsäkularen Marxismus (Slavoj Žižek, Terry Eagleton) sehr nahe; die provokative Feststellung von Žižek, dass das Erbe des Christentums „viel zu kostbar [ist], um es irgendwelchen fundamentalistischen Freaks zu überlassen“,3 könnte auch seine Maxime gewesen sein.

Das Leben von Brzozowski war nicht nur kurz, sondern auch dramatisch. Er wurde in eine verarmte Adelsfamilie in Maziarnia (damals: Russisches Kaiserreich) hineingeboren. Während seines Studiums in Warschau kam er mit polnischen Sozialisten in Kontakt und setzte sich als freier Journalist für fortschrittliche Ideen ein; zudem war er als Autor und Übersetzer tätig (er sprach Russisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch). Aufgrund seiner Erkrankung an Tuberkulose musste er mit seiner Familie nach Südeuropa emigrieren (dort lernte er u. a. Maxim Gorki und Anatoli Lunatscharski kennen). Als Brzozowski im Ausland lebte, wurde er Opfer einer politischen Intrige: 1908 wurde ihm öffentlich seitens der Presse vorgeworfen, ein Agent der ochrana (des Geheimdienstes im zaristischen Russland) zu sein. Obwohl diese Anschuldigung nie vollends bestätigt wurde, ruinierte sie den Ruf des Schriftstellers und beschleunigte seine Krankheitsentwicklung; Brzozowski starb nur drei Jahre später, in großer Armut, in Florenz.

Das Werk dieses unorthodoxen Marxisten fasziniert bis heute Schriftsteller:innen, Denker:innen und Aktivist:innen von allen Seiten des politischen Spektrums.4 Dies illustriert insbesondere die Rezeption seiner Werke in der Zwischenkriegszeit, als sich auf Brzozowski gleichermaßen links- wie rechtsorientierte Autor:innen (u. a. überzeugte Zionist:innen)5 beriefen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Etablierung des sowjetischen Kommunismus in Ost- und Mitteleuropa war Brzozowskis Name verpönt,6 und zwar nicht nur unter überzeugten Stalinisten: Noch im Jahr 1976 schrieb der Ex-Marxist Leszek Kołakowski über problematische „biologisch[e] Metaphern“ in Brzozowskis Werk, „die zwar keinen eindeutigen Inhalt hatten, aber mit der Zeit besonders verdächtig wurden, als radikale nationalistische Bewegungen, die man mit einer gewissen Berechtigung als faschistisch bezeichnen kann, in der Darstellung nationaler Werte gern auf die biologische Phraseologie zurückzugreifen begannen“.7 Erst in den 1960er Jahren, als eine Folge des ‚Tauwetters‘ im Ostblock, wurde Brzozowski in Polen neuentdeckt, insbesondere von Literaturkritiker:innen (eine wesentliche Rolle spielte hierbei das Buch des zukünftigen Nobelpreisträgers Czesław Miłosz).8 Im Jahr 2005 wurde die Stanisław-Brzozowski-Gesellschaft (Stowarzyszenie im. Stanisława Brzozowskiego) gegründet, die die renommierte linksliberale Zeitschrift „Krytyka Polityczna“ herausgibt.

 

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Diese Anthologie präsentiert eine Auswahl von Brzozowskis Prosa, Publizistik und Literaturkritik, die die Originalität seiner Perspektive und die Vielfalt seiner Interessen illustrieren soll. Zeit seines Lebens veröffentlichte Brzozowski neben zahlreichen Presseartikeln mehrere längere Studien zur Literatur, Kultur und Philosophie: Der zeitgenössische polnische Roman (Współczesna powieść polska, 1906), Kultur und Leben. Fragen der Kunst und des Schaffens im Kampf um die Weltanschauung (Kultura i życie. Zagadnienia sztuki i twórczości w walce o światopogląd, 1907), Zeitgenössische Literaturkritik in Polen (Współczesna krytyka literacka w Polsce, 1907), Die Legende des Jungen Polens. Studien zur Struktur der kulturellen Seele (Legenda Młodej Polski. Studia o strukturze duszy kulturalnej, 1909), Ideen. Einführung in die Philosophie der geschichtlichen Reife (Idee. Wstęp do filozofii dojrzałości dziejowej,1910), Stimmen inmitten der Nacht. Studien zur romantischen Krise der europäischen Kultur (Głosy wśród nocy. Studia nad przesileniem romantycznym kultury europejskiej, 1912). Zu seinem literarischen Werk gehören auch diverse unvollendete Prosastücke: Unter Gottes Last (Pod ciężarem Boga, 1901), Wirbel (Wiry, 1904–1905), Allein unter Menschen (Sam wśród ludzi, 1911) und Ein Buch über eine alte Frau (Książka o starej kobiecie, 1911). Der einzige vollendete Roman Flammen (Płomienie, 1908) wurde in mehrere Sprachen übersetzt, inklusive Jiddisch (1925, 1928) und Hebräisch (1939).9 Noch zu Brzozowskis Lebzeiten gab es Versuche Flammen auch auf Deutsch herauszugeben, die ersten Übersetzungsentwürfe wurden jedoch als mangelhaft bewertet (entscheidend war die Meinung des Philosophen und Religionswissenschaftlers Martin Buber, dessen Onkel Rafał Buber zu Brzozowskis engsten Freunden gehörte);10 die deutsche Fassung des Romans erschien schließlich 1920 in Berlin. Ein weiteres Werk Brzozowskis, das dieser jahrelang plante, jedoch nie realisierte, wäre Karl Marx’ Philosophie gewidmet gewesen.

Schon der erste Text in diesem Band, der Programmtext DER GESCHICHTSMATERIALISMUS ALS KULTURPHILOSOPHIE (1907), zeigt, inwiefern Brzozowskis Marxismus unorthodox war und warum sein Werk in der stalinistischen Zeit (bis 1956) als eine reaktionäre Aberration angesehen wurde. Der Aufsatz erschien im gleichen Jahr auf Polnisch und auf Deutsch und wurde von der Lemberger Sozialistin, Lehrerin und Frauenrechtlerin Salomea Perlmutter-Trawiecka (1865–1936) übersetzt, mit der Brzozowski jahrelang korrespondierte und deren Meinung er sehr respektierte. In den Briefen an Perlmutter können oftmals Entwürfe seiner späteren Aufsätze zur Philosophie und Literaturkritik erkannt werden; so wurden auch die Hauptpunkte Des Geschichtsmaterialismus als Kulturphilosophie erstmals in einem Schreiben an sie festgehalten.11

Brzozowskis Text mit dem Untertitel Ein philosophisches Programm wurde tatsächlich als ein Programmartikel verfasst. „[D]er historische Materialismus ist nicht der Stein der Weisen der Alchemisten“, so die Hauptthese, „[er] ist eine Arbeitsmethode und nichts mehr“, „[eine] wissenschaftliche und kritische Betrachtung der ästhetischen, ethischen und pädagogischen Fragen“ (S. 35–38 in diesem Band, Hervorhebung im Original). Der in der sozialistischen Presse der Jahrhundertwende dominierende „trockene und lächerliche Doktrinarismus“ (S. 35) erweist sich laut Brzozowski in der Sphäre der Kulturforschung als unzureichend: Die Analysen der Kulturphänomene werden von Seiten der Publizistik vorgenommen, die die Komplexität des menschlichen Zusammenlebens stets auf die gleichen Fragen reduziert. Brzozowski weist darauf hin, dass ein so verstandener, geradliniger Materialismus zu seiner eigenen Karikatur werde, zu einem neuen, quasi-religiösen Glauben an die Existenz schwer definierbarer, außermenschlicher Kräfte, wie beispielsweise „Gesetzen der Geschichte“ (NB, im Roman Flammen erscheint der Name Marx nur in einem solchen Kontext: „Die werden daraus noch eine Religion machen. Eine neue Art von göttlicher Vorsehung“).12 Dies sei der größte Fehler von Friedrich Engels und denjenigen Denker:innen gewesen, die Kants Darlegungen in der Kritik der reinen Vernunft ignoriert haben sollen und deren Vorstellung von Metaphysik folglich naiv sei. Umso bedauerlicher sei dies, als gerade der Geschichtsmaterialismus Analysemittel anbiete, die es erlaubten, Kulturprozessen und einzelnen Werken ihre wahre Bedeutung anzusehen, d.h. sie in ihren konkreten – gleichzeitig individuellen und in Raum und Zeit spezifisch definierten – Kontexten zu betrachten. Brzozowski geht hier noch einen Schritt weiter, indem er den Geschichtsmaterialismus geradezu als eine Handlungstheorie auffasst, da er Individuen ermögliche an der Kulturwelt („Kunst und Literatur, Wissenschaft, Recht, Moral, Religion und Sozialwirtschaft“, S. 36) bewusst und verantwortlich teilzunehmen. „Der Geschichtsmaterialismus muss das bleiben, was er ist, eine Philosophie der Tat, filosofia della praxis […]. Hier baut sich der stolzeste Gedanken auf, der je existierte: die Menschheit als ihr eigenes, bewusstes Werk“ (S. 41) – schlussfolgert Brzozowski.

Wie eine geschichtsmaterialistische Kulturanalyse in der Praxis aussehen soll, illustriert der Aufsatz Brzozowskis über die polnische Literatur, in diesem Band in LITERATUR UND REVOLUTION umbenannt. Brzozowski differenziert hier zwischen der Generation der Autor:innen, die in Polen „Positivisten“ genannt wurden, und der etwas späteren, modernistischen Bewegung das „Junge Polen“ (Młoda Polska), die vor allem um die Krakauer Zeitschrift „Życie“ (1897–1900) konzentriert war. Die „Positivisten“ waren durch die Erfahrung des misslungenen Januaraufstandes (1863–1864) und seiner politischen Konsequenzen geprägt – u. a. Todesurteile und Verbannungen nach Sibirien, Enteignungen des Vermögens, die Liquidierung von Hochschulen (u. a. „Warschauer Hauptschule“, Szkoła Główna Warszawska), die erzwungene Konversion von Unierten zum orthodoxen Glauben und die Unterdrückung der polnischen Sprache und Kultur im öffentlichen Leben. Daher lehnten sie die aus der Epoche der Romantik stammende Idee eines bewaffneten Aufstandes ab und setzten sich stattdessen für eine Stärkung der Bevölkerung in der wirtschaftlichen und kulturellen Sphäre, durch Bildung, Wohlstand und Fortschritt, ein. In ihrer Publizistik und in ihren engagierten Prosawerken verbreiteten sie progressive Ideen: So thematisierten sie die Gleichberechtigung von Frauen, eine Verbesserung der Lebensbedingungen der unteren sozialen Schichten (z. B. der Bauern), die Bekämpfung des Analphabetismus, den Widerstand gegen den Antisemitismus und die Ablehnung postfeudaler Vorurteile; ohne jedoch einen revolutionären sozialen Wandel anzustreben. Obgleich viele literarische Werke der positivistischen Autor:innen aus heutiger Perspektive didaktisch naiv erscheinen mögen, gelten einige unter ihnen (wie der Roman Die Puppe von Bolesław Prus) als Meisterwerke der polnischen Prosa. Brzozowski hatte eine sehr hohe Meinung von den Positivist:innen, insbesondere den Werken von Bolesław Prus (1847–1912), Aleksander Świętochowski (1849–1938), und Eliza Orzeszkowa (1841–1910): „Etwas Edleres, als der Stoizismus, nämlich der Verzicht auf den eigenen Schmerz, die harte Hingabe an den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft, bildet den hervorragendsten Charakterzug der edelsten Vertreter dieser Generation. […] Die polnischen Sozialisten werden mir wohl beipflichten, wenn ich sage, dass wir diesen Idealisten unseres Bürgertums unermesslich viel zu verdanken haben“ (S. 54).

Andererseits machte Brzozowski deutlich, dass angesichts der neuen gesellschaftlichen Herausforderungen die positivistischen Ansätze nicht mehr ausreichten, da eine sofortige und radikale Emanzipation der Arbeiterklasse nötig sei. Die Autor:innen des „Jungen Polens“ waren wenigstens dazu imstande das Ausmaß des Problems zu begreifen, indem sie die moderne Entfremdungs- und Entzauberungsproblematik thematisierten. Insbesondere das Werk von Stanisław Przybyszewski (1868–1927) wird von Brzozowski vor diesem Hintergrund interpretiert („Der Mensch fühlt sich dem Leben gegenüber machtlos, ist nicht imstande, sich mit ihm zu verknüpfen…“, S. 56). Mit dem einsetzenden Unbehagen im Zuge der Jahrhundertwende und dem Untergang der Adelsschicht (da der polnische Adel [szlachta] sein Machtpotential in der Kulturschöpfung verlor) ließ sich ein Aufstieg des Proletariats beobachten, der Brzozowski zufolge am besten durch den Verlauf der Revolution von 1905 illustriert wurde.

Die Revolution von 1905 bis 1907 umfasste eine Welle politischer und sozialer Unruhen (insbesondere Arbeiterstreiks) im russischen Raum, infolge derer es zu einer gewissen Liberalisierung des politischen Lebens kam (u. a. Einrichtung des Mehrparteiensystems). In den polnischen Gebieten forderten die Demonstrant:innen sowohl die Verbesserung der Arbeitsbedingungen als auch politische Freiheiten. Eines der wichtigsten Zentren der revolutionären Kämpfe war die Industriestadt Lodz (Łódź), in der im Juni 1905 ein Arbeiteraufstand ausbrach. Aus Brzozowskis Perspektive stellte diese Revolution die Kraft und die geschichtliche Reife des polnischen Proletariats unter Beweis – der einzigen polnischen Bevölkerungsschicht, die gegen das reaktionäre, von internationalem Großkapital und der Bourgeoisie unterstützte Zarentum Widerstand leisten konnte. Er betont dabei mehrfach, dass das Proletariat nicht nur über eine zielbewusste politische Orientierung und Integrität verfüge, sondern auch eine „nationale Selbstständigkeit“, weswegen es außerhalb des polnischen Proletariats „keine nationalen Formen des Denkens, Fühlens und Wollens“ (S. 49) geben könne. Eine solche Überzeugung, dass zwischen dem Streben nach einem selbstbestimmten Nationalstaat und dem Postulat des Sozialismus kein Widerspruch bestünde und die Arbeiterklasse auch in der Sphäre der Nationsbildung eine entscheidende Rolle zu spielen habe, war im damaligen Europa keine Seltenheit: In jener Zeit entstanden mehrere Bewegungen und Parteien, wie die marxistisch-zionistische Poale Zion (‚Arbeiter des Zions‘) oder die irische republikanische Sinn Féin (‚Wir selbst‘). Unter den polnischen Sozialist:innen aus dem Milieu der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna, PPS), mit der Brzozowski damals sympathisierte, spielte das Erbe der polnischen Romantik eine wichtige Rolle, insofern sie das ‚Polentum‘ eng mit der Emanzipation der unteren Schichten, der internationalen Solidarität (‚Brüderlichkeit der Völker‘, braterstwo ludów) und dem Respekt für ‚den Anderen‘ verknüpften. (Die PPS selbst wurde von fünf Personen gegründet, von denen zwei polnische Tataren waren). Ein so verstandenes, politisches ‚Polentum‘ unterschied sich diametral von jenem ‚Polentum‘, wie es von Seiten der polnischen Nationalen Demokratie (Narodowa Demokracja, ND) definiert wurde. Der ND zufolge war das ‚Polentum‘ in erster Linie kulturell-ethnisch zu begreifen, weswegen es mit anderen Ethnien und Kulturen konkurrieren musste und einer ständigen Bedrohung durch Einflüsse ‚stärkerer‘ Nationen (insbesondere der deutschen) ausgesetzt war. Die ‚Anderen‘ (Deutsche, Juden, Ukrainer, usw.) wurden insofern als Konkurrenz angesehen. Die ND verkörperte während der Revolution 1905–1907 für Brzozowski alles, wogegen er sich zu jener Zeit in seiner Publizistik wandte: einen an Zynismus grenzenden politischen Realismus, die reaktionäre Allianz zwischen dem Zarentum, dem Großkapital, dem Adel und Bürgertum und den evident chauvinistischen Nationalismus.

Vor diesem Hintergrund ist der leidenschaftliche Presseartikel DIE MENSCHHEIT UND DAS VOLK aus dem Jahre 1907 zu lesen, in dem Brzozowski das sozialistische civitas hominum und das selbstständige, „arbeitende Polen“ als sich gegenseitig ergänzende Konzepte darstellt. Die Bedingung hierfür wäre jedoch den spießigen Nationalismus der ND abzulehnen und stattdessen zu begreifen, dass von einem sozialistischen Gesamtkonzept (d. h. einer Leistung für die Menschheit insgesamt) auch Polen profitieren würde. Der Ausdruck ‚Arbeit‘ wird von Brzozowski polysem verwendet, einerseits in Bezug auf das Proletariat und die Rolle der Arbeiter:innen in der Revolution, andererseits bezogen auf die eigene, intellektuelle und geistige Entwicklung, die in der revolutionären Situation viel Mühe und innere Integrität abverlangte.

 

Denkt ihr, dass Polen in der Adelstracht inmitten eines modernen Europas bestehen kann, dass ihm als einziger Inhalt „der Name Marias“, der Hochmut der Unwissenheit, die beschränkte Selbstsucht und das träge gewordene Sentiment genügen werden? Die nationale Kraft als Besonderheit zu züchten heißt, den polnischen Krähwinkel und die polnischen Provinznester zum Ideal zu erheben, wo jeder unter dem Schleier der häuslichen Tugenden verlebte Tag ein Mord am eigenen Gedanken, an der eigenen menschlichen Würde ist! […]

Ihr Jungen, ihr Starken, ihr Kühnen, ihr, denen die Geschichte die schönste Gabe bereitet hat: ein Leben voller Arbeit, […] glaubt nur euch selbst, nur dem eigenen Gefühl, dass der Mensch kein Sklave sein darf; kämpft, arbeitet und schafft eine Zukunft trotz alledem, trotz der Heuchelei, der Halbheit, der Gleichgültigkeit und des Skeptizismus der erkalteten Herzen. Habt den Mut, Menschen zu sein und für den Menschen in Polen zu arbeiten. (S. 76)

Trotz des pathetischen Stils unterscheidet sich Brzozowski hier kaum merklich von anderen Autor:innen der engagierten polnischen Intelligenz der Jahrhundertwende; die ‚Denkfaulheit‘ und ‚Sentimentalität‘ der polnischen Gesellschaft wurden oftmals auch in den Veröffentlichungen der ND kritisiert (allerdings aus einer anderen, nicht-sozialistischen Perspektive). Solche Ratschläge, wie Brzozowskis: „sorgt dafür, dass die polnische Sprache eine Sprache der Wissenschaft, des unabhängigen Gedankens und der sich befreienden Arbeit sei“ (S. 71), stehen insofern in der damaligen intellektuellen Tradition. Bolesław Prus schrieb in einer Kolumne im Jahre 1897:

Wer also versuchen würde, patriotische Gefühle zu wecken oder auch nur zu verstärken, wäre wie ein Mann, der versuchen würde, den Ozean mit Wasser aus einem Brunnen aufzufüllen. […] [N]ach meiner persönlichen Überzeugung – bezeichnet das Wort ‚Pole‘ eine Spezies, wie die Wörter: Kiefer, Weide, Spatz, Biene und so weiter. An einer Kiefer zu arbeiten, um sie zu einer Kiefer zu machen, oder an einem Spatz, um ihn zu einem Spatz zu machen, ist genauso unsinnig, wie z. B. aus einer Kiefer eine Tanne machen zu wollen oder einen Spatz in einen Stieglitz verwandeln zu wollen. Es erscheint hingegen sinnhaft, an einer Tanne und an einem Spatzen zu arbeiten, sodass jeder von ihnen in seiner Art die höchste Vollkommenheit erreicht. Das aber ist nicht die Sache des Patriotismus, sondern der Zivilisation...13

Obwohl der naive Patriotismus von der polnischen Intelligenz mit Skepsis betrachtet wurde, erschien die Idee eines konsequenten Kosmopolitismus nur wenigen Autor:innen und Aktivist:innen verlockend. Der sozialistische Internationalismus, postuliert von der wichtigsten Konkurrenzpartei der PPS, der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy, SDKPiL), wurde als ein trockener, ökonomischer Dogmatismus angesehen, der die komplizierte national-ethnisch-konfessionelle Vielfalt Ost- und Mitteleuropas ignoriere und auf Identitäten bezogene Diskriminierungsprobleme übersehe (beispielsweise die Verfolgung ethnischer Minderheiten). Die SDKPiL sollte all jene nicht-ökonomischen Faktoren missachtet haben, die für das gesellschaftliche Funktionieren wesentlich seien: regionale geschichtliche Bedingtheiten, die Bedeutung lokaler Sprachen, das Verständnis von Genderrollen.14 Brzozowski selbst warf der SDKPiL (insbesondere ihrer bekanntesten Aktivistin Rosa Luxemburg) eine Vulgarisierung des Marxismus vor; sie habe eine feine Theorie auf eine Ideologie des ökonomischen Automatismus reduziert, die sogar dazu bereit sei harte Fakten zu missachten, wenn diese ihren theoretischen Hauptannahmen widersprächen.15 Im postulierten Internationalismus der SDKPiL erkannte Brzozowski eine versteckte Form des kulturellen Imperialismus, da der Verzicht auf die nationale Frage in der Praxis eine Unterordnung unter diejenigen Kulturen bedeutete, die bereits den hegemonialen Status besaßen. Brzozowski hatte ein breiteres Verständnis von Marxismus; die wahre Emanzipation bezog sich in seinen Augen nicht nur auf die Arbeitsbedingungen, sondern auch auf die damit verbundene Komplexität sozialkultureller Bedingungen und sollte in Form einer nationalen und ethnischen Selbstbehauptung auftreten.

Bei dem letzten theoretischen Text in dieser Anthologie handelt es sich um ein Fragment aus der Legende des Jungen Polens (1909), neben Ideen (1910), dem wichtigsten theoretischen Werk Brzozowskis, in dem er viele seiner früheren Äußerungen zur Kultur der Jahrhundertwende und insbesondere zur polnischen Literatur revidiert. Eines der Hauptprobleme, die in der Legende des Jungen Polens verhandelt werden, ist die Frage nach der Authentizität, die hinsichtlich verschiedener Aspekte diskutiert wird und eine Vielzahl an Themenbereichen umfasst: Religiosität, Humor und Komik, Autonomie und das Erbe der Romantik in der polnischen Kultur. Das Fragment ROMANTIK UND MODERNE rückt eine Gegenüberstellung der Romantik und des „Jungen Polens“ (wobei als „Junges Polen“ die modernistische polnische Literatur verstanden wird) in den Mittelpunkt, bei der die kraftvolle Authentizität und Individualität der polnischen Romantik von dem Epigonentum des „Jungen Polens“ kontrastiert wird. Die polnische Romantik war ein kulturelles Phänomen, mit dem Brzozowski Zeit seines Lebens in einem ständigen Dialog blieb, indem er versuchte ihre Vielfalt und Originalität intertextuell erfahrbar zu machen: Das letzte Kapitel seines frühen Buches über Fjodor Dostojewski16 ist dem romantischen Mystiker Andrzej Towiański (1799–1878) gewidmet, in der Dialogschrift Einführung in die Philosophie (Wstęp do filozofii, 1906) tritt der romantische Philosoph August Cieszkowski (1814–1894) als Gesprächspartner auf, der Roman Flammen – die Geschichte über Revolutionär:innen im Zarenreich – beinhaltet mehrere Anspielungen auf das Werk von Adam Mickiewicz (1798–1855) und Seweryn Goszczyński (1803–1876).17 Laut Brzozowski ist es der polnischen Romantik gelungen die polnische Geschichtserfahrung samt der historischen Besonderheiten Ost- und Mitteleuropas in den Rang moderner Weltliteratur zu erheben. In Werken von Goszczyński, Mickiewicz, Juliusz Słowacki oder Antoni Malczewski stellen lokale Themen aus Belarus oder der Ukraine keine Exotik dar, sondern eine authentische Abbildung harter Lebens- und Geschichtserfahrungen, in denen sich die moderne conditio humana widerspiegelt. Die polnische Romantik thematisierte auf eigene Weise die Grundprobleme der Moderne: nicht nur jene Daseinszustände, die zukünftig als „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) oder „transzendentale Obdachlosigkeit“ (György Lukács) bezeichnet werden,18 sondern sie warf auch die Frage nach Emanzipationsmöglichkeiten auf. Dies kennzeichnete auch die romantische Vorstellung des ‚Polentums‘ in bezeichnendem Maße und verlieh ihr eine Dimension (selbst-)ironischer Ambivalenz. Mit der Zeit aber, so Brzozowskis Diagnose, wurde die polnische Romantik in der populären Vorstellung auf einen kuriosen Nationalismus reduziert, der für eine besondere Rolle Polens in der Weltgeschichte plädiere, jedoch außer pathetischen Standardfloskeln keine Errungenschaften mit sich bringe. Stattdessen führe er intellektuelle Faulheit und Ausreden herbei, um den kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Moderne (insbesondere der Entfremdung) entkommen zu können.

Die Romantik war die Bewahrung des Glaubens in der realen Qual. Heute macht man aus ihr ein um des eigenen Stolzes willen täglich erneuertes Passionsspiel; die eigene unfruchtbare Existenz. Ich kann nichts tun, trotzdem aber glaube ich, rief die Romantik. Seht nur, wie ich glaube, ich tue ja nichts, wiederholen heute ihre Epigonen. Dort war Golgatha, hier Oberammergau. Dort war das Märtyrertum, hier der Wunsch, sich durch die „Qual“ vor der Arbeit zu drücken. (S. 81)

In ROMANTIK UND MODERNE ist auch eine Anspielung auf das Dramastück Die Ungöttliche Komödie (veröffentlicht 1835) des romantischen konservativen Dichters und Denkers Zygmunt Krasiński (1812–1859) zu finden, den Brzozowski wertschätzte. Die Handlung dieses Dramas spielt in einer imaginierten Zukunft, in der es zu einer demokratisch-atheistischen Revolution gegen die christlich-konservative Aristokratie kommt. Einerseits zeichnet Krasiński das schonungslose Porträt einer im Verfall begriffenen ‚alten Welt‘, andererseits porträtiert er die Revolutionär:innen als einen primitiven, zynischen und gewaltbereiten Mob, der sogar ihr eigener Anführer tief verachtet. Manch einer (wie Czesław Miłosz) vermochte in Krasińskis Drama die Hauptannahmen der geschichtsmaterialistischen Dialektik oder sogar eine Prophezeiung der kommunistischen Revolution zu erkennen.19 Der Kampf zwischen reaktionären und revolutionären Kräften wird in Die Ungöttliche Komödie sehr abstrakt dargestellt, ohne Verweise auf ein konkretes Land oder eine bestimmte Zeitperiode. Brzozowski beruft sich auf Krasińskis Werk als Beispiel für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit den real konkurrierenden Weltanschauungen. Mit der romantischen Bereitschaft, die unterschiedlichen Weltbilder entschlossen neu zu durchdenken, wird die jungpolnische „Ohnmacht“ kontrastiert: