Free

Das Halsband der Königin Denkwürdigkeiten eines Arztes 2

Text
iOSAndroidWindows Phone
Where should the link to the app be sent?
Do not close this window until you have entered the code on your mobile device
RetryLink sent

At the request of the copyright holder, this book is not available to be downloaded as a file.

However, you can read it in our mobile apps (even offline) and online on the LitRes website

Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

II.
Das Innere eines Hauses

Ohne das Gedächtniß unseres Lesers in allzu große Unkosten zu versetzen, dürfen wir hoffen, daß er diese Rue Saint-Claude, welche östlich an das Boulevard, westlich an die Rue de St.-Louis stößt, bereits kennt; er hat in der That mehr als eine von den Personen, welche in dieser Geschichte eine Rolle gespielt oder spielen werden, sie zu einer andern Zeit durchlaufen sehen, nämlich zur Zeit, da der große Physiker Joseph Balsamo mit seiner Sibylle Lorenza und seinem Lehrer Althotas hier wohnte.

Im Jahre 1784, wie im Jahre 1770, in welcher Epoche wir zum ersten Mal unsere Leser dahin führten, war die Rue Saint-Claude eine gute, ehrliche Straße, nicht sehr hell, das ist wahr, nicht sehr reinlich, das ist auch wahr, wenig besucht, wenig mit Bauten geschmückt, wenig bekannt. Doch sie hatte ihren heiligen Namen und ihren Rang als Straße des Marais, und als solche beherbergte sie in den drei bis vier Häusern, die ihren Effectivstand bildeten, mehrere arme Rentiers, mehrere arme Handelsleute und mehrere auf den Etats des Kirchspiels vergessene neue Arme.

Außer diesen drei bis vier Häusern gab es wohl noch an der Ecke des Boulevards ein Hotel von großartigem Aussehen, mit dem sich die Rue Saint-Claude als mit einem aristocratischen Gebäude hätte brüsten können. Aber dieses Gebäude, dessen hohe Fenster, über der Mauer des Hofes, sich an einem Festtage allein mit dem Widerschein seiner Candelaber und seiner Kronleuchter erhellt hätten, dieses Gebäude, sagen wir. war das schwärzeste, stummste und verschlossenste von allen Häusern des Quartiers.

Die Thüre öffnete sich nie; die mit ledernen Polstern verstopften Fenster hatten auf jedem Blatte der Jalousien, auf jeder Leiste der Laden eine Staublage, von der Physiologen und Geologen behauptet hätten, sie gehe auf zehn Jahre zurück.

Zuweilen näherte sich ein Pflastertreter, der gerade vorüberging, ein Neugieriger oder ein Nachbar dem Thorweg und betrachtete durch das weite Schloß das Innere des Gebäudes.

Da erblickte er nichts als Grasbüschel zwischen den Pflastersteinen, Schimmel und Moos auf den Platten. Zuweilen durchschritt eine ungeheure Ratte, die souveräne Gebieterin dieser verlassenen Domäne, ruhig den Hof und versenkte sich in den Keller, eine sehr überflüssige Bescheidenheit, da sie zu ihrer unumschränkten Verfügung so bequeme Salons und Cabinets hatte, wo die Katzen sie nicht beunruhigen konnten.

War es ein Vorübergehender oder ein Neugieriger, so setzte er, nachdem er sich von der Einsamkeit des vor ihm stehenden Gebäudes überzeugt, seine Wanderung fort; war es aber ein Nachbar, so blieb er, da er ein viel größeres Interesse an dem Hotel hatte, beinahe immer lange genug auf seinem Beobachtungsposten, daß ein anderer Nachbar, durch eine ähnliche Neugierde angelockt, sich neben ihn stellte, und dann knüpfte sich ein Gespräch an, dessen Hauptinhalt, wenn auch nicht die Details, wir mit ziemlicher Sicherheit angeben können.

»Nachbar,« sagte derjenige, welcher nicht hineinschaute, zu dem Hineinschauenden, »was sehen Sie denn im Hause des Herrn Grafen von Balsamo?«

»Nachbar,« antwortete der Hineinschauende, »ich sehe die Ratte.«

»Ah! wollen Sie erlauben,« sagte der zweite Neugierige.

Und er stellte sich ebenfalls an das Schlüsselloch.

»Sehen Sie sie?« fragte der aus dem Besitz Verdrängte den im Besitz Befindlichen.

»Ja,« antwortete dieser, »ich sehe sie. Ah! mein Herr, sie ist fett geworden.«

»Sie glauben?«

»Ja, ich bin dessen sicher.«

»Ich glaube wohl, nichts stört sie.«

»Und es müssen, was man auch sagen mag, sicherlich noch gute Brocken in dem Hause übrig sein.«

»Gute Brocken, sagen Sie?«

»Ah! gewiß. Herr von Balsamo ist zu schnell verschwunden, um nicht etwas vergessen zu haben.«

»Ei! Nachbar, was soll man vergessen, wenn ein Haus halb verbrannt ist?«

»Sie können im Ganzen Recht haben, Nachbar.«

Und nachdem man die Ratte noch einmal angeschaut, trennte man sich, erschrocken darüber, daß man so viel über einen so geheimnißvollen und heikeln Gegenstand gesagt hatte.

Seit dem Brand dieses Hauses oder eines Theils vom Hause war Balsamo wirklich verschwunden, keine Wiedererscheinung hatte stattgefunden und das Hotel war verlassen geblieben.

Lassen wir es ganz düster und ganz feucht mit seinen schneebedeckten Terrassen und seinem von den Flammen ausgezackten Dach wiedererstehen, dieses alte Hotel, an dem wir nicht vorübergehen wollen, ohne uns dabei wie bei einem alten Bekannten aufzuhalten; dann betrachten wir, während wir die Straßen durchschreiten, um von links nach rechts zu gehen, dicht neben einem durch eine Mauer geschlossenen Gärtchen, ein schmales, hohes Haus, das sich, einem langen weißen Thurm ähnlich, von dem blaugrauen Grund des Himmels abhebt.

Auf dem First dieses Hauses ragt ein Kamin wie ein Blitzableiter empor, und gerade im Zenith dieses Kamins wirbelt und funkelt ein glänzender Stern.

Der letzte Stock des Hauses würde sich unbemerkt im Raume verlieren, ohne einen Lichtstrahl, der zwei Fenster von dreien röthet, welche die Façade bilden.

Die anderen Stockwerke sind düster und traurig. Schlafen die Miethleute schon? sparen sie unter ihren Decken sowohl die theuren Lichter, als das in diesem Jahre so seltene Holz? So viel ist gewiß, daß die vier Stockwerke kein Lebenszeichen von sich geben, während der fünfte nicht nur lebt, sondern sogar mit einer gewissen Affectation strahlt.

Klopfen wir an die Thüre; steigen wir die finstere Treppe hinauf; sie endigt bei diesem fünften Stock, wo wir zu thun haben. Eine einfache an die Mauer angelehnte Leiter führt zum obersten Stockwerk.

Ein Rehfuß hängt an der Thüre; eine Strohmatte und eine hölzerne Schale zieren die Treppe.

Sobald die erste Thüre geöffnet ist, treten wir in eine dunkle, kahle Stube ein; es ist diejenige, deren Fenster nicht erleuchtet ist. Diese Stube dient als Vorzimmer und führt in eine andere, deren Ausstattung und nähere Umstände unsere ganze Aufmerksamkeit verdienen.

Platten statt eines getäfelten Fußbodens, plump angemalte Thüren, drei Lehnstühle von weißem Holz mit gelbem Sammet überzogen, ein armseliger Sopha, dessen Kissen unter den Falten die Spuren einer von Alter erzeugten Abmagerung tragen.

Zwei an der Wand hängende Portraits ziehen sogleich die Blicke auf sich. Ein Licht und eine Lampe, das eine auf einem dreifüßigen Tischchen, die andere auf dem Kamin stehend, verbinden ihre Feuer so, daß sie aus diesen zwei Portraits zwei Lichtbrennpunkte machen.

Mit der Faltenmütze auf dem Kopf, mit dem langen, bleichen Gesicht, dem matten Auge, der Krause am Hals empfiehlt sich das erstere von den Portraits durch die Kennbarkeit; es ist das ähnliche Bildniß Heinrichs III., Königs von Frankreich und Polen.

Unten liest man eine Inschrift mit schwarzen Buchstaben auf eine schlecht vergoldete Rahme gezeichnet:

Henry de Valois

Das zweite Portrait, das in neuerer Zeit vergoldet worden und ebenso frisch in seinen Malereien erscheint, als das andere veraltet ist, stellt eine junge Frau mit schwarzem Auge, feiner, gerader Nase, hervorspringenden Backenknochen und behutsamen Mund vor. Ihr Kopf ist geschmückt oder vielmehr schwer gedrückt von einem Gebäude von Haaren und seidenen Bändern, neben dem die Faltenmütze Heinrichs III. sich wie ein Maulwurfshaufen gegen eine Pyramide ausnimmt.

Unter diesem Portrait liest man ebenfalls in schwarzen Buchstaben:

Jeanne de Valois

Und wenn man, nachdem man den erloschenen Herd, die armseligen baumwollenen Vorhänge des mit vergilbtem grünen Damast bedeckten Bettes betrachtet hat, wissen will, welche Beziehung diese Portraits zu den Bewohnern des fünften Stockes haben, so braucht man sich nur zu einem kleinen eichenen Tisch umzuwenden, auf welchem eine einfach gekleidete Frau, die sich mit dem linken Ellenbogen auflehnt, mehrere versiegelte Briefe übersieht und die Adressen derselben controlirt.

Diese junge Frau ist das Original des Portraits.

Drei Schritte von ihr, in einer halb neugierigen, halb ehrerbietigen Haltung, gekleidet wie eine Duenna von Greuze, wartet und schaut eine kleine alte Kammerfrau von sechzig Jahren.

»Jeanne von Valois,« sagte die Inschrift.

Doch wenn diese Dame eine Valois war, wie ertrug Heinrich III., der sybaritische König, der Wollüstling, selbst nur im Gemälde das Schauspiel eines solchen Elends, bei dem es sich nicht nur um eine Person seines Geschlechts, sondern auch um seinen Namen handelte?

Die Dame vom fünften Stock strafte übrigens den Ursprung, den sie sich gab, persönlich durchaus nicht Lügen. Sie hatte weiße, zarte Hände, die sie von Zeit zu Zeit unter ihren gekreuzten Armen erwärmte. Sie hatte einen kleinen, feinen, schmalen Fuß, bekleidet mit einem Pantoffel von noch zierlichem Sammet, den sie auch dadurch zu erwärmen suchte, daß sie damit auf den Boden schlug, der so glänzend und kalt war wie das Eis, das Paris bedeckte.

Wenn dann der Nordost unter den Thüren und durch die Spalten der Fenster pfiff, schüttelte die Zofe traurig die Schultern und schaute den feuerlosen Kamin an.

Was die Dame, die Herrin der Wohnung, betrifft, so zählte sie fortwährend die Briefe und las die Adressen.

Jedesmal nachdem sie eine Adresse gelesen, machte sie eine Bewegung.

»Frau von Misery,« murmelte sie, »erste Staatsdame Ihrer Majestät. Hier darf ich nur sechs Louisd'or rechnen, denn man hat mir schon gegeben.«

Und sie stieß einen Seufzer aus.

»Madame Patrix, erste Kammerfrau Ihrer Majestät, zwei Louisd'or.

»Herr von Ormesson, eine Audienz.

»Herr von Calonne, einen Rath.

»Herr von Rohan, einen Besuch, und wir werden darauf bedacht sein, daß er ihn uns erwidert,« sagte lächelnd die junge Frau.

 

»Wir haben also für die nächsten acht Tage nur acht Louisd'or sicher,« fuhr sie mit demselben singenden Tone fort.

Und sie richtete den Kopf auf und sagte:

»Frau Clotilde, putzen Sie doch das Licht.«

Die Alte gehorchte und setzte sich ernst und aufmerksam wieder an ihren Platz.

Diese Art von Inquisition, deren Gegenstand sie war, schien die junge Frau zu ermüden.

»Meine Liebe,« sagte sie, »suchen Sie doch, ob nicht ein Stümpchen von einer Wachskerze übrig ist. Ich hasse es, Talglichter zu brennen.«

»Es ist keines mehr vorhanden,« erwiderte die Alte.

»Sehen Sie immerhin nach.«

»Wo denn?«

»Im Vorzimmer.«

»Es ist dort sehr kalt.«

»Ah! hören Sie, man läutet eben,« sagte die junge Frau.

»Madame täuscht sich,« erwiderte die hartnäckige Alte.

»Ich glaube es. Frau Clotilde.«,

Und da sie sah, daß die Alte widerstand, gab sie nach, leicht murrend jedoch, wie Personen, welche aus irgend einer Ursache geringere Rechte über sich eingeräumt haben, die ihnen nicht mehr gehören sollten.

Dann setzte sie ihre Berechnung fort.

»Acht Louisd'or, von denen ich drei für Quartier schuldig bin.«

Sie nahm die Feder und schrieb.

»Drei Louisd'or. Fünf Herrn von La Mothe versprochen, um ihm den Aufenthalt in Bar-sur-Aube erträglich zu machen… Armer Teufel! unsere Heirath hat ihn nicht bereichert; doch Geduld!«

Und sie lächelte abermals, doch indem sie sich dießmal in einem Spiegel betrachtete, der zwischen den zwei Portraits angebracht war.

»Nun,« sprach sie weiter, »Fahrten von Versailles nach Paris und von Paris nach Versailles. Fahrten einen Louisd'or.«

Und sie schrieb diese neue Zahl zu der Colonne der Ausgaben.

»Nun Lebensunterhalt für acht Tage, einen Louisd'or.«

Sie schrieb abermals.

»Toilette, Fiaker, Geschenke an die Portiers der Häuser, wo ich sollicitire: vier Louisd'or. Ist das wohl Alles? addiren wir.«

Doch mitten unter dem Addiren unterbrach sie sich und rief:

»Man läutet, sage ich Ihnen!«

»Nein, Madame, erwiderte die Alte wie erstarrt an ihrem Platze. »Es ist nicht hier, es ist unten im vierten.«

»Vier, sechs, elf, vierzehn Louisd'or: sechs weniger als ich brauche, um meine Garderobe zu erneuern und dieses alte Thier zu bezahlen, damit ich es endlich einmal entlassen kann!«

Dann rief sie plötzlich voll Zorn:

»Ich sage Ihnen, man läutet, Unglückliche.«

Dießmal, man muß es gestehen, hätte sich das ungelehrigste Ohr nicht weigern können, den Ruf von Außen zu verstehen: kräftig gezogen, bebte die Klingel in der Ecke und vibrirte so lange, daß der Schläger wenigstens ein dutzendmal an die Wände der Glocke anschlug.

Bei dem Geräusch und während die Alte, endlich erweckt, nach dem Vorzimmer lief, raffte ihre Gebieterin, behend wie ein Eichhörnchen, die auf dem Tische zerstreuten Briefe und Papiere zusammen, warf das Ganze in eine Schublade und setzte sich, nach einem raschen Blick im Zimmer umher, um sich zu versichern, daß hier Alles in Ordnung sei, auf den Sopha, wo sie die demüthige und traurige Haltung einer leidenden, aber in ihr Schicksal ergebenen Person annahm.

Nur, bemerken wir dieß sogleich, ruhten die Glieder allein. Thätig, unruhig, wachsam befragte das Auge den Spiegel, in dem die Eingangsthüre sichtbar war, während das lauschende Ohr den geringsten Ton aufzufassen sich bereit hielt.

Die Duenna öffnete die Thüre und man hörte ein paar Worte im Vorzimmer flüstern.

Dann fragte eine frische und liebliche, dabei aber sehr feste Stimme:

»Wohnt hier die Frau Gräfin La Mothe?«

»Die Frau Gräfin La Mothe Valois?« wiederholte näselnd Clotilde.

»Sie ist es, meine gute Frau. Ist Frau von La Mothe zu Hause?«

»Ja, Madame, sie ist zu leidend, um auszugehen.«

Während dieses Gesprächs, von dem sie kein Wort verlor, schaute die angebliche Kranke in den Spiegel und sah, daß eine Frau Clotilde befragte, und daß diese Frau aller Wahrscheinlichkeit nach einer hohen Classe der Gesellschaft angehörte.

Sie verließ sogleich den Sopha und ging zum Lehnstuhl, um den Ehrenplatz der Fremden zu überlassen.

Während sie diese Bewegung ausführte, konnte sie nicht bemerken, daß sich der weibliche Besuch auf dem Ruheplatz umgedreht hatte, und zu einer andern Person, welche im Schatten geblieben sagte:

»Sie können eintreten, Madame, es ist hier.«

Die Thüre schloß sich wieder, und die zwei Frauen, die wir nach der Rue Saint-Claude fragen sahen, treten in die erste Stube der Gräfin La Mothe Valois ein.

»Wen soll ich der Frau Gräfin melden?« fragte Clotilde, indem sie neugierig, obgleich mit Respect, das Licht vor den Gesichtern der zwei Frauen hin- und herspazieren ließ.

»Melden Sie eine Dame vom guten Werk,« erwiderte die Aeltere.

»Von Paris?«

»Nein, von Versailles.«

Clotilde ging zu ihrer Gebieterin hinein, und die Fremden, die ihr folgten, befanden sich in dem Zimmer, das in dem Augenblick erleuchtet wurde, wo Jeanne von Valois sich mühsam von ihrem Stuhl erhob, um ihre zwei Gäste sehr höflich zu begrüßen.

Clotilde rückte die zwei anderen Stühle vor und zog sich dann in das Vorzimmer mit einer weisen Langsamkeit zurück, welche errathen ließ, daß sie das bevorstehende Gespräch an der Thüre belauschen würde.

III.
Jeanne von La Mothe Valois

Die erste Sorge von Jeanne von La Mothe, als sie schicklicher Weise die Augen aufschlagen konnte, war, zu sehen, mit welchen Gesichtern man es zu thun hatte.

Die ältere der beiden Frauen mochte, wie gesagt, dreißig bis zweiunddreißig Jahre alt sein; sie war von merkwürdiger Schönheit, obgleich ein über ihr ganzes Gesicht verbreiteter Anstrich von Hochmuth natürlich ihrer Physignomie einen Theil des Zaubers, den sie haben konnte, nehmen mußte. So urtheilte wenigstens Jeanne nach dem Wenigen, was sie von den Zügen des Besuches erblickte.

Einen der Lehnstühle dem Sopha vorziehend, hatte sie den Lichtstrahl, der aus der Lampe hervorsprang, dadurch von sich fern gehalten, daß sie in eine Ecke des Zimmers zurückwich, und über ihre Stirne die Tafftkaputze ihres Mantels vorzog, wodurch ein Schatten auf ihr Gesicht geworfen wurde.

Doch die Haltung des Kopfes war so stolz, das Auge so lebhaft und so natürlich erweitert, daß man, wäre jede Einzelheit verschwunden, nach ihrem Gesammtmaß hätte erkennen müssen, die Dame sei von schönem und besonders von edlem Stamme.

Ihre Gefährtin, minder schüchtern, scheinbar wenigstens, obgleich vier bis fünf Jahre jünger, verbarg ihre wirkliche Schönheit nicht.

Ein in Beziehung auf Haut und Farbe bewunderungswürdiges Gesicht, ein Kopfputz, der die Schläfe entblößt ließ und das vollkommene Eirund der Maske hervorhob; zwei große blaue Augen, ruhig bis zur Heiterkeit, hellsehend bis zur Tiefe, ein Mund von lieblicher Zeichnung, dem die Natur die Offenherzigkeit, dann die Erziehung und die Etikette die Discretion gegeben hatten; eine Nase, welche, was die Form betrifft, die der Venus von Medicis um nichts zu beneiden gehabt hätte; das ist es, was der rasche Blick von Jeanne auffaßte. Sodann konnte die Gräfin, noch zu andern Einzelnheiten überschweifend, bei der jüngeren von den zwei Frauen endlich eine Hand wahrnehmen: eine Taille zarter und biegsamer als die ihrer Gefährtin, eine Brust breiter und von reicherer Rundung als die der älteren, die ebenso fleischig als die der andern Dame nervig und fein war.


Jeanne von Valois machte alle diese Bemerkungen in einigen Secunden, das heißt, in weniger Zeit, als wir gebraucht haben, um sie hier zu bezeichnen.

Als sodann diese Wahrnehmungen gemacht waren, fragte sie sanft, welchem glücklichen Umstand sie den Besuch der Damen zu verdanken habe.

Die zwei Frauen schauten sich an und auf ein Zeichen der älteren sagte die jüngere:

»Madame, denn Sie sind, glaube ich, verheirathet?«

»Ich habe die Ehre, Madame, die Frau des Herrn Grafen von La Mothe, eines vortrefflichen Edelmanns, zu sein.«

»Nun, wohl, wir, Frau Gräfin, sind die Superiorinnen einer Stiftung zu guten Werken. Man hat uns hinsichtlich Ihrer Lage Dinge gesagt, die unsere Theilnahme erregen, und wir wollen dem zu Folge genauere Erkundigungen über Sie und Ihre Verhältnisse einziehen.«

Jeanne wartete einen Augenblick und sprach dann, als sie die Zurückhaltung der älteren Frau bemerkte:

»Meine Damen, Sie sehen hier das Portrait Heinrichs III., das heißt, des Bruders meines Ahnherrn; denn ich bin wirklich aus dem Blut der Valois, wie man Ihnen vielleicht gesagt hat.«

Und sie wartete auf eine neue Frage, indem sie ihre Gäste mit einer Art von stolzer Demuth anschaute.

»Madame,« sprach nun die ernste und zugleich sanfte Stimme der älteren von den zwei Frauen: Madame, ist es wahr, daß Ihre Frau Mutter Verwalterin eines Hauses, genannt Fontette bei Bar-sur-Seine, gewesen ist?«

Jeanne erröthete bei dieser Erinnerung, erwiderte aber sogleich, ohne sich stören zu lassen:

»Das ist Wahrheit, Madame, meine Mutter war Verwalterin eines Hauses, genannt Fontette.«

»Ah!« machte die Andere.

»Und da Marie Jossel, meine Mutter, von seltener Schönheit war,« fuhr Jeanne fort, »so verliebte sich mein Vater in sie und heirathete sie. Durch meinen Vater bin ich von edlem Geschlecht; Madame, mein Vater war ein Saint-Rémy von Valois, ein directer Abkömmling der Valois, welche regiert haben.«

»Wie sind Sie aber zu diesem Grad von Armuth herabgesunken, Madame?« fragte die ältere der zwei Frauen.

»Ach! das ist leicht zu begreifen.«

»Ich höre.«

»Es ist Ihnen nicht unbekannt, daß nach der Thronbesteigung Heinrichs IV., durch den die Krone Frankreichs vom Hause Valois auf das Haus Bourbon überging, erstere Familie noch einige Sprößlinge hatte, welche allerdings im Dunkel blieben, doch unbestreitbar von dem gemeinschaftlichen Geschlecht der vier Brüder abstammten, die sämmtlich ein so unseliges Ende nahmen.«

Die Damen machten ein Zeichen, das wie eine Beipflichtung gelten konnte.

Jeanne fuhr fort:

»Befürchtend, sie könnten, trotz ihrer Dunkelheit, die neue königliche Familie in Schatten stellen, vertauschten die Sprößlinge der Valois diesen ihren Namen mit dem Namen Rémy, den sie von einem Gut entlehnten, und man findet sie von Ludwig XIII. an unter diesem Namen in der Genealogie bis zum vorletzten Valois, meinem Großvater, der, da er die Monarchie befestigt und die ältere Linie vergessen sah, sich nicht länger eines ruhmwürdigen Namens, seiner einzigen Apanage, berauben zu dürfen glaubte. Er nahm also wieder den Namen Valois an und schleppte ihn im Schatten der Armuth in seiner Provinz fort, ohne daß es Jemand vom Hofe Frankreichs einfiel, daß außerhalb des Strahlenkreises des Throns ein Abkömmling der älteren, wenn nicht glorreichsten, doch wenigstens unglücklichsten Könige der Monarchie vegetirte.«

Jeanne unterbrach sich bei diesen Worten.

Sie hatte einfach und mit einer Mäßigung, die man bemerkt, gesprochen.

»Sie haben ohne Zweifel Ihre Beweise in guter Ordnung?« fragte die ältere der zwei Damen mit sanftem Tone, indem sie einen tiefen Blick auf diejenige heftete, welche sich die Abkömmlingin der Valois nannte.

»Ja. Madame,« erwiderte diese mit einem bittern Lächeln, »die Beweise fehlen mir nicht. Mein Vater hatte sie machen lassen und hinterließ sie mir sterbend in Ermangelung einer andern Erbschaft. Doch wozu sollen die Beweise einer unnützen Wahrheit, oder einer Wahrheit, die Niemand anerkennen will, dienen?«

»Ihr Vater ist gestorben?« fragte die jüngere der zwei Damen.

»Ach, ja.«

»In der Provinz?'

»Nein.«

»In Paris also?«

»Ja.«

»In dieser Wohnung?«

»Nein, Madame; mein Vater, Baron von Valois, ein Abkömmling des Bruders von Heinrich III., ist vor Armuth und Hunger gestorben.«

»Unmöglich!« riefen die zwei Frauen gleichzeitig.

»Und nicht hier, nicht in diesem dürftigen Winkel, nicht auf seinem armseligen Bett! Nein, mein Vater ist an der Seite der Elendesten und Leidendsten gestorben. Mein Vater ist im Hotel Dieu in Paris gestorben.«

Die zwei Frauen stießen einen Schrei des Erstaunens aus, der einem Schreckensschrei glich. Zufrieden mit der Wirkung, die sie durch die Kunst hervorgebracht, womit sie ihre Sätze gebildet und die Entwicklung herbeigeführt hatte, saß Jeanne unbeweglich, mit niedergeschlagenen Augen und herabhängenden Händen da.

Die ältere der zwei Damen schaute sie aufmerksam und mit Verstand an, und da sie in diesem zugleich so einfachen und so natürlichen Schmerz durchaus keine Symptome von Charlatanerei und Gemeinheit fand, so nahm sie wieder das Wort und sprach:

 

»Nach dem, was Sie mir sagen, haben Sie großes Unglück erlitten, und der Tod Ihres Herrn Vaters besonders…«

»Oh! wenn ich Ihnen mein Leben erzählte, Madame, so würden Sie sehen, daß der Tod meines Vaters nicht zu dem größten Unglück, das über mich ergangen, zu rechnen ist.«

»Wie, Madame, Sie betrachten den Tod Ihres Vaters als ein geringeres Unglück?« versetzte die Dame mit strengem Stirnrunzeln.

»Ja, Madame, und wenn ich dieß sage, spreche ich als fromme Tochter; denn mein Vater ist durch den Tod von allen Uebeln befreit worden, die ihn auf dieser Erde heimsuchten und die seine unglückliche Familie fortwährend bedrücken. Mitten unter dem Schmerz, den mir sein Tod verursacht, gewährt es mir eine gewisse Freude, denken zu können, mein Vater sei todt, und der Abkömmling der Könige sei nicht mehr darauf angewiesen, sein Brod zu betteln.«

»Sein Brod zu betteln?«

»Oh! ich sage es, ohne mich zu schämen, denn an unserem Unglück ist weder mein Vater Schuld, noch habe ich es verschuldet.«

»Doch Ihre Frau Mutter…«

»Mit derselben Offenherzigkeit, mit der ich Ihnen so eben sagte, ich danke Gott, daß er meinen Vater zu sich gerufen, beklage ich mich über Gott, daß er meine Mutter hat leben lassen.«

Die zwei Frauen schauten sich beinahe bebend bei diesen seltsamen Worten an.

»Wäre es eine Unbescheidenheit, Madame, Sie um eine ausführlichere Erzählung Ihres Unglücks zu bitten?« sagte die Aeltere.

»Die Unbescheidenheit, Madame, käme von mir, da ich Ihre Ohren mit der Erzählung von Schmerzen ermüden würde, die Ihnen nur gleichgültig sein können.«

»Ich höre, Madame,« erwiderte die ältere der zwei Damen, an welche ihre Gefährtin sogleich einen Blick in Form einer Ermahnung zur Vorsicht richtete.

Frau von La Mothe war wirklich der gebieterische Ausdruck dieser Stimme aufgefallen und sie schaute die Dame voll Erstaunen an.

»Ich höre also,« wiederholte diese mit einer minder starken Betonung, »ich höre, wenn Sie so gefällig sein wollen, zu sprechen.«

Und einer Bewegung des Mißbehagens, das ohne Zweifel von der Kälte herrührte, nachgebend, schüttelte diejenige, welche gesprochen, mit einem Beben der Schultern den Fuß, der bei der Berührung des feuchten Bodens erstarrte.

Die Jüngere schob ihr dann eine Art von Fußteppich zu, der sich unter ihrem Stuhl befand, eine Aufmerksamkeit, welche ihrerseits ihre Gefährtin durch einen Blick tadelte.

»Behalten Sie diesen Teppich für sich, meine Schwester, Sie sind zarter, als ich.«

»Verzeihen Sie, Madame, ich bedaure es auf das Schmerzlichste, daß ich Sie frieren sehen muß; doch das Holz ist noch um sechs Livres theurer geworden, so daß die Fuhre siebenzig Livres kostet, und mein Vorrath ist vor acht Tagen zu Ende gegangen.«

»Sie sagten, Sie seien unglücklich, daß Sie eine Mutter haben?« sprach die ältere der zwei Damen.

»Ja, ich begreife, eine solche Blasphemie fordert eine Erläuterung, nicht war, Madame?« sagte Jeanne. »Ich werde mich erklären, da Sie es Ihrer Aeußerung nach wünschen.«

Die ältere Dame machte ein Zeichen mit dem Kopf.

»Ich sagte Ihnen schon, Madame, mein Vater habe eine Mißheirath gemacht.«

»Ja, indem er seine Hausverwalterin heirathete.«

»Nun wohl! statt beständig stolz und dankbar für die Ehre zu sein, die man ihr erwies, fing Marie Jossel, meine Mutter, damit an, daß sie meinen Vater zu Grunde richtete, was übrigens keine Schwierigkeit war, indem sie auf Kosten des Wenigen, was ihr Mann besaß, ihre Begierden und Bedürfnisse befriedigte. Dann, nachdem sie ihn dahin gebracht hatte, daß er sein letztes Stück Land verkaufen mußte, überredete sie ihn, nach Paris zu gehen, um die Rechte in Anspruch zu nehmen, die seinem Namen gebührten. Mein Vater war leicht zu verführen, er rechnete wohl auch auf die Gerechtigkeit des Königs.

»Außer mir hatte mein Vater noch einen Sohn und eine Tochter. Unglücklich wie ich, vegetirt der Sohn auf den letzten Rangstufen der Armee; die Tochter, meine arme Schwester, wurde am Vorabend der Abreise meines Vaters nach Paris vor dem Hause eines Pächters, ihres Pathen, abgesetzt.

»Diese Reise erschöpfte das wenige Geld, das uns blieb. Mein Vater müdete sich in unnützen, fruchtlosen Gesuchen ab. Kaum sah man ihn zu Hause erscheinen, wo er, das Elend zurückbringend, ebenfalls nichts als Elend fand. Meine Mutter, die ein Opfer brauchte, erbitterte sich gegen mich. Sie fing damit an, daß sie mir meinen Antheil am Mahle zum Vorwurf machte. Ich aß allmälig lieber Brod oder gar Nichts, als daß ich mich an unsern dürftigen Tisch setzte; aber es gebrach meiner Mutter nicht an Vorwänden zum Strafen; beim geringsten Fehler, bei einem Fehler, über den eine andere Mutter gelächelt hätte, schlug mich die meinige; Nachbarn, die mir einen Dienst zu leisten glaubten, machten meinen Vater auf die schlimme Behandlung, deren Gegenstand ich war, aufmerksam. Mein Vater suchte mich gegen meine Mutter in Schutz zu nehmen, aber er bemerkte nicht, daß er durch seine Protection meine Feindin seit jenem Augenblick in eine ewige Stiefmutter verwandelte. Ach! ich konnte ihm keinen Rath in meinem eigenen Interesse geben, ich war zu jung, zu sehr Kind. Ich vermochte mir Nichts zu erklären. Ich empfand die Wirkungen, ohne daß ich die Ursachen zu errathen suchte. Ich kannte den Schmerz und nicht mehr.

»Mein Vater wurde krank und war Anfangs genöthigt, das Zimmer zu hüten. Da hieß man mich die Stube verlassen, unter dem Vorwand, meine Gegenwart ermüde ihn, und ich wisse das der Jugend inwohnende gebieterische Bedürfniß der Bewegung auch nicht zu unterdrücken. Sobald ich aus der Stube war, gehörte ich wie zuvor meiner Mutter. Sie lehrte mich eine Phrase, wobei ich stets Schläge und Püffe bekam; wenn ich dann diese demüthigende Phrase, die ich instinctartig durchaus nicht behalten wollte, auswendig wußte, wenn meine Augen von meinen Thränen geröthet waren, ließ sie mich vor die Hausthüre treten, und von der Thüre sandte sie mich auf den ersten Vorübergehenden, der gut aussah, ab mit dem Befehl, ihm die erwähnte Phrase vorzusagen, wenn ich nicht auf den Tod geschlagen werden wollte.«

»Oh! gräßlich! gräßlich!« murmelte die jüngere der zwei Damen.

»Und wie lautet diese Phrase?«

»Diese Phrase lautete,« fuhr Jeanne fort: »»Mein Herr, haben Sie Mitleid mit einer kleinen Waise, welche in gerader Linie von Heinrich von Valois abstammt.««

»Oh! pfui!« rief die ältere mit einer Geberde des Ekels.

»Und welche Wirkung brachte diese Phrase bei denjenigen hervor, an die sie gerichtet war?« fragte die ältere.

»Die Einen hörten mich an und hatten Mitleid; die Andern erzürnten sich und drohten mir; wieder Andere noch mildherziger als die Ersten, machten mich darauf aufmerksam, daß ich große Gefahr laufe, wenn ich solche Worte spreche, die in ungünstig gestimmte Ohren fallen können. Doch ich, ich kannte nur Eine Gefahr, die, meiner Mutter ungehorsam zu sein. Ich hatte nur Eine Furcht, die, geschlagen zu werden.«

»Und was geschah?«

»Oh! mein Gott, Madame, was meine Mutter hoffte; ich brachte ein wenig Geld nach Hause und mein Vater konnte die schreckliche Aussicht, die seiner harrte, um einige Tage hinausschieben.«

Das Gesicht der jüngeren Dame zog sich zusammen, der älteren traten Thränen in die Augen.

»Endlich, welche Erleichterung es auch meinem Vater brachte, empörte mich dieses häßliche Gewerbe. Eines Tages setzte ich mich, statt den Vorübergehenden nachzulaufen und sie mit meiner gewöhnlichen Phrase zu verfolgen, an den Fuß eines Meilensteins, wo ich einen Theil des Tags wie vernichtet blieb. Am Abend kehrte ich mit leeren Händen zurück. Meine Mutter schlug mich dergestalt, daß ich Tags darauf krank wurde.«

»Da war mein Vater, jedes Mittels beraubt, genöthigt, in's Hotel Dieu abzugehen, wo er starb.«

»Oh! welch eine furchtbare Geschichte!« murmelten die beiden Damen.

»Aber was machten Sie dann, als Ihr Vater todt war?« fragte die jüngere.

»Gott hatte Mitleid mit mir. Einen Monat nach dem Tode meines armen Vaters entfernte sich unsere Mutter mit einem Soldaten, ihrem Liebhaber, aus Paris, und ließ uns, meinen Bruder und mich, im Stich.«

»Sie blieben Waisen!«

»Oh! Madame, wir waren, im Gegensatz zu Anderen, nur Waisen, so lange wir eine Mutter hatten. Die öffentliche Wohlthätigkeit adoptirte uns. Da uns aber das Betteln widerstrebte, so bettelten wir nur nach Maßgabe unserer Bedürfnisse. Gott befiehlt seinen Geschöpfen, daß sie zu leben suchen.«