Im Garten der Zeit

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From the series: Falter #51
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falter 51

Wege der Seele – Bilder des Lebens

Im Garten der Zeit

Leben mit dem Schöpferischen

Herausgegeben von

Jean-Claude Lin

Mit Fotografien von Wolfgang Schmidt


INHALT

Vorwort des Herausgebers

1.Im Garten der Zeit

Was ist Zeit?

von Valentin Wember

2.Hier und jetzt

Kinder – wie die Zeit vergeht

von Christiane Kutik

3.Eure Zeit aber ist allewege

Christus und die Zeit

von Ormond Edwards

4.Leben und Sterben

Wer bin ich?

von Johannes W. Schneider

5.Die Liebe zum Wort

Der Augenblick

von Lorenzo Ravagli

6.Der gebildete Mensch

Musik braucht Zeit

von Sebastian Hoch

7.In der Glockenstube der Zeit

Lob der späten Stunde

von Maria A. Kafitz

8.Die Zeit großer Ideen

Das Jetzt gestalten

von Albert Vinzens

9.Im Fluss der Zeit

Vom Ende und Anfang der Welt

von Simone Lambert

10.Und aber dass ich hier bin

Wie entsteht Zeit?

von Valentin Wember

11.Kreativ verknüpfen

Die Zeit, die es braucht, ein Leben zu erzählen

von Ruth Ewertowski

12.Was hier wir sind

Sich selbst auf der Spur

von Georg Dreißig

Leben mit dem Schöpferischen

Nachwort des Herausgebers

Über die Autoren

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Wir müssen unseren Garten bestellen, heißt es am Ende von Voltaires berühmtem Roman Candide oder die beste aller Welten, der 1759 erschien und wegen der in Frankreich herrschenden Zensur als Übersetzung aus dem Deutschen getarnt war. Es ist ein Leitmotiv von Robert Harrisons Buch Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen, das 2010 im Hanser Verlag erschien. «Eben weil wir in die Geschichte geworfen sind», schreibt er in seinem Vorwort, «müssen wir unseren Garten bestellen. … Unsere menschlichen Gärten mögen uns wie kleine Gucklöcher erscheinen, die inmitten der gefallenen Welt einen Blick auf das Paradies gewähren, aber die Tatsache, dass wir sie schaffen und bewahren, dass wir für sie sorgen müssen, ist das Kennzeichen ihrer Herkunft aus dem Zustand nach dem Sündenfall. Ohne Gärten wäre die Geschichte eine Wüste. Ein von der Geschichte losgelöster Garten wäre überflüssig.»

Ganz im Sinne der Keimgedanken, die diesen 51. Band der falter Reihe hervorgebracht haben, könnte überall dort, wo eingangs vom Garten die Rede ist, auch Seele stehen und für Geschichte Zeit. Seele und Garten, Zeit und Geschichte sind zwar keine Synonyme, doch haben sie viel sich gegenseitig zu sagen. Es ist meine Hoffnung als Herausgeber, dass etwas davon auf den folgenden Seiten zu empfinden sein wird: Wie unser aller Leben sich in der Zeit entfaltet, führt uns zu den tiefsten Fragen menschlicher Existenz.

Mit Ausnahme des titelgebenden Beitrags erschienen alle Beiträge dieses Bandes in dem Lebensmagazin a tempo, die meisten im Jahr 2013, sechs im ersten Jahr 2000. Alle nicht namentlich gekennzeichneten Beiträge stammen vom Herausgeber. Ergänzt sind alle zwölf Teile mit einem Zitat und einem Gedicht in denen noch weitere Aspekte des Gartens aufscheinen.

Allen Autorinnen wie Autoren sei von Herzen bedankt für den Abdruck ihrer Beiträge, wie auch unserem Fotografen Wolfgang Schmidt, dessen Fotografien für diesen Band neu ausgesucht wurden. Sie mögen mit Interesse und Neigung gelesen und betrachtet werden und ein Gefühl für den Reichtum des Lebens vertiefen.



IM GARTEN DER ZEIT 1.

Der Garten ist ein begrenzter Ort im Freien, von Menschen gestaltet und gepflegt: ein Ort von Kultur und Natur. Aber anders als bei einer Landschaft, die auch von Menschen geprägt sein kann, ist der Garten viel stärker begrenzt, ja meist umzäunt, ummauert oder von einer Hecke umhegt. Vielleicht hat es nie einen Garten gegeben, außer dem Garten Eden, der nicht in wenigen Stunden «umgehbar» war. Könnte es aber solche «Orte» der Zeit geben, so wie es in der Natur Gärten als Orte des lieblichen Zusammenwirkens mit dem Menschen gibt? In einen Garten können wir immer wieder eintreten und darin spazieren gehen. Zu einer Epoche unseres Lebens oder der Geschichte können wir nicht in gleicher Weise zurückkehren und uns darin bewegen. Unser Leben auf dieser Erde ist geprägt durch Unwiederbringliches. «Alle Morgen der Welt sind ohne Wiederkehr», wie es in dem von Musik so durchzogenen Roman des französischen Schriftstellers Pascal Quinard heißt. Vor Jahren erschien die deutsche Ausgabe des Buches wie auch der Film mit Gérard Depardieu unter dem Titel Die siebente Saite, weil er von einem Gambenspieler, Monsieur de Sainte-Colombe, aus der Barockzeit erzählt, der so tief von Trauer für seine verstorbene Frau erfüllt war, dass er eine noch tiefere, siebente Saite an seiner Viola da Gamba anbrachte, um seinen Schmerz in der Musik noch stärker zum Ausdruck zu bringen und so zu verwandeln. Ein Garten aber ist ein lieblicher Ort:

Im Garten wandelt hohe Mittagszeit,

der Rasen glänzt, die Wipfel schatten breit;

von oben sieht, getaucht in Sonnenschein

und leuchtend Blau, der alte Dom herein.

So beschrieb es einmal der Dichter Emanuel Geibel in der ersten Strophe seines Gedichtes Mittagszauber. Es breitet sich nicht nur im «Sonnenschein und leuchtend Blau» Himmlisches in diesem Garten aus, sondern durch den alten Dom ragt auch etwas von einer anderen Zeit herein. Raum und Zeit verdichten sich noch inniglicher in der Anwesenheit eines vertrauten, geliebten Menschen:

Am Birnbaum sitzt mein Töchterchen im Gras,

die Märchen liest sie, die als Kind ich las;

ihr Antlitz glüht, es ziehn durch ihren Sinn

Schneewittchen, Däumling, Schlangenkönigin.

Nun öffnet sich der Garten für die ganze Welt der Märchen – im Antlitz der Tochter spürt der Dichter, wie sie die mannigfaltigen Märchenabenteuer durchlebt, erleidet und besiegt. Die Zeit scheint stillzustehen, macht sich aber durch Mensch und Natur doch noch in besonderer Weise bemerkbar:

Kein Laut von außen stört; ’s ist Feiertag –

nur dann und wann vom Turm ein Glockenschlag!

Nur dann und wann der mattgedämpfte Schall

im hohen Gras von eines Apfels Fall!

Wo aber befindet sich nun der am 17. Oktober 1815 in Lübeck geborene Dichter, der am 6. April 1884 nach verschiedenen Aufenthalten in Berlin, Athen und München ebenfalls in Lübeck starb und dessen Gedichte zu den meistvertonten deutschsprachigen Dichtungen gehören? Für ihn weitet sich dieser Aufenthalt in einem Garten zu einer Reise in die Zeit:

Da kommt auf mich ein Dämmern wunderbar,

gleich wie im Traum verschmilzt, was ist und war:

die Seele löst sich und verliert sich weit

ins Märchenreich der eignen Kinderzeit.

Es ist die verflossene Zeit seiner eigenen Kindheit, die ihm im Garten wieder so intensiv bewusst wird, so wie wir ganz mit dem Geschehen eines Traums verschmelzen können. Und wenn wir uns die Frage stellen: In welcher Welt wollen wir leben? – dann müssen wir, auf unser Herz horchend wie auf den Glockenschlag vom Turm oder den dumpfen Schall des ins Gras fallenden Apfels, erwidern: Ja, auch in einer solchen Welt möchte ich leben, in der die Vergangenheit, wie alles Zeitliche, nicht gänzlich unwiederbringlich bleibt, in der die Zeit, wenn auch nur für Momente, wie still stehen bleibt und wir uns darin wie im lieblichen Garten aufhalten können.

 

In der Musik können wir dies seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts, aber im Laufe des 20. Jahrhunderts in besonderem Maße tun. Noch nie war es den Menschen in solchem Umfang möglich, die Musik so verschiedener Zeiten und Kulturen zu hören wie in unserer Zeit. In früheren Epochen hörten die Menschen, wenn überhaupt, nur die Musik ihrer eigenen Zeit und Kultur. Heute können wir uns in die Gefühlswelt des Barock, der Klassik, der Romantik, der Moderne, aber auch der Renaissance sowie aller Arten von Musikrichtungen wie Jazz, Pop, Rock, Punk oder wie sie alle heißen und ganz anderer Kulturen vertiefen. Vielleicht kann man sogar sagen: Wie Christoph Columbus und andere Weltentdecker den Erdenraum als Ganzes für alle Menschen erschlossen haben, so erschließen wir uns die Zeit durch die Musik. Man braucht nur ein altes Lied aus der eigenen Jugend zu hören, Lay Lady Lay etwa von Bob Dylan, um sich gleich in diese Zeit zurückversetzt zu fühlen.

Vielleicht ist es die Kunst und das künstlerische Moment überhaupt in allem unserem Tun als Menschen, die das Unerbittliche der vorbeieilenden Zeit aufheben und für uns bewohnbar machen, sodass wir uns darin beheimatet fühlen wie im lieblichen Garten – im Garten der Zeit.


VND Gott der HERR pflantzet einen Garten in Eden / gegen dem morgen / vnd setzet den Menschen drein / den er gemacht hatte.

Vnd Gott der HERR lies auffwachsen aus der Erden allerley Bewme / lüstig an zusehen / vnd gut zu essen / Vnd den Bawm des Lebens mitten im Garten / vnd den Bawm des Erkentnis gutes vnd böses.

Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht. D. Martin Luther, 1545.

Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe.

Hrsg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke.

Rogner & Bernhard, München 1972. Mose, I. Buch C. II, Verse 8 – 9.

WAS IST ZEIT?

Vom Umgang mit einer unbekannten Größe

von Valentin Wember

«Ich habe keine Zeit.» – Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz schon gesagt habe. Sicher unzählige Male und in verschiedenen Variationen:

«Ich habe jetzt gerade keine Zeit.»

«Ich habe dafür keine Zeit.»

«Mir hat die Zeit nicht mehr gereicht.»

«Ich würde es gerne machen, aber mir fehlt leider die Zeit.»

«Die Zeit war viel zu knapp.»

«Ich hätte gern mehr Zeit für dieses und jenes.»

«Diese Aufgabe raubt mir meine wenige Zeit.»

«Ich habe leider Zeit verschwendet.»

Die Zeit scheint in meiner Vorstellungsweise etwas zu sein, was man haben kann, was aber knapp ist. Eine Art unsichtbarer Rohstoff, von dem aber nicht genug vorhanden ist.

Der Arzt Olaf Dekkers hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Zeit dann ein Rohstoff wäre, der außerordentlich demokratisch über die Welt verteilt sei. Jeder Mensch habe davon gleich viel, nämlich 24 Stunden pro Tag. Von welchem anderen Rohstoff könnte man schon sagen, dass er an alle Menschen auf der Erde derart gleich verteilt sei?

Das klingt amüsant, aber es stimmt natürlich nicht ganz. Erstens werden nicht alle Menschen gleich alt, und zweitens scheinen die Menschen den Stoff «Zeit» unterschiedlich stark zu benötigen. Die einen haben davon reichlich, die anderen ständig zu wenig. Vor allem wir Menschen in den hoch industrialisierten Staaten scheinen ständig zu wenig Zeit zu haben. Jedenfalls reichen vielen Menschen die zugeteilten 24 Stunden pro Tag oft nicht. Sie hätten gern mehr. In den Industriestaaten richten sich deshalb zentrale Anstrengungen darauf, Zeit zu sparen. Man will mehr oder weniger ökonomisch und effektiv mit der Zeit umgehen. Eins der Hauptmittel zu diesem Zweck ist die Geschwindigkeit. Je schneller etwas geht, desto mehr Zeit spart man. Das klingt zumindest logisch und so versuchen wir auch Zeit zu sparen, wo es irgend geht.

Eine Reise von Stuttgart nach Hamburg dauerte zur Zeit Goethes mehrere Tage. Mit dem ICE geht es heute in fünf Stunden. Haben wir deshalb Zeit gespart? Eigentlich müsste es so sein. Aber dann müssten wir viel mehr Zeit haben als Goethe. Merkwüdiger Weise stimmt das nicht. Es gibt in den Briefen und Tagebüchern Goethes keine Äußerung darüber, dass er keine Zeit gehabt hätte. Im Gegenteil. Sogar die Postkutsche war Goethe viel zu schnell. Er hätte gerne ruhiger die Landschaft und die Vegetation in ihrem Wandel beobachtet. Am liebsten ging er daher zu Fuß und nicht wenige seiner Gedichte sind dabei entstanden.

Auch bei Hölderlin, einem anderen Dichter der Goethezeit, ist es ähnlich. Ob es sich um die Strecke Nürtingen – Bordeaux oder Karlsruhe – Frankfurt handelte, Hölderlin ging zu Fuß und das nicht schlecht. Laut seinem Biographen Pierre Bertaux konnte er in Extremfällen 80 Kilometer an einem Tag gehen.

Was für eine Zeitverschwendung, würde man heute sagen. Und: Wie gut, dass wir die modernen Techniken mit ihrem enormen Geschwindigkeiten haben, die uns helfen, die Zeit zu sparen. Und trotzdem: irgend etwas an unserer modernen Rechnung stimmt nicht.

Im Nachrichtenmagazin Spiegel konnte man 1998 nachlesen, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit der Autos im Stadtverkehr in einer Großstadt ernüchternde 16 Stundenkilometer beträgt und sich damit dem Tempo nähert, «das schon die Vorfahren erreichten, als sie vor 6000 Jahren das Rad erfanden.» Diesen Wert wird mancher kaum glauben wollen, denn er widerspricht dem subjektiven Gefühl, dass man viel schneller sei. Aber die Wartezeiten an Ampeln und besonders im Stau führen zu diesem Durchschnittswert. Der französische Philosoph Paul Virilio hat wohl nicht zu Unrecht vom «rasenden Stillstand» in unserer Zivilisation gesprochen. Betrügen wir uns also selbst in unserem Geschwindigkeitswahn? Meinen wir nur, dass wir Zeit sparen, während wir in Wirklichkeit – wie durch einen raffinierten Trick – unter dem Strich gar nichts gewonnen haben?

Die wenigsten Menschen würden dem zustimmen. Eine Woche für die Strecke Karlsbad – Italien wie zur Zeit Goethes? Eine Woche für einen Brief von Europa nach Amerika wie noch vor wenigen Jahren?

Selbstverständlich sparen wir demgegenüber heute durch moderne Techniken Zeit. Es fragt sich, um welchen Preis?

Gerade beim Reisen mit sehr hohen Geschwindigkeiten kann man erleben, dass man die «gesparte» Zeit oft nur eingeschränkt nutzen kann.

Wenn man es nicht gewohnt ist, bringt man sich durch die hohe Geschwindigkeit mit den eigenen Lebenskräften – zwar nicht zwingend, aber doch leicht – in eine solche Verfassung, dass es mehrere Tage dauern kann, bis man wieder einigermaßen normal arbeiten kann. Beim Fliegen kennt man die verwandte Erfahrung des Jetlags.

Es scheint so zu sein, dass die Seele und die Lebenskräfte des Menschen sich nicht völlig durch die Geschwindigkeit überlisten lassen. Sie brauchen ihre eigene Zeit, bis auch sie am neuen Ort angekommen sind. Das Gehen bleibt hingegen immer im Maß des Menschen. Manchmal frage ich mich deshalb, ob viele Menschen früherer Zeiten auch dadurch kulturell so außerordentlich produktiv waren, weil sie so viel gegangen sind. Das Gehen wirkt erwiesener Maßen harmonisierend und belebend auf den menschlichen Geist. Ist also der Verlust an schöpferischer Lebenskraft der gezahlte Preis für die Geschwindigkeit?

Vielleicht. Doch was nützt diese Überlegung? Unter den heutigen Verhältnissen kann und will kaum jemand anfangen, wie im 18. Jahrhundert alle Entfernungen zu Fuß oder Pferd zurückzulegen. Wir leben in einer Zeit, in der die Geschwindigkeit wie ein Gott angebetet wird. Und wir sind offenbar bereit diesem Gott «Geschwindigkeit» den Preis zu Füßen zu legen, den er fordert.

Eine andere Methode des Zeitsparens ist heute die möglichst effektive Nutzung der Zeit, das sogenannte Zeitmanagement. Für teures Geld können die Leiter von Unternehmen in Kursen lernen, wie man die Zeit gut organisiert. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, denn es ist natürlich sinnvoll, sich die Zeit klug einzuteilen. Aber an dem grundsätzlichen Verhältnis zur Zeit ändern diese Techniken nichts. Auch hier wird die Zeit als wertvoller Rohstoff vorgestellt, den man haben kann und mit dem man gewinnbringend umgehen sollte.

Aber stimmt die herkömmliche Vorstellung von der Zeit? Ist die Zeit wirklich eine Art Gefäß, in dem sich die Vorgänge abspielen, wobei jeder Mensch aus diesem Gefäß eine bestimmte Menge zugeteilt bekommt? Und: Kann man Zeit haben?

Der Psychologe Erich Fromm hat in seinem berühmten Buch Haben und Sein beschrieben, dass wir in einer Kultur des Habens leben und nicht in einer Kultur des Seins. Wir wollen besitzen und zwar als Ersatz dafür, dass wir noch gar nicht wirklich existieren. Wir sind noch nicht. Und damit meint Fromm, dass wir noch nicht der höhere, selbstlose, schöpferisch schenkende Mensch sind, zu dem wir die Veranlagung in uns tragen.

Die moderne Grundeinstellung des Haben-Wollens, die Fromm beschrieben hat, hat sich konsequenter Weise auch auf unser Verhältnis zur Zeit erstreckt. Wir denken, dass wir die Zeit haben könnten.

Haben will aber immer nur das Ego des Menschen, während das höhere Wesen des Menschen nichts haben will, sondern dadurch ist, dass es schöpferisch tätig ist.

Versucht man also durch Zeitmanagement Zeit zu sparen, so behält man nicht nur weiterhin die Grundhaltung des Habens gegenüber der Zeit, man verstärkt sie sogar. Dadurch wird oft nach einigen Anfangserfolgen in der Zeitorganisation das Verhältnis zur Zeit noch schlimmer.

Zu einer wirklichen Veränderung kommt man wohl nur, wenn man lernt, anders über das Wesen der Zeit zu denken. Dann kann sich auch unser Verhältnis zur Zeit ändern.


NORD UND SÜD

Zu spät erreichten wir der Gärten Garten

in jenem Schlaf, von dem kein dritter weiß.

Im Ölzweig wollte ich den Schnee erwarten,

im Mandelbaum den Regen und das Eis.

Wie aber soll die Palme es verwinden,

dass du den Wall aus warmen Lauben schleifst,

wie soll ihr Blatt sich in den Nebel finden,

wenn du die Wetterkleider überstreifst?

Bedenk, der Regen machte dich befangen,

als ich den offnen Fächer zu dir trug.

Du schlugst ihn zu. Dir ist die Zeit entgangen,

seit ich mich aufhob mit dem Vogelzug.

Ingeborg Bachmann

* 25. Juni 1926 in Klagenfurt

† 17. Oktober 1973 in Rom

Sämtliche Gedichte

Serie Piper, 2002.

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