Akrons Crowley Tarot Führer

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VI – Die Liebenden


Die Liebenden verkörpern nicht nur das Selbstbild in der Beziehung, sondern auch das Suchbild, das also, was man im anderen in Vertretung für sich selbst anstrebt.

Adam und Eva (Eros), Kain und Abel (Die Brüder1), Eva und die Schlange

Astrologie: Venus/​Mars – auf einer höheren Ebene auch Sonne/​Mond

I Ging: 31 Hiân – Die Werbung

Runen:Kaunaz/​Kan(Feuer)und Wunjo(Licht). Kan, die sechste Rune, drückt die Potenz oder die aktive Seite der Liebenden aus, das Einbinden der Gegensätze in der Vereinigung, während Wunjo den ruhenden Mittelpunkt zwischen gegensätzlichen Bewegungen anzeigt, Harmonie und Freude, und damit das Ende disharmonischer Unausgewogenheit.

Licht: Anziehung, Bekenntnis und freie Entscheidung, Zusammenschluss und Vereinigung der Gegensätze (die Selbstverwirklichung im anderen)

Schatten: Unerreichbare Liebesideale, sexuelle Frustration, Entscheidungsschwäche, Selbstaufgabe

Farben: Orange, Blassmauve, neues gelbes Leder, rötliches Grau mit Mauvestich (Liber 777)

Tierkreis: Zwillinge, die mit dem gegenüberliegenden Schützen – XIV – Kunst – korrespondieren (Buch Thoth). Hier bezieht sich Crowley auf die paarweise angeordnete Darstellung der Kartensymbole, die dadurch einen doppelten oder zwillingshaften Charakter bekommen (hinter jeder Idee verbirgt sich ein Gegensatz).

Kurzbeschreibung: Die Liebenden gehören mit dem Teufel und dem Jüngsten Gericht zu den drei Trümpfen im Thoth Tarot, die von der überlieferten Darstellung am meisten abweichen. Der Grund dazu liegt in dem der Karte unterlegten alchemistischen Konzept. Ein schwarzer König wird mit einer weißen Königin von einem mächtigen Zauberer vermählt. Ihr zukünftiges Kind (Befruchtung in XI – Lust) wird durch das Orphische Ei symbolisiert. Beim Akt der Trauung werden sie von zwei Kindern assistiert. Das Hauptaugenmerk liegt in der Darstellung von Dualität und Unterschiedlichkeit, die stets Ausgangspunkt für Vereinigung sind. Sie sind aber genauso Ausdruck der Entscheidungsschwäche und der Widersprüche mit sich selbst. Dabei sind sie in ihrer Symbolträchtigkeit äußerst facettenreich. Sinn und Leitmotiv liegen darin, aus allen inneren Konflikten ein gutes Ergebnis zu erzielen und die Zwei in eine Einheit zu verwandeln. Die Liebenden sind dabei der erste Teil der Erkenntnis: = Solve oder die Analyse. Die Synthese oder Teil 2 (… et coagula) folgt in Atu XIV. Dort werden wir sehen, wie sich die ganzen Hintergründe vermischen und umkehren. Deshalb sollten sie immer in Verbindung mit ihrem »Zwilling« analysiert werden.

Analyse

Die Liebenden – besser noch: Die Sehnsucht der Liebenden – sind ein Ausdruck des gegenseitigen Verlangens zwischen den Menschen: der paradiesische Vorhof der körperlichen Anziehung oder die Flammen der Sehnsucht nach der Vereinigung zwischen Mann und Frau. Sie drücken die Anziehung der Gegensätze aus, das Sehnen, das Verlangen zwischen den Geschlechtern, um die verlorene Einheit wiederherzustellen – also genau das, was der Pfarrer den Kindern mit anderen Worten verkündet: den Zustand vor der Vertreibung aus dem Paradies.

Auf einer anderen Ebene verkörpert die Karte auch die Folgen nach dem Sündenfall: die Darstellung von Dualität und Unterscheidung, die stets Ausgangspunkt für Vereinigung ist. Diese Dualität, die sich in der Anziehung der Gegensätze äußert, wird durch die Liebe der Liebenden erlöst.1 In paradiesischer Verschmelzung wird aus den beiden Teilen eins, und indem sie ihre Identität um ihre Ebenbilder erweitern, verbinden sie sich in Leben und Tod und wachsen in die Ewigkeit hinein. Gerade diese Unerfahrenheit erklärt die Reinheit ihrer Absichten und die Unschuld um die Wunde, die im Leben brennt (das Christentum nennt es Erbsünde). Das gilt es im Verlauf der Reise zu erfahren: den Schmerz des Getrenntseins von dem, was jedem von ihnen zur Vollständigkeit fehlt, denn es geht um das durch den Griff nach dem Apfel verlorene Paradies, das durch die Verschmelzung auf körperlicher Ebene zumindest für Sekundenbruchteile wieder erlebt werden kann. Es ist der Lockruf der Götter, das Streben nach der menschlichen Form, das vom Funken der Fortpflanzung getragen wird. Dadurch weiten sich die Liebenden ins Überpersönliche, ja Kosmische aus, denn ihre Verschmelzung im Schoß des Todes ist deckungsgleich mit dem Augenblick der Zeugung, der das Leben unter der Voraussetzung des Sterbens ständig wieder erweckt. Deshalb zieht die Essenz der Karte auch mehr in die Richtung Erlösung oder psychische Verwandlung und verströmt den Geist der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz.2

An den oberen Rändern des Bildes finden wir zwei nackte Frauengestalten, die die ursprüngliche und die gedrosselte Libido andeuten: Die wilde Lilith und die gezähmte Eva. Eva verkörpert die weibliche Hingabe und Sehnsucht nach Vereinigung bei gleichzeitiger christlicher Unterwerfung, Lilith den diesem Zustand entgegengesetzten Faktor der Frustration aus emotionalen Verletzungen und des seelischen Schmerzes bei gleichzeitiger sexueller Freiheit. Das verdoppelnde Zwillingsmotiv wird auch im Brautpaar, den Kindern und den Tieren illustriert. Die beiden Kinder stehen für den Narren und den Magus, das Brautpaar für Kaiser und Kaiserin und der Priester und das Ei schließlich für den Hierophanten und die Hohepriesterin. Auf dieser Karte treten die Figuren zum ersten Mal in Paaren auf, während die vorhergehenden Trümpfe (0 – V) auf einzelne Personen ausgerichtet waren. Man könnte jetzt glauben, dass die Bedeutung der Liebenden darin läge, die Vereinigung der (zuvor geschiedenen) Gegensätze zu symbolisieren. Aber weit gefehlt – so weit sind wir noch lange nicht. Grundsätzlich bedürfen Gegensätze schon einer Erklärung, denn sie sind ja nicht so ohne weiteres in den Raum gestellt; sie mussten sich durch jahrtausendelange Differenzierung erst mühsam entwickeln. Die griechische Überlieferung spricht von einer hermaphroditischen Kugel, die O und P paradiesisch in sich vereinigte, bis sie von den neidischen Schöpfern in zwei Hälften geteilt wurde, die seither, ohne sich je wieder miteinander verbinden zu können, ständig auf der Suche nacheinander sind.

Auf der Karte wird dieser Umstand dadurch illustriert, dass die Vertreter der Liebenden in heller und dunkler Hautfarbe dargestellt sind. In der Mitte sehen wir den schwarzen König, der sich mit der weißen Königin vereint. Beide sind in herrschaftliche Gewänder gehüllt. Die Kleider des Bräutigams korrespondieren mit dem Kaiser (Schlangenmuster), die der Braut mit der Kaiserin (Bienenmuster), ein verbindendes Symbol, das darauf hinweist, dass das Suchbild des die Seele »ergänzenden« Menschen im Spiegelbild des Partners verankert werden will. Sie reichen sich die Hände und sind bereit und willens, sich zu vereinen.2 Andererseits ist es so, dass die Körper der beiden Liebenden mitsamt den Armen zur Ausrichtung der Köpfe etwas verdreht erscheinen. Die Leiber stehen sich gegenüber, aber die Köpfe sind zur Seite gegen eine riesige, mit einer Kutte und einer Kapuze gewandete Gestalt gedreht, so als wollten sie uns sagen, dass sie weniger den Partner, sondern mehr das Bild des anderen im Visier haben, das ihnen das mächtige Unbewusste suggeriert. Denn nur dieses weiß, dass die normale Liebe nicht wirklich befriedigen kann. Der weise Begleiter steht in ganz realem Sinne auch als Vermittler zwischen Bewusstem und Unbewusstem, für das Motiv der Verwandlung und Erlösung jenseits von Gut und Böse. Nur die mystische Vereinigung, die heilige Hochzeit, trägt die Voraussetzung in sich, die Menschen über sich hinaus- und damit ins Liebesparadies zu führen.3

Das bedeutet, in der Karte drückt sich die Anziehung der Gegensätze aus oder das Verlangen nach einem ergänzenden Partner, der uns die verlorene Einheit wiederbringen und uns zur Ganzheit zurückführen soll. Das bedeutet aber auch, dass wir – wenn wir erkennen, dass die innere Unvollständigkeit immer dazu neigt, sich mit den übertragenen Bildern aufzufüllen – zu tiefen, uns selbst überwältigenden Erfahrungen gelangen können. Die Wechselständigkeit oder Über-Kreuz-Verbindung der beiden Protagonisten (schwarzer König mit Goldkrone, Silberstab und weißem Knaben, weiße Königin mit Silberkrone, goldener Schale und schwarzem Buben) ist ein Zeichen für das Aussöhnen von Konflikten und die Vereinigung von Gegensätzen, da das Königspaar die bewussten Kräfte, die Kinder jedoch die unbewussten Energien ausdrücken.4 Interessant ist auch: Die unbewussten Kräfte in den Kindern (versinnbildlicht durch Keule und Rosen) reichen sich im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht die Hände, sondern sie verbinden sich über die bewusste Vereinigung des Königpaars, und erst durch die vierfache Vereinigung in der Hochzeit (Mann und Frau, Mann und Anima, Frau und Animus, Anima und Animus) geschieht die alchemistische Verwandlung, die durch das Orphische Ei mit der Schlange angezeigt wird. Dieses Ei repräsentiert die Essenz aller Lebensformen, die Grundlage der heiligen Hochzeit und dient wiederum als Zeichen für den Zugang zur Ganzheit durch Vereinigung der Gegensätze. Vielleicht versteht Crowley darunter nicht die ursprüngliche Einheit der unbewussten Natur, sondern die differenzierte Einheit, die auf den römischen Dichter Ovid zurückgeht, zu der die beiden Hälften, die zuerst getrennt wurden, als der Mensch sich durch sein Bewusstsein von den Tieren zu unterscheiden begann, nach langer und schwieriger Suche nach dem jeweils anderen Teil in der menschlichen Psyche gelangen. Darin verbinden sich die Polaritäten der Geschlechter zu einer einzigen Gestalt, und das entspricht auf der geistigen Ebene dem Transzendieren der Gegensätze der Erscheinungswelt. Das heißt: Jeder der beiden gegengeschlechtlichen Aspekte des Paars, die der Partner als Animus oder Anima reflektiert, entbrennt in einer Liebesflamme zum anderen, die genauso heftig ist wie das Bedürfnis, selbst mit diesem Aspekt (in sich) in Verbindung zu treten.3

 

Der rote Löwe und der weiße Adler stehen für die bewussten männlichen und weiblichen Sexualkräfte, Symbole des männlichen und weiblichen Dualitätsprinzips wie Sonne und Mond, Feuer und Wasser oder Luft und Erde. Crowley bringt sie mit der Alchemie in Verbindung: Sie treten in der Chemie als Säure und Lauge in Erscheinung. In dieser Erscheinungsform repräsentiert die verhüllte Gestalt das Proteische Element des Kohlestoffs, dem Ursprung allen organischen Lebens.4 Im Verlauf der alchemistischen Operation werden sie sich in Farbe und Bewegungsausdruck aber noch entscheidend verändern, und in der Karte Kunst sind sie auch nicht mehr so statisch, sondern in Haltung und Gebärde ziemlich aktiv: Der rote Löwe ist dann weiß geworden und der weiße Adler rot. Darin liegt auch V.I. T.R.I.O.L. verborgen – die Formel zur Öffnung des Orphischen Eis.5 Ein versteckter Hinweis findet sich auch im letzten Detail. Das Gewölbe des sakralen Raumes, in dem die Hochzeit stattfindet, wird von Schwertern dargestellt. Der Meister verweist auf den hebräischen Buchstaben & Zajin, der Schwert bedeutet, und mit jedem Akt der Teilung – aus Eins mach Zwei – in Beziehung steht, denn Liebende sind im Tarot wie im tatsächlichen Leben immer zu zweit: Zwei, die sich entschieden haben, ihre persönliche Identität einer verbindenden Zweisamkeit zu opfern, nachdem sie von Cupidos Pfeil 5 getroffen wurden.

Weiterführende Bemerkungen

1 Denn ich bin geteilt um der Liebe willen, für die Möglichkeit der Vereinigung (Liber Legis I/​29). Ich bin das Nicht-Eine, denn alles, was ich bin, ist das unvollkommene Abbild des Vollkommenen; jede besondere Erscheinung muss in der Umarmung ihres Gegenstückes verschwinden, jede Form sich erfüllen, indem sie ihren ausgeglichenen Gegensatz findet und ihr Bedürfnis, das Absolute zu sein, dadurch befriedigt, dass sie zur Vernichtung kommt.

Liber V vel Reguli

2 Auf der Schattenebene kann das manchmal zu einer Abhängigkeit von unseren inneren Projektionen führen, wenn sie uns im Spiegel äußerer Personen im Leben begegnen. Oft stürzen wir uns Hals über Kopf in die Gewässer der Sehnsucht nach der sexuellen Vereinigung und landen im unbefriedigenden Seelenfeuer, wenn wir das verlorene Gefühl der Einheit durch die Verschmelzung mit dem Partner zu erzwingen suchen. Das Gefühl der Liebe kann aber auch auf geistiger Ebene stattfinden. Wenn die beiden Liebenden die Weisheit im Höheren suchen, um den essenziellen Gehalt ihrer Liebe zu finden, versuchen sie sich an die Frequenz ihrer geistigen Sehnsucht heranzuziehen und in die Sphäre des anderen einzudringen, um beide Polaritäten, Geist und Liebe, miteinander zu verbinden.

Somit können wir Crowley, wenn er schreibt Um die Arme des Eremiten liegt eine Rolle, die das Wort, den Logos oder die Gesetze darstellt, die die geistige Welt zusammenhalten, die wir uns selbst geschaffen haben6, erwidern,

dass die Liebe auch eine Energie darstellt, die in die eigene Triebstruktur eingerollt ist und gleichzeitig in die Sphäre des anderen eingreift, indem sie das Bild der Anziehung im Pol des Angezogenen zu verankern sucht.


3 Der Priester, der die beiden traut, ist niemand anderer als der Eremit. C. G. Jung würde sagen, er verkörpert das Selbst. Seine segnenden Hände liegen auf den Positionen der göttlichen Eltern: Chokmah und Binah. Er steht für die unbewussten, höheren Teile in ihnen selbst – er stellt sozusagen eine innere Erfahrung dar, die jeder kennt, denn die meisten Menschen kennen das Gefühl, dass etwas Größeres sie führt, auf sie einwirkt und sie durchfließt, und trotzdem auch nur ein Teil in ihnen selbst ist. Die Gesetzesrolle, die sich um seine Arme schlängelt, ist ein Hinweis dafür, dass das, was die beiden mental wahrnehmen, das wiedergibt, was dem Sinn seiner höheren Botschaft entspricht. Es ist die Hochzeitsurkunde, als Zeichen der Ewigkeit zu einer Möbius-Schleife verdreht.

Er hat aber auch noch eine andere Seite. Crowley schreibt: Er selbst ist eine Form des Gottes Merkur, der im Atu I beschrieben wurde; er ist vollständig unter seinem Gewand verborgen, als ob er andeuten wollte, dass der Urgrund aller Dinge in einem Bereich jenseits der Manifestation und des Intellekts liegt7, was für eine gewisse Unsicherheit sorgt, da der zwitterhafte Merkur nicht nur als Weiser, göttliches Kind oder Hermaphrodit erscheint, der Erneuerung und Verjüngung manifestiert, sondern in kalkulierender Weise genauso für das Sharholder-value-Denken oder in seiner ambivalenten Art auch für gegensätzliche Persönlichkeitsteile in der Psyche steht.


4 Das ganze Ensemble ist kontrapunktisch miteinander verknüpft und trotzdem sind alle Figuren auch selbstständig: Der weiße Junge vor dem schwarzen König hält mit der weißen Königin zusammen den goldenen Kelch (Öffnung und Hingabe), und der schwarze Knabe vor der weißen Königin hält zusammen mit dem König den silbernen Speer (Durchsetzung und Zeugungskraft). Dies ist vielleicht deshalb so, weil es ein wesentliches Merkmal der heiligen Hochzeit ist, dass der Mann sich nicht einfach nur mit seiner Anima verbindet oder umgekehrt, sondern sie gleichzeitig auch als ein Wesen sieht, das in höherem Maße von seinem bewussten Ich verschieden ist, als er je zuvor erkannt hat.


5 Über der ganzen Szene richtet Cupido oder Eros am oberen Bildrand mit verbundenen Augen seinen Pfeil ins Leere. Trotzdem hat dieser Akt eine tiefere Bedeutung. Der abwärtsgerichtete Pfeil8 wird vom höchsten Punkt des Jod im JHVH geschossen und der Winkel der Schussrichtung entspricht Pfad 11 = Aleph. Das Geschoss aus Amors Köcher (wir sehen ganz fein darin das Wort Thelema eingeritzt, Sinnbild des höheren Willens) verwandelt sich in ein Zeichen der Liebe unter Willen, denn er fliegt direkt von Kether nach Chokmah und aktiviert damit die göttliche Liebe oder das menschliche Bild der Liebe Gottes (Jod in Chokmah). Das zeigt, dass die Kraft, die die Menschen sexuell stimuliert, mit der Sehnsucht nach dem Paradies identisch ist.

Andere Verbindungen

– Psychologische Zusammenhänge –


Wenn die Lust der Geschlechtsakt ist, dann sind die Liebenden der Kuss: das erste Andocken auf der Brücke der Sehnsucht zur Vereinigung zwischen den Geschlechtern. Oder die Illusion der Einheit in der Hölle des Kollektiven nach der Vertreibung aus dem Garten Eden. Die Liebe steht für das universelle Streben der Vielheit nach der Einheit auf der Ebene der Seele (Liebende), des Leibes (Lust) und des Geistes (Kunst), und die Karte zeigt den ersten Schritt, den Fall aus der ursprünglichen Einheit zu überwinden und das verlorene Paradies wieder zu finden. Somit symbolisiert Atu VI die verschlingende Hingabe, die das verlorene Gefühl der Ganzheit durch die Liebe wieder zu erreichen verspricht.


Die Pubertät des Narren (Befreiung von den Eltern durch die Verbindung von Animus und Anima)

An der Schwelle zur persönlichen Entwicklung und Freiheit ist es nun die Aufgabe des Menschen, sich allmählich an seine eigene Schuhgröße heranzutasten. Es geht darum, seine gegengeschlechtlichen Seelenteile zu erfühlen und sich mit dem erklärten Ziel, Animus und Anima miteinander zu vermählen (die Liebenden miteinander zu verbinden), zu befassen, nachdem er sich mit den Elternbildern der ersten Karten auseinandergesetzt hat. Hat er sich von den hinderlichen Elementen der Tradition und der geistigen Autorität, der Last von Recht und Ordnung, von der noch weit schwereren Last des teilweise unbewussten Über-Ichs mit seinen verlogenen Maskierungen als Gewissen und Moralität, erstmals befreit, muss er nun beweisen, dass er sich in der Welt allein zurecht finden kann. Allmählich wird er von den Flammen der Libido erfasst, die nur für denjenigen gefährlich werden, der vor dem Erwachsenwerden davonlaufen will – denn die Pubertät ist voll im Gange. Je schneller er den Weg in die eigene Sexualität akzeptiert, desto leichter wird ihm die Entscheidung fallen. Wenn nichts schief geht, besteigt er in der nächsten Karte den magischen Wagen Agape und Thelema, Liebe und Willen, der ihn in seiner Entwicklung weiterbringt.

Deutungen

Im beruflichen Erleben liegt der Schwerpunkt der Karte auf der Entscheidungsebene, im Bereich, wie wir uns nach Abwägung aller gegebenen Fakten in Übereinstimmung mit unserem eigenen Empfinden zu verhalten haben (denn dem Archetyp dieses Bildes liegt ein eminentes Streben nach Verschmelzung mit den Plänen der Umwelt zugrunde, weil alles, was wir suchen, die Realisierung der Wünsche ist, die die anderen träumen). Schließlich beherrscht keiner der Trümpfe den Balanceakt zwischen Realität und Unbewusstem so perfekt wie diese Karte: den Doppelsalto, so unbeschwert und heiter zwischen Ja und Nein, Machen und Lassen tanzen zu können. Das gibt auch Goethes angestaubter Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust-Poesie wieder ein bisschen »multipersonalen« Auftrieb, denn meist sind es mehr als zwei Persönlichkeitsteile, die sich nicht entscheiden können, welche der unzähligen eventuellen Gewinne sie einer Entscheidung opfern wollen. Dann sitzen wir zwischen den Stühlen und wissen nicht, nach welcher Seite wir uns orientieren sollen. Es ist klar, dass wir nicht die ganze Bandbreite unserer Entscheidungsmöglichkeiten ausschöpfen können, in der trügerischen Hoffnung, irgendwann alle unsere Gelegenheiten in einer einzigen und universalen Geste zu krönen; es ist aber auch nicht so, dass wir mit den Liebenden nicht trotzdem zu glücklichen Entscheidungen kommen können, wenn wir lernen, Unwichtiges loszulassen und nicht an jedem »Hirnfurz« kleben zu bleiben, um das, was wir wirklich begehren, zu erhalten.

In Beziehungsfragen setzen wir uns lieber mit den Problemen der anderen auseinander, um die Liebe sozusagen aus der Entfernung über das Harmoniestreben im anderen zu leben, statt uns um unsere eigenen Gefühle zu kümmern. Unser diplomatisches Gespür, uns in den Mittelpunkt unseres Interesses zu stellen, sichert uns die Aufmerksamkeit unserer Umwelt. Doch in der Selbsttäuschung verhangen, alles um uns herum harmonisieren zu müssen, sind Liebe und Beziehung in dieser Zeit eher Lostopf-Interessengemeinschaften mit der Möglichkeit der Ziehung des Hauptgewinns als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem anderen. Was wir erfahren wollen, ist nicht die gemeinsame Erfüllung, sondern die Erfüllung der Sehnsucht nach sich selbst. Deshalb macht uns der alte Zauberer mit seinen schützenden Armen auch darauf aufmerksam, dass wir nur neue Erfahrungen machen, wenn wir unsere innere Unvollständigkeit erkennen. Das, was uns fehlt, müssen wir in uns selbst verwirklichen, denn das Verlangen, das verlorene Paradies durch das verzweifelte Verschmelzen mit der Umwelt zu erlangen, kann sich nicht erfüllen, solange wir unsere innere Leere nur durch eine Bindung an die uns »ergänzende« Umwelt verdrängen. In diesen Fällen sind die Liebenden eine Aufforderung, über unser aufgeschäumtes Bild vom anderen zu dessen eigentlichem Wesenskern vorzudringen, statt um jeden Prinzen oder jede Prinzessin immer wieder einen neuen Projektionsbilderrahmen zu zimmern.