Darky Green

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Dann schien ganz plötzlich ein Schatten über das ganze Zimmer zu fallen, ein finsterer Vorhang der Traurigkeit und des drohenden Unheils. Entsetzt schlug ich die Hand vor den Mund. Oh nein – ich hatte etwas vergessen. Irgendetwas ganz Entscheidendes hatte ich übersehen, eine Gefahr hier in diesem Zimmer, die das Leben meines kleinen Schützlings bedrohen würde, wenn ich nicht sofort handelte. Eine schreckliche Katastrophe rollte auf das neue Leben in jener Wiege zu, und ich musste dringend dahinterkommen, was es war, das ich versäumt hatte, um es zu beschützen. Aber ich kam einfach nicht darauf. Ich überprüfte die Tür. Verriegelt. Ich öffnete einen Hängeschrank an der Wand. Nichts darin, was gefährlich werden konnte. Schließlich drehte ich mich wie ein Kreisel in der Mitte des Zimmers und malte mir voller Panik aus, dass binnen Sekunden dieser unerkannte Unheilsbringer sich mein Versäumnis zunutze machen würde. Aber was in aller Welt …?

Ah! Das war es! Das Fenster! Das Fenster! Ich hatte das Fenster hinter dem Sofa vergessen. Es stand weit offen. Aber es war noch Zeit – es war doch sicher noch Zeit. Es würde nur Sekunden dauern, das Zimmer zu durchqueren und das Fenster zu schließen. Also los. Ich musste jetzt wirklich los. Ich musste meinen Fuß heben und nach vorn schwingen, um den ersten Schritt in diese Richtung zu tun. Mein Fuß und mein Bein fühlten sich unendlich schwer an, aber ich hatte keine Wahl. Ich musste dieses Fenster schließen!

Genau in dem Moment, als meine gelähmten Gliedmaßen plötzlich befreit waren, verdunkelte sich das Zimmer und etwas Lebendiges, Geschmeidiges füllte den Fensterrahmen aus, muskulös und schwer, aber gewandt auf dem Fensterbrett balancierend. Im nächsten Moment war die gelb-schwarze, sehnige Gestalt eines Leoparden über der Wiege. Der Kopf schoss hinab und tauchte mit dem Baby wieder auf, das nun nackt in seinen Zähnen hing. Nur einen einzigen, kläglich wimmernden Schrei stieß das hilflose kleine Ding aus. Bis ich am Fenster war und mich hinauslehnte, um in den dunklen Garten zu spähen, war nichts mehr zu sehen. Mit tränennassem Gesicht hob ich die Hand von der Fensterbank und starrte voll Grauen auf das klebrige Rot, das meine Finger und meine Handfläche bedeckte. Ein schreckliches, unverzeihliches Versagen. Ein entsetzlicher Verlust. Es war ein wichtiges Baby gewesen, ein unendlich wichtiges Baby.

Ich glaube, ich muss wohl einen kleinen unterdrückten Aufschrei von mir gegeben haben, als ich aufwachte. Der Leopard und das verlorene Baby waren nur ein beunruhigender Traum gewesen. Aber damit war ich nur aus einem meiner Albträume erwacht. Die drei Männer, die an meinem Tisch saßen, waren keine Albtraumgestalten. Sie waren beunruhigend real. Nichts hatte sich verändert, soweit ich sehen konnte. Keiner der drei schaute mich auch nur an. Was, fragte ich mich, würde wohl geschehen, wenn ich halb aufstehen und zu Mr. Pomade zu meiner Linken »Entschuldigen Sie mich« sagen würde? Würde er dann grunzend seine gewichtige Gestalt emporhieven und seinen Platz räumen, um mich hinaus auf den Gang zu lassen, sodass ich in die verlockende Geborgenheit der zweiten Klasse entkommen und mich in der Ecke einer doppelt verriegelten Toilette verstecken könnte? Vielleicht. Vielleicht würde aber auch der andere, der Lächler, mir folgen, wenn ich das täte, würde gemächlich, ohne jede Hast, durch den Zug schlendern und genau wissen, dass er mich, wo immer ich mich auch verstecken mochte, irgendwie aufspüren und mühelos meine Wirbelsäule verknoten oder mich durch ein Fenster auf die Gleise werfen würde.

Der Schaffner erschien. War das vielleicht meine Chance? Schließlich trug der Mann eine Uniform. War dieser Vertreter der Obrigkeit in der Lage, mich vor dem grauenhaften Schicksal zu erretten, das mich erwartete? Der Schaffner war ein kleiner, schmächtiger, liebenswürdiger Mann, unter dessen Uniformmütze graue Haarbüschel hervorlugten. Er nannte uns alle »Herrschaften«. Der Mann, der mir gegenübersaß, pflückte ein paar Geldscheine aus einem dicken Bündel und bezahlte damit den Aufpreis für die erste Klasse und der Schaffner entschuldigte sich bei ihm dafür, dass er ihm das Wechselgeld nur in Ein-Pfund-Münzen geben konnte. Die Chance, dass dieser freundliche Zeitgenosse den Männern an meinem Tisch mit irgendwelcher Autorität begegnen konnte, war äußerst gering. Meine Hoffnung und meine Willenskraft lösten sich in Nichts auf. Ich sagte nichts und er ging weiter.

Eine Stunde später hatte sich nichts verändert. Du ahnst nicht, was für eine lange Zeit eine Stunde sein kann, Lance. Doch in mir war der Same einer winzigen Hoffnung aufgekeimt. Angenommen, ich hatte alles völlig falsch aufgefasst. Angenommen zum Beispiel, diese Männer waren es nicht gewohnt, erster Klasse zu fahren, hatten es vielleicht noch nie zuvor getan, und waren, als sie mich sahen, aus irgendeinem Grund davon ausgegangen, man müsste erst einmal den Tisch auffüllen, bevor man einen neuen besetzte. Es bestand doch die entfernte Möglichkeit, dass nur so eine lächerliche, simple und harmlose Kleinigkeit hinter alledem steckte. Oder? Die Leute kommen doch ständig auf die komischsten Ideen. Angenommen, ich würde den Mann gegenüber von mir einfach mal ansprechen? Könnte es nicht sein, dass sein Gesicht sich völlig unerwartet zu einem Lächeln verziehen und dass seine Antwort all meine Befürchtungen zerstreuen würde? Wie herrlich, wenn es sich so herausstellen würde! Ich war tatsächlich drauf und dran, etwas zu sagen, aber gerade als ich den Mund aufmachte und das erste Wort meines Satzes aussprechen wollte, fiel mein Blick auf das Lächeln des Mannes, der mir schräg gegenübersaß, und ich wusste mit zweifelsfreier Klarheit, dass zumindest er auf keinen Fall so naiv war.

Oh, Lance, es war nicht nur die Angst, unter der ich litt, während die Reise ihren Lauf nahm. Es war auch die Demütigung. Die müssen doch gewusst haben, dass ich wusste, dass sie wussten, dass es unerhört und grotesk von ihnen war, dass sie mich so bedrängten und mir eine Todesangst einjagten. Und ich ließ es mir gefallen. In meiner Jämmerlichkeit ließ ich mich auf die Fiktion ein, es wäre vollkommen nachvollziehbar, dass ein Trio von Männern, die aussahen wie Mörder, es darauf anlegte, durch dieses seltsame Verhalten mein Herz zum Stillstand zu bringen.

Wenn ich die völlig absurde Natur der Situation zur Sprache brachte, konnte es gut sein, dass ich damit den Gewaltausbruch provozierte, vor dem ich mich so sehr fürchtete und der früher oder später wahrscheinlich sowieso kommen würde. Ich saß reglos da wie festgefroren und sagte gar nichts.

Noch eine halbe Stunde Fahrt lag vor mir. Noch einmal zermarterte ich mir das Hirn und versuchte irgendeinen Hinweis zu finden, warum mir das alles widerfuhr. Es musste doch einen Grund geben. Hatte ich irgendwann in der Vergangenheit jemanden so sehr beleidigt, dass die betreffende Person sich ihre Wut so lange aufgespart hatte, bis sie endlich das Geld oder die Gelegenheit hatte, mich in diese Horrorsituation zu bringen? Ich fragte mich, was es wohl kostete, drei Schläger anzuheuern, um sich auf diese Weise an irgendjemandem zu rächen. Mit einem Kopfschütteln gab ich es auf. Natürlich musste ich im Laufe meines Lebens dem einen oder anderen auf die Füße getreten sein, aber mir fiel niemand ein, der mir den Eindruck vermittelt hatte, so tief verletzt zu sein, dass ich ihm so etwas zutrauen würde.

Der einzige Kandidat, der auch nur annähernd infrage gekommen wäre, war jemand, den ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen hatte und von dem ich genau wusste, dass er nicht mehr am Leben war. Selbst eine alles andere als angenehme Ablenkung war mir in dieser Situation willkommen. Ich schloss wieder meine Augen und dachte zurück an jenen Tag vor siebzehn oder achtzehn Jahren, als ich einen Kampf gewonnen hatte, indem ich mich weigerte zu kämpfen.

Ich habe Dir wahrscheinlich nie bei einem spätabendlichen Gläschen Wein von Philip Waterson erzählt, oder? Kein Wunder, wie Du noch sehen wirst. Er war ein Junge, der im selben Dorf wohnte wie ich. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben lang. Er war ziemlich klein, hatte ein Gesicht wie ein Frettchen und strohblonde Haare, die ihm wahllos in unregelmäßigen Büscheln auf dem Kopf zu stecken schienen, und er zog mehr oder weniger ständig eine finstere Grimasse. Beth dürfte sich an ihn erinnern. Die ganze Zeit in der Grundschule und in der Unterstufe waren wir auf denselben Schulen und in denselben Klassen. Philip war eigentlich nirgendwo beliebt. Meine kleine Clique, mit der ich unterwegs war, wäre jedenfalls nie auf den Gedanken gekommen, ihn mit uns Fußball spielen zu lassen oder ihm vorzuschlagen, mit uns am Samstagvormittag in die Stadt zu gehen, oder ihn zu einem von uns nach Hause zum Tee einzuladen. Ich glaube, das hat ihn ziemlich verbittert, als er heranwuchs, obwohl ich nicht ganz sicher bin, woher ich das weiß. Vielleicht habe ich ihn irgendwann einmal etwas darüber sagen hören.

Jedenfalls, eines Tages, als ich sechzehn oder siebzehn war, saß ich im La Rue, dem Café in der High Street, wo ich mich immer mit meinen Freunden traf, und Philip Waterson war auch da. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, aber ich muss wohl genau in dem Moment, als Philip mit einem frischen Becher Kaffee in der Hand vorbeikam, von dem Tisch aufgestanden sein, an dem ich mit meinen Freunden saß, und mein Arm schwang herum und schlug ihm den Becher aus der Hand. Der Kaffee spritzte über seine Hosen und auf den Boden. Das Blöde war, dass gerade, als ich aufstand, jemand etwas Urkomisches zu mir gesagt hatte, sodass ich genau in dem Moment, als ich seinen Kaffee durch die Luft segeln ließ, laut auflachte. Irgendwie war ich noch nicht ganz mit dem Lachen fertig, als er aufblickte, nachdem er vergeblich versucht hatte, seinen Becher aufzufangen, bevor er zu Boden fiel, und völlig ausrastete.

»Das hast du mit Absicht gemacht!«, brüllte er.

 

»Nein, habe ich nicht«, sagte ich. »Es war ein Versehen.« Dabei achtete ich aber darauf, das Lächeln festzuhalten, das noch von dem Lachen auf meinem Gesicht übrig war, für den Fall, dass es sich noch als nützlich erweisen könnte, wenn Du weißt, was ich meine. Hm, wahrscheinlich weißt Du es nicht. Du warst schon immer netter als ich.

Jedenfalls tat es das. Sich als nützlich erweisen, meine ich. Als er merkte, dass meine Freunde die Angelegenheit auch nicht übermäßig ernst nahmen, quollen Philip die Augen aus dem Kopf. Er baute sich auf den Zehenspitzen zu mehr als voller Größe auf, trat mit seinem wutverzerrten Gesicht dicht an mich heran und spie mir die Worte entgegen:

»Komm mit raus, du Arsch! Oder bist du zu feige zum Kämpfen?«

Ich glaube, ich hätte kein Problem damit gehabt, mich bei ihm zu entschuldigen, die Scherben von seinem Becher aufzusammeln, den Boden aufzuwischen, ihm einen neuen Kaffee zu besorgen und in vernünftigem Rahmen alles andere zu tun, was er verlangt hätte, wenn er nicht sofort so reagiert hätte. Aber meine Freunde waren dabei, verstehst Du, und sie waren gespannt, was sich nun entwickeln würde, und ich war als Jugendlicher nicht gerade ein Ausbund an Selbstbewusstsein. Mir kam es so vor, als hinge die weitere Entwicklung meiner Glaubwürdigkeit von diesem Moment ab. Das ist keine Entschuldigung für das, was ich dann tat, Lance; ich versuche nur zu erklären, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand und beinahe alles getan hätte, um aus dieser Situation herauszukommen, ohne wie ein erbärmlicher Versager dazustehen.

Wie die meisten Leute denke ich am schnellsten, wenn ich in der Klemme sitze. Als ich da stand und diese funkelnden kleinen Augen mich giftig anstarrten, fiel mir ein, wie frustriert und hitzig Philip während der ganzen Grundschule und später immer über seine schulischen Leistungen gewesen war. Wenn er eine Rechenaufgabe nicht herausbekam oder in einem Test nicht mehr wusste, wie ein Wort geschrieben wird, geriet er oft in eine rasende Wut gegen sich selbst und schleuderte seinen Zorn wie Dolche um sich, meistens in die Richtung des Jungen, der neben ihm die Schulbank drückte. Dann bekam er natürlich höchstwahrscheinlich Ärger mit dem Lehrer und kam sich am Ende vor, als würde er doppelt bestraft. Er fühlte sich wie ein Schwachkopf, weißt Du, und es machte ihn wütend, sich wie ein Schwachkopf zu fühlen.

Ich war ein ganzes Stück größer als Philip Waterson und ich schätze, wenn es zu einer Schlägerei gekommen wäre, hätte ich wohl gewonnen. Das Problem war nur, dass mir vor körperlicher Gewalt, vor Zusammenprall, Blut und Schmerz, schon immer gegraut hat. Das geht mir bis heute so. Wenn es aber um eine andere, möglicherweise sogar gefährlichere Art von Kampf ging, war ich offenbar nicht von derlei Skrupeln geplagt.

Ich ließ das Lächeln auf meinem Gesicht, zog es vielleicht sogar noch etwas in die Breite. Kann sein, dass ich es darauf anlegte, so auszusehen wie der Lächler heute im Zug.

»Warum bleiben wir nicht hier drinnen und machen stattdessen einen Intelligenztest«, sagte ich und versuchte dabei eine träge, sarkastische Gelassenheit auszustrahlen, die ich nicht im Mindesten empfand. »Dann kann ich noch sicherer sein, dass ich gewinne, und als zusätzlichen Bonus habe ich hinterher keine Last damit, mir dein ekliges Mutantenblut von den Knöcheln zu waschen.«

Beinahe wäre er vor Wut in Tränen ausgebrochen. Ich glaube, er weinte tatsächlich, in dem Sinne, dass sein Atem plötzlich in kurzen, krampfhaften Stößen ging. Wäre es möglich gewesen, so hätte er sich wohl am liebsten durch meine Haut in mich hineingebohrt, sich umgedreht und mich von innen her zu Klump und Asche geschlagen. Stattdessen trat er einen halben Schritt zurück, holte mit dem Kopf aus wie eine Schlange kurz vor dem Zubeißen, machte ein scheußliches Geräusch in seiner Kehle und ließ dann seinen Kopf vorschnellen, um mir mitten ins Gesicht zu spucken.

War ich froh, dass ich nur mit geschlossenem Mund lächelte.

Das meiste von dem klebrigen Speichel traf mein Kinn und tropfte dann mit einem zäh klatschenden Geräusch auf mein Hemd. Ich wusste genau, was ich in diesem Moment am liebsten getan hätte. Ich spüre den Impuls wieder ganz frisch, während ich dies schreibe. Es juckte mich regelrecht, mit dem Arm auszuholen und ihn dann um hundertachtzig Grad mit solch donnernder, gezielter, keulenhafter zentrifugaler Wucht gegen die Seite seines kleinen Frettchenkopfes zu schwingen, dass sein ganzer Körper wie ein Propeller durch den Raum segeln und durch die Tische und Stühle poltern würde, bis er gegen die Wand krachen und zu Boden gleiten würde wie ein nutzloser, toter Gegenstand, der kaputtgegangen war und weggeworfen wurde.

Das tat ich aber nicht, Lance. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich nicht einmal dazu genug Freundlichkeit oder genug Spontaneität aufbrachte. Stattdessen verankerte ich meine rechte Hand sicher hinter meinem Rücken, schaute unverwandt in die aufgebrachten, seltsam flehenden Augen, mit denen er mich ansah, und lachte. Ich versuchte den Anschein zu erwecken, als ob ich es schon die ganze Zeit nur darauf angelegt hätte, von ihm bespuckt zu werden. Bewusst verzichtete ich sogar darauf, mir das eklige Zeug vom Kinn oder vom Hemd zu wischen. Ich lachte einfach nur lange und laut, um ihm dann achtlos den Rücken zuzukehren und mich wieder zu meinen Freunden zu setzen. Während ich mich setzte, kam mir freilich der Gedanke, dass Philip so außer sich vor Wut sein könnte, dass er imstande wäre, einen Stuhl zu nehmen und ihn auf meinem Kopf zu zerschmettern, aber es dauerte nur Sekunden, bis meine höchst amüsierten Begleiter mir zu erkennen gaben, dass er gegangen war. Ich selber hörte und sah nicht, wie er ging. Endlich konnte ich mir eine Serviette nehmen und mir den ekelhaften Schleim vom Kinn und vom Hemd abwischen. Du kannst Dir denken, dass die ganze Sache mich mehr erschütterte, als ich zeigen oder zugeben wollte, aber in dem Moment herrschte bei mir die Erleichterung vor, dass ich es geschafft hatte, mit intakter Würde davonzukommen.

Was ich später noch von Philip Waterson weiß, habe ich von meiner Mutter erfahren, die in dem Dorf wohnen blieb, in dem ich aufgewachsen bin. Waterson hatte in dem Haus, in dem er ganz allein wohnte, Selbstmord begangen. Das war einige Jahre nach dem Vorfall mit dem verschütteten Kaffee. Man fand ihn aufgehängt an einem Haken über seiner Schlafzimmertür. Meine Mutter sagte, die Polizei hätte wegen des Gewichtes seiner Leiche vor der Tür ziemlich lange gebraucht, um hineinzukommen. Grauenhaft! Ich hatte eine ganze Weile lang Albträume davon. Nicht, wie ich hinzufügen sollte, weil ich ernsthaft gedacht hätte, es gäbe irgendeinen kausalen Zusammenhang zwischen seinem Tod und dem Vorfall im Café. Es war einfach der schiere Horror der ganzen Sache. Dass all die Enttäuschung und Einsamkeit und Trostlosigkeit ihr Ende damit fand, dass ein paar Schuhabsätze, mit hohlem Klang rhythmisch gegen eine Tür pochten, in einem Haus, wo es niemanden gab, der es hätte hören können; in einem Dorf, wo, so viel ich weiß, niemand Zeit, geschweige denn Liebe für den bitteren, frettchengesichtigen kleinen Philip übrig hatte. Durch das Nachdenken über Philip und diese vergangenen Geschichten hatte ich wieder ein paar Minuten meiner widerwärtigen Zugfahrt hinter mich gebracht. Ich schlug meine Augen wieder auf.

Was immer die drei Männer vorhatten, es musste auf jeden Fall sehr bald geschehen, bevor der Zug sich seinem Zielbahnhof in London näherte und die Leute durch die Erste-Klasse-Waggons nach vorne gehen würden, um hinterher nicht so weit durch das Gedränge auf dem Bahnsteig zu müssen. Das Trio würde doch sicher nichts Extremes mit mir anstellen wollen, wenn andere Leute in der Nähe waren, oder? Während die Minuten quälend langsam verstrichen, machte ich mich auf den Moment gefasst, in dem alle drei auf einen Schlag aufstehen und mein Gesicht und meinen Körper mit ihren Betonfäusten bearbeiten würden, um dann meine Überreste unter den Tisch zu stopfen, wo kein Passant mich sehen konnte.

Es geschah einen Sekundenbruchteil, nachdem die Stimme des Schaffners alle Passagiere darüber informiert hatte, dass der Zug sich seiner Endstation näherte. Als wäre das Ende dieser Ankündigung eine Art abgesprochenes Signal gewesen, standen die drei Männer tatsächlich alle genau gleichzeitig von ihren Plätzen auf. Vor Schreck zuckte ich am ganzen Leib zusammen, als hätte ich eine Stromleitung angefasst. Dann, mit noch präziserer Synchronisation, wie es mir vorkam, griffen sie jeder mit der rechten Hand in die hintere Hosentasche. Ein entsetzlicher Augenblick. Ich dachte wirklich, ich würde auf der Stelle in Ohnmacht fallen oder mich erbrechen. Als die drei Hände wieder auftauchten, fuhr ich wirklich körperlich zusammen, glaube ich – nein, ganz sicher. Das ist noch milde ausgedrückt. Ich schoss fast senkrecht von meinem Platz hoch. Beinahe hätte ich laut geschrien. Pistolen, Messer, Totschläger, Schlagringe, nichts von alledem hätte mich überrascht. Aber was sie tatsächlich aus ihren Taschen zogen, war nichts dergleichen. Ohne auch nur ein Wort zu flüstern, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, legte jede dieser Mördergestalten eine Pfundmünze vor mir auf den Tisch.

Dann gingen sie.

Ohne auch nur einen verstohlenen Blick zurückzuwerfen, schlenderten sie auf das vordere Ende des Zuges zu. Ich starrte ihnen nach. Dass sie wirklich weg waren, wagte ich kaum zu glauben. Ich wartete ab, bis ihre breiten Rücken und ihre schweren, muskelbepackten Beine durch den sanft schwankenden Zug in den nächsten Waggon verschwunden waren; dann sank mein Blick fassungslos wieder auf den Tisch herab. Die Männer waren weg. Ich war nicht angegriffen oder zusammengeschlagen worden. Sie hatten mich nur vor Angst um den Verstand gebracht und mir dann drei Pfund hinterlassen. Mir wurde bewusst, dass mir der Mund weiter offen hing, als es bei meinem kürzlich verstorbenen Nachbarn der Fall gewesen war. Ich machte ihn zu und dann wieder auf, um einen tiefen, tiefen Atemzug zu tun. Durch aufgeblasene Wangen ließ ich die Luft wieder ausströmen. Waren sie wirklich weg? Ja. O Seligkeit! Sie waren weg.

Bei jedem Ausatmen sagte ich innerlich diese Worte. Sie sind weg. Sie sind weg. Sie sind weg …

Plötzlich war die Welt um mich her wieder normal geworden. Ich war ein Mann, einer von vielen, in einem Zug, der das Ende seiner Reise aus dem Norden Englands nach London erreicht hatte. Gleich (noch nicht, aber gleich) würde ich aufstehen, meine Reisetasche von der Gepäckablage hieven und mich dem Strom der Reisenden auf dem Weg hinauf in die große, belebte Bahnhofshalle anschließen. Gleich. In einer oder zwei Minuten, wenn alle anderen ausgestiegen waren.

Drei Pfundmünzen also. Ein Trinkgeld? Dummes Zeug. Eine Falle? Ein Test? Auf jeden Fall ein Beweis dafür, dass jene drei Männer es bewusst darauf abgesehen hatten, mit ihrem eigenartigen Verhalten eine Wirkung bei mir zu erzielen. Es war kein Versehen oder irgendein naiver Irrtum gewesen. So sinnlos und irrational ihr Verhalten erschienen war, Lance, irgendetwas hatte es offensichtlich zu bedeuten. Und jetzt galt es, eine Entscheidung zu treffen. Sollte ich das Geld mitnehmen oder liegen lassen? Ich erinnerte mich dunkel an die Psychologie der verdrehten Logik, die in der Schule immer dahintergesteckt hatte, wenn jemand andere schikanierte, und ließ mir zwei alternative Szenarios über eine hypothetische zukünftige Begegnung mit den drei Männern durch den Kopf gehen.

»He, Sie da! Wir haben unser Geld auf dem Tisch liegen lassen, direkt vor Ihrer Nase. Sie wussten doch, dass es uns gehörte, und Sie haben es sich einfach unter den Nagel gerissen. Dafür hauen wir Sie windelweich!«

Du wirst mich jetzt für völlig übergeschnappt halten, aber was ich tatsächlich mit immer noch von den Schrecken dieser Reise zitternden Händen tat, war Folgendes. Ich holte einen Stift und einen alten Briefumschlag hervor und notierte mir die Jahreszahlen, die auf den Münzen eingeprägt waren. Dann steckte ich den Umschlag in meine Innentasche und die Münzen zu meinem übrigen Kleingeld in die Gesäßtasche. Unglaublich, was? Aber wahr. Ich war völlig am Ende. Ich zeige Dir die Notizen auf dem Umschlag, wenn wir uns sehen. Sie sehen aus, als hätte ein verängstigtes kleines Kind sie gekritzelt.

Nirgends in der Bahnhofshalle war eine Spur von ihnen zu entdecken, als ich dort ankam. Ich blieb eine oder zwei Minuten lang mitten in der Menge stehen, mehr als zufrieden damit, zusammen mit ungefähr hundert anderen Leuten sinnlos hinauf zur Anzeigetafel zu starren, und weidete mich an der schieren Alltäglichkeit meiner Umgebung. Es war ein unaussprechlich herrliches Gefühl, wie wenn man klares Wasser zu trinken bekommt, nachdem man sich aus einem Sumpf gerettet hat. Ein paar Minuten später, auf dem Weg zur Rolltreppe hinunter zur U-Bahn, bemerkte ich zwei Polizisten, die sich in der Mitte der Halle breitbeinig aufgebaut hatten, wahrscheinlich, um durch ihre Gegenwart Taschendiebe und Räuber und dergleichen abzuschrecken. Ich machte einen oder zwei Schritte in ihre Richtung, da ich fand, dass ich ihnen das Verhalten der drei Männer melden sollte, doch nachdem ich den daraus voraussichtlich entstehenden Dialog kurz innerlich durchgespielt hatte, schlug ich mir diese Idee wieder aus dem Kopf.

 

Du musst Dir das vorstellen, Lance:

»Bitte noch einmal, Sir. Was genau werfen Sie den drei Männern vor, die in Ihren Zug eingestiegen sind?«

»Nun, sie kamen herein und setzten sich an meinen Tisch, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Sie hätten sich überall in diesem Teil des Zuges hinsetzen können, wissen Sie, aber das taten sie nicht. Sie setzten sich zu mir.«

»Sie setzten sich zu Ihnen. Haben sie irgendetwas gesagt, bevor sie sich hinsetzten?«

»Nun ja, einer von ihnen fragte, ob die anderen drei Plätze an meinem Tisch frei wären, und – und ich sagte Ja.«

»Dann wäre es also mehr oder weniger zutreffend, zu sagen, dass Sie sie eingeladen haben, an Ihrem Tisch Platz zu nehmen, Sir.«

»Nun, ich habe keine Einwände dagegen erhoben, aber ich hatte nicht das Gefühl, eine andere Wahl zu haben. Gewollt habe ich es bestimmt nicht, denn …«

»Hatten diese Männer denn gültige Fahrscheine für ihre Reise, Sir?«

»Äh, ja, soviel ich weiß, schon. Der Schaffner hat einen Zuschlag bei ihnen kassiert, aber ihre Fahrscheine schien er für in Ordnung zu halten. Aber was ich Ihnen klarzumachen versuche, ist, dass sie sehr bedrohlich waren – äußerst beängstigend. Ich zittere jetzt noch. Sie waren riesengroß und schweigsam und sie saßen einfach da und keilten mich am Fenster ein. Können Sie sich vorstellen, wie das für mich war? Sie setzten sich einfach zu mir, obwohl sie nicht mussten, und sagten kein Wort.«

»Dann haben sie Sie also eigentlich nicht verbal bedroht, Sir?«

»Nun, das nicht, jedenfalls nicht, indem sie irgendetwas gesagt hätten, aber …«

»Oder körperlich, Sir? Gab es irgendeinen Moment, in dem Sie sich persönlich körperlich bedroht fühlten?«

»Ja, die ganze Zeit über, weil sie …«

»Weil sie sich an Ihren Tisch setzten und groß waren und nichts sagten.«

»Ja, und am Ende standen sie plötzlich alle auf, griffen genau gleichzeitig in ihre Taschen und holten …«

»Ja, Sir?«

»Sie, äh, holten drei Pfundmünzen heraus und legten sie vor mir auf den Tisch.«

»Drei Pfundmünzen?«

»Ja.«

»Und dann?«

»Dann gingen sie weg, um auszusteigen, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Und die drei Pfund?«

»Die – die habe ich eingesteckt.«

»Dann fasse ich mal zusammen, Sir. Drei sehr große Männer haben sich Fahrscheine gekauft, um in demselben Zug zu fahren wie Sie, und sie haben sich zu Ihnen in den Waggon gesetzt, nachdem sie Sie gefragt haben, ob Ihnen das recht wäre. Sie haben ihnen erlaubt, sich zu Ihnen an den Tisch zu setzen. Während des weiteren Verlaufs der Fahrt haben sie weder mit Ihnen gesprochen noch Sie irgendwie physisch bedroht, abgesehen davon, dass sie groß waren und nichts sagten. Bei der Ankunft in London verließen diese drei Männer den Zug, nachdem sie vorher lediglich drei Pfund auf den Tisch gelegt hatten. Dies könnte natürlich als Trinkgeld für den Schaffner oder den Bistrokellner gedacht gewesen sein, aber Sie haben es vorgezogen, es als ein Geschenk an Sie zu betrachten. Nun, auf welcher Grundlage genau schlagen Sie vor, dass wir diese Männer festnehmen, Sir? Groß, schweigsam, gesetzestreu und unerwartet großzügig zu sein, sind keine Vergehen, die wir normalerweise strafrechtlich verfolgen würden …«

Verstehst Du, was ich meine?

Ich stieg also in die U-Bahn, und in all dem normalen Betrieb dort fing ich an, mich ein bisschen besser zu fühlen. Auf dem letzten Stück nach Lanworth jedoch war die Angst plötzlich wieder da, genauso schlimm wie vorher, und bis ich zu Hause war, war ich am Boden zerstört. Genauso geht es mir jetzt immer noch. Was mich im Moment wirklich fertigmacht, ist die Frage, wie ich in Zukunft überhaupt klarkommen soll. Mir kommt es vor, als hätte irgendeine namenlose, sadistische Kreatur es darauf angelegt, es ausgerechnet mir unmöglich zu machen, wirklich daran zu glauben, dass ich je wieder festen Boden unter den Füßen haben werde. Wie kann ich mich je wieder sicher fühlen? Was soll ich tun? Soll ich immerzu auf der Flucht sein und die Angst am Leib tragen wie ein härenes Hemd, das ich niemals ausziehen kann, oder soll ich mich umdrehen und dem Monster ins Gesicht schauen? Und mich von ihm zermalmen lassen. Ich weiß wirklich nicht, was von beiden mir lieber ist, jedenfalls noch nicht. Wer ist das Monster? Wer waren diese Männer? Wo sind sie jetzt, in diesem Augenblick? Lieber Gott, gib, dass sie nicht hier im Haus sind.

Ist die Welt verrückt geworden, Lance? Oder bin ich es, der den Verstand verliert?

Ich sehe Dich und die anderen schon sehr bald, hoffe ich. Beth treffe ich morgen. Lass uns dem Rat von Jerome K. Jerome folgen und auf einem öffentlichen Platz ein großes Feuer anzünden und uns gemeinsam im Kreis darum aufstellen und in Sicherheit sein. Tut mir leid, dass ich Dir das alles aufbürde. Alles Liebe wie immer, Tom.