Sechs Geschichten über die Liebe unterwegs

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Sechs Geschichten über die Liebe unterwegs
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Adrian Ambrer

Sechs Geschichten
über die Liebe
unterwegs


Copyright: © 2021 Ludwig Witzani

Konvertierung: sabine abels, Hamburg

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

(Alle Erzählungen dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig.)

Ich widme dieses Buch meiner lieben Frau in der Hoffnung, dass sie es niemals lesen möge, weil sie sonst jede Figur eins zu eins auf mich überträgt.

Vorbemerkung

Vier turbulente Tage in Rio de Janeiro konfrontieren zwei Reisende mit zwei unterschiedlichen Spielarten der Nähe. Ein Mann und ein junges Mädchen reisen durch Anatolien und werden sich selber fremd. In New York findet ein Single, der sein Leben als Geliebter von Ehefrauen organisiert, seine Meisterin. Zwei Namenlose erleben in Portugal die Einsamkeit zu zweit. Ein Fremdgeher tappt in Gran Canaria in seine eigene Falle, und ein Ehemann will seine Frau durch eine Flucht nach Thailand zurückgewinnen.

Die „Liebe unterwegs“ beinhaltet eine doppelte Entfremdung - das Anderssein in der Fremde und das Anderssein in der Liebe. Wie sich beide Identitätsverwirrungen gegenseitig durchdringen und verstärken, erkunden die sechs Erzählungen dieses Buches. In Rio de Janeiro, Anatolien, New York, in Portugal, auf Gran Canaria und in Thailand beschreiben sie die paradoxen Beziehung von Fremdheit und Nähe, sowohl was das Persönliche, wie was das Geografische betrifft. Ihr Thema ist die Psychologie der Liebe, geprägt durch ihre Gewordenheit und intensiviert durch die räumliche Entfernung.


Der Romantische und der Rösige in Rio

Frank Richter arbeitete als als Lehrer für Geschichte und Geographie an einem Kölner Gymnasium. Er war hochgewachsen und schlaksig, ein introvertierter Leptosom, der sich bemühte, die Zumutungen des Alltags wie unvermeidliche Prüfungen zu ertragen. Zumutungen des Alltags waren: seine missgünstige Nachbarin, die die Korrektheit seiner Mülltrennung überwachte, die Schüler, die die Texte entweder oberflächlich oder überhaupt nicht lasen, sein Facebook-Account, auf dem ihm lauter Ereignisse mitgeteilt wurden, die ihn nicht interessierten, und vieles andere mehr.

Die größte Zumutung seines Lebens aber war die Liebe. Vier Semester lang war er während seines Studiums für das höhere Lehramt mit der rehäugigen Meike zusammen gewesen, hatte ihr die Hausarbeiten geschrieben, regelmäßig ihren alten Volkswagen repariert, die Schränke zusammengebaut, um nach ihrem erfolgreich bestandenen Staatsexamen wegen eines Prädikatsjuristen verlassen zu werden. Meike residierte längst mit ihrem Juristenmann und ihren zwei Juristenkindern in einem prächtigen Juristenhaus am Tegernsee, während Frank Richter noch immer in seinem Zweieinhalbzimmer-Apartment im Kölner Westen lebte. Und zwar alleine, denn nach der rehäugigen Meike hatte es in Franks Leben keine wirkliche Beziehung mehr gegeben. Die Frauen, mit denen er ausgegangen war, hatten ihn deprimiert - zu stark erschien ihm der Kontrast zu seiner Meike, zu gewöhnlich ihr Gehabe, zu berechnend ihre sequentielle Polygamie.

Nachdem er eine Enttäuschung nach der nächsten hatte hinnehmen müssen, ließ er es schließlich ganz. Seine Beziehungen zur Frauenwelt beschränkten sich auf den Kontakt zu seiner älteren Schwester und auf die Grußkarten, die er Meike zu ihrem Geburtstag an den Tegernsee schickte. Immerhin war er gesund und durch seinen Beruf finanziell so abgesichert, dass er der einzigen Passion, die ihm geblieben war, ungehemmt frönen konnte: dem Reisen. Denn Reisen - und waren sie auch noch so beschwerlich - erschienen ihm nicht als Zumutungen, sondern als die Enklave in seinem Leben, in der er die Schönheit und die Erbauung finden konnte, die er daheim vermisste.

Was ihm aber noch fehlte, war Brasilien. Existierten in Minas Gerais nicht die wunderbaren brasilianischen Barockkirchen mit den Werken des begnadeten Aleijadinho? Stürzte nicht im Süden Brasiliens in der Nähe von Iguazu der Größte aller Wasserfälle in die Tiefe, und war Rio de Janeiro nicht die schönste Stadt der Welt?

Sein Kollege und Tennispartner Dr. Eddy Fischer war zweiunddreißig Jahre alt und Studienrat für Deutsch und Sport an der gleichen Schule. Eddy Fischer hatte über „Schillers Theorie des Spiels“ promoviert, hatte an akademischen Hierarchien geschnuppert und wusste immer mit einem klugen Spruch zu glänzen. Schlank und sportlich kam er am liebsten mit seinem Sportfahrrad zur Schule, was seine schüler „cool“ fanden, auch wenn ihm als Lehrer eine gewisse Launenhaftigkeit nachgegesagt wurde.

In der Liebe war er allerdings mehrfach auf die Nase gefallen, so dass er sich zu einem überzugten Single entwickelt hatte, der festen Bindungen nach Möglichkeit aus dem Wege ging. Ehrlicher Sex ohne jedes Tam-Tam, das war sein Ding, und wenn er dafür bezahlen musste, hatte er damit auch kein Problem. Natürlich nicht zuhause, denn das hätte ihn auf den Status eines gewöhnlichen Freiers herabgedrückt, sondern in der Fremde, wo das Gras grüner, das Wetter besser und der Sex eine vollkommen unsentimentale Sache war. In der Patpong Road von Bangkok kannte er sich aus wie in seiner Westentasche, und was die Mabini Street in Manila betraf, konnte ihm keiner was vormachen. China mied er, da gefielen ihm die Frauen nicht, in Japan war es zu teuer, und in Afrika war es ihm viel zu gefährlich.

Aber was war mit Südamerika? Was war mit Brasilien? Nach allem, was er hörte, kam keine Frau an die Brasilianerin heran. Wild und willig, vor allem aber billig, existierte jenseits des großen Teichs ein bisher noch unbekanntes Paradies, das er unbedingt erforschen wollte.

Irgendwann, war es im Lehrerzimmer oder beim Sport, stellten Frank Richter und Eddy Fischer fest, dass sie unabhängig voneinander eine Brasilienreise planten. Spontan beschlossen sie, gemeinsam zu fahren. Dass sie sich in Brasilien in die Quere kommen würden, war nicht zu erwarten, dafür waren sie zu unterschiedlich. Was also sprach dagegen, sich die Reisekosten auf das Angenehmste zu teilen? „Der Rösige und der Romantische fahren nach Rio“, spotteten die Damen im Schulsekretariat, doch Frank und Eddy störte das nicht.

Am ersten Tag der großen Ferien bestiegen sie den Flieger der brasilianischen Fluggesellschaft Varig und flogen nach Rio.

Es war ein unruhiger Flug. Wie alle Südflüge passierte die Maschine eine Klimazone nach der nächsten, und über dem Atlantik musste wegen heftiger Turbulenzen die Essensausgabe verschoben werden.

„Wenn es schon kein Essen gibt, dann kann mir die Stewardess wenigstens einen blasen“, tönte Eddy. Kaum weg von zuhause befleißigte sich der prommovierte Germanist einer derben Diktion, wobei er darauf vertraute, dass im Ausland nicht alles so genau verstanden wurde, was er von sich gab.

Frank waren solche Sprüche peinlich. Er überhörte sie und vertiefte sich in seinen Lonely Planet Guide, seinen Kulturführer und die Texte, die er sich auf seinen E-Reader geladen hatte. Mehrere Artikel warnten vor der hohen Kriminalität in den großen Städten Brasiliens. Über fünftausend Menschen werden jedes Jahr alleine in Rio de Janeiro ermordet. Das war die schlechte Nachricht. Neunzig Prozent davon in den Favelas und im Drogenmilieu. War das eine gute Nachricht? Ganz bestimmt nicht. Auf der anderen Seite war das Land nach diversen Staatsbankrotten und Währungsreformen relativ preiswert. Das war wieder eine gute Nachricht. Außerdem, so vermerkte ein findiger Reiseschriftsteller, fiel der Tourist in Rio nicht so stark auf, weil die brasilianische Bevölkerung einfach keinen vorherrschenden Phänotyp kennt - schwarz und weiß oder gemischt, groß und klein, dick oder dünn, alles kam aus dem gleichen Melting Pot.

Frank schlief ein, träumte einen wirren Traum vom Tegernsee und wachte erst wieder auf, als sich die Maschine schon im Anflug auf Rio befand. Zerfetzte Wolken hingen wie ein zerrissener Vorhang über der Guanabarabucht, die Sonne war gerade aufgegangen und beschien eine bizarr geformte Küstenlandschaft. Zahlreiche Kegelberge, die sogenannten Morros, erhoben sich wie grüne Burgen über einer unübersehbaren Masse grauer Häuser.

Eddy hatte in der Nacht kein Auge zugemacht und sah zerknittert aus. Dankbar nahm er den Kaffee entgegen, den die Stewardess verteilte. Die junge Frau hatte ihre schwarzen Haare hochgebunden, ihr Gesicht war ebenso rund wie ihr Körper. Schutzlos war ihren ihre Rundungen Eddys Blicken preisgegeben. Eddy sah es und fragte: „Du hast dich doch so gut auf unsere Reise vorbereitet. Kennst du denn wenigstens die durchschnittliche BH-Größe der brasilianischen Frau zwischen Zwanzig und Dreißig?“

„Nein.“

„Siehst du, die wirklich wichtigen Sachen kennst du nicht“, sagte Eddy und bat die Stewardess um einen weiteren Kaffee.

Es regnete heftig, als sie nach der Landung und Abfertigung vom Flughafen Santos Dumont in das Zentrum von Rio fuhren. Weite Strandstraßen, auf die der Regen nieder prasselte, dicht bewachsene Kegelberge, von Wolkenfransen umnebelt, Hochhausfassaden, deren Balkone wie Löcher wirkten, durchfeuchtete, ungepflegte Rasenflächen, auf denen Abfallhaufen herumlagen – der erste Anblick einer Stadt im Regen ist selten ein Vergnügen.

 

Eddy schaute missgelaunt durch die Fensterscheiben, „Wo sind denn all die scharfen Bräute?“ wollte er wissen.

„Die schlafen noch. Es ist doch noch früh.“

Das Hotel „Monte Blanco“ befand sich in an einer belebten Durchgangsstraße im Stadtteil Catete mitten in Rio. Von hier aus war es gleichweit zum Strand von Copacabana wie zu den nördlichen Geschäftsvierteln. Der Rezeptionist war ein drahtiger Mensch mit grauen Schläfenhaaren und einer langen, fleischigen Nase. In einem gutturalen Englisch verlangte er eine Vorauszahlung für die erste Nacht, ihre Ausweise und das Ausfüllen diverser Anmeldeformulare, ehe er die Schlüssel herausrückte. Der Safe, in dem sie ihre Wertsachen verstauten, war in Ordnung, doch in ihrem Zimmer dröhnte der Krach der Rua do Catete durch die geschlossenen Fenster. Dafür war das Bad geräumig, die Matratzen gut, und es existierte sogar ein Balkon, von dem aus man die Straßenhändler und die Prostituierten gleich neben dem U- Bahn Eingang sehen konnte. „Nur hässliche Vögel“, meinte Eddy, als er vom Balkon aus einen Blick auf die Tagesschicht geworfen hatte.

Als sie zu ihrem ersten Rundgang durch Rio aufbrachen, hatte der Regen aufgehört. Übergangslos war die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen, vom nassen Asphalt waberten feine Nebelschwaden über die Bürgersteige. Obwohl es noch früh am Tag war, hatten die meisten Geschäfte bereits geöffnet, Stühle und Tische wurden abgewischt, und überfüllte Busse transportierten die Leute zu ihren Arbeitsstätten. Neben einem Parkeingang nahmen die ersten Bettler ihre Positionen ein, die sie den ganzen Tag über gegen andere Bettler verteidigen würden. Aus einer Seitengasse wurde eine mobile Garküche herbeigerollt, die Polizei verscheuchte die Obdachlosen aus den Hauseingängen.

Als Frank und Eddy sich in einem Restaurant ein frühes Mittagessen bestellten, verblüffte sie das Ausmaß der Fleischportionen. Die Riesensteaks lappten über die Tellerränder, von dem Berg Pommes Frites, der auf einem extra Teller mitgeliefert wurde, ganz zu schweigen. Eddy war es recht, denn mit einem Steak verhielt es sich für ihn wie mit einem Geschlechtsverkehr – beides war ihm zu jeder Tageszeit willkommen. Der Saft lief ihm das Kinn herab, als Frank einen kleinen Jungen heranwinkte, der schon einige Minuten vor dem Eingang des Lokals herumschlich. Er sah aus, als könnte er ein halbes Filetsteak gut vertragen.

„Halt“, rief Eddy. „Gib mir den Rest des Filetsteaks. Der Kleine kann mein halbes Rumpsteak haben.“

„Warum hast du dir denn nicht selbst ein Filetsteak bestellt?“

„Das war mir zu teuer. Ich muss die Kröten für die Mädels zusammenhalten“, erklärte Eddy und schaufelte das halbe Filetsteak auf seinen Teller.

Der kleine war auch mit dem halben Rumpsteak zufrieden. Er trug nichts als eine Turnhose und ein Unterhemd, lachte aber über das ganze Gesicht, als er das halbe Steak entgegennahm und flitzte zur nächsten Ecke, wo er die Beute mit zwei Kameraden teilte.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Eddy, als sie fertig gegessen hatten. „Der Tag ist noch lang, und für mich geht die Post ohnehin erst am Abend ab.“

„Was du machst, weiß ich nicht, aber ich werde mir jetzt erst einmal einen Überblick über die Stadt verschaffen“, erwiderte Frank. „Du bist herzlich eingeladen, mitzukommen. Es tut nicht weh und macht auch nicht dümmer.“

Eddy machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin dabei, aber nur ohne Klugscheißerei.“

Mit Hilfe seines Stadtführers machte Frank schnell die richtige Haltestelle an der Rua do Catete ausfindig. Der Kartenverkäufer, ein kleiner Mulatte von unbestimmbarem Alter, saß als Schaffner auf einem Schemel hinter einer Absperrung.

„Corcovado?“fragte Frank.

„Si, si“ nickte der kleine Schaffner und nannte den Preis der Fahrkarte. Da Frank den Preis für die Fahrkarte nicht verstand, zeigte der kleine Schaffner dreimal alle seine zehn Finger und legte einen seiner beiden nackten Füße auf das schmale Schaffnerpult. Ein Zeh fehlte, es waren nur vier. „Ich glaube, die Fahrt kostet 35 neue Cruzeiros“, meinte Eddy. „Den fehlenden Zeh darfst du nicht abrechnen.“

Die Busfahrt von der Rua Catete zum Corcovado dauerte länger als gedacht, denn die breiten Avenidas verwandelten sich schon einen Block jenseits der Durchgangsstraße in enge Straßenschluchten. Eine endlose Menge von Taxen, Bussen und Motorrädern blockierten die Fahrbahn, und manchmal ging es nur noch schubweise vorwärts. Frank sah von seinem erhöhten Sitz, wie der Besitzer einer großen Limousine, der durch einen Karren an der Ausfahrt gehindert wurde, den Karrenfahrer durch das offene Autofenster beschimpfte. Muskelbepackt und sorgfältig frisiert saß er mit seinem blütenweißen Hemd behäbig in seinem Ledersitz und schien sich an seinen Flüchen zu ergötzen. Der Karrenmann, eine ausgemergelte Gestalt mit einem gelben Gesicht, war barfuß unterwegs. Er trug löchrige, abgerissene Kleidung und streckte dem Wagenbesitzer vor dem heruntergekurbelten Fenster zuerst seine entsetzlich lange Zunge heraus und rotzte ihm anschließend einen vollen Gelben in den Wagen. Von ihrem Busfenstersitz aus konnten Frank und Eddy aus nächster Nähe beobachten, wie eine dicke, konsistente Sputumkugel aus dem zahnlosen Maul des Alten schoss und den Autobesitzer voll am linken Auge traf. Gerade in diesem Moment setzte sich der Bus wieder in Bewegung, und die Szene entschwand aus ihrem Blickfeld.

Nach einer halben Stunde gab der kleine Schaffner mit den neun Zehen Frank und Eddy ein Zeichen, dass sie aussteigen sollten. Schnell fanden sie die Zahnradbahn, die sie von der Talstation zum Corcovado brachte. Über wenig vertrauenserweckende Holzbrücken, durch Tunnel und Kurven ratterte die Schienenbahn im Zeitlupentempo den Berg hoch, bis sie an der Endstation unterhalb des Gipfels stoppte. Nun ging es noch einmal die 220 Stufen einer Marmortreppe empor, ehe die Plattform des Cristo Redentor erreicht war.

Achtunddreißig Meter hoch ragte der segnende Christus samt Sockel über ihnen in den Himmel, und selbst wenn man sich vor dem Monument auf den Rücken legte, bekam man die Statue in ihrer Gesamtheit nicht auf das Kamerabild.

„Wie alt ist diese Statue?“ fragte Eddy. „Das hast du doch bestimmt schon herausgefunden.“

„Nicht so alt, wie man vielleicht glauben möchte“, antwortete Frank. „Sie sollte im Jahre 1922 aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der brasilianischen Unabhängigkeit errichtet werden. Fertig wurde sie aber erst 1931. Dafür sieht sie aber noch ganz gut aus.“

Die meisten Besucher hielten sich nicht lange am Cristo Redentor auf sondern liefen gleich weiter zur Aussichtsplattform unterhalb der Statue. Tausendfach auf Bildern gesehen, war es doch ein Schock, dass die Panoramaaussicht von der Corcovadoterrasse genauso überwältigend war wie erwartet. Der erste Blick erfasste ganz Rio, die ganze Bucht, die ganze Küste, geradeaus den Pao de Acucar, den Zuckerhut, nördlich von ihm die Strände von Botofago und Flamengo und links davon noch weiter nördlich das Geschäftszentrum und die Niteroibrücke, die die Guanabarabucht überspannte. Südlich des Corcovado waren die Strände von Copacabana und Ipanema zu erkennen und davor wie ein bizarres Meer in der Stadt, der Cariocasee mit dem Botanischen Garten. Das war der erste Blick. Der zweite Blick aber sah mehr, er sah das Blau des Ozeans, der das Gesamtbild im Osten wie ein Rahmen umgab, erkannte die wuchtigen Ausläufer des Tijucamassivs, das sich vom Westen her wie eine steinerne Brandung in die Stadt ergoss. Überall ragten die dicht bewachsenen Morros über die Stadtviertel hinaus, und hellgelb glitzerten die Strände, die in der Ferne wie zarte, dünne Federstriche Land und Meer begrenzten. Frank erinnerte sich an den Golf von Neapel, an Istanbul und den Bosporus, an Hongkong, San Francisco oder die Bucht von Vancouver – alles Höhepunkte menschlicher Siedlungskunst, doch nichts schien diesem Anblick gleichzukommen. Für Frank war es schlichtweg das Schönste, was er in seinem Leben bis dahin gesehen hatte.

So hoch wollte Eddy nicht gehen. Für ihn war es nur der zweitschönste Anblick. Der schönste Anblick an den der sich erinnern konnte, war der Hintern seiner thailändischen Freundin Yona, mit der er im letzten Jahr seine Ferien auf Koh Tau verbracht hatte.

Die zweite Sightseeing-Station des Tages war der Zuckerhut. Wieder bestiegen sie nach einer komplizierten Anreise eine Zahnradbahn und fuhren mit ihr zuerst auf einen kleineren Kegelberg, um dann in eine Gondel umzusteigen, die sie auf das Plateau des 395 Meter hohen Zuckerhutes brachte. Vom Zuckerhut aus war das Panorama nicht ganz so umwerfend wie die Aussicht vom 700 Meter hohen Corvocvado, dafür war er selbst zu sehen, der monumentale Christus hoch über Rio vor der Kulisse des Tijucamassivs. Eine Schönwetterwolke hatte sich wie ein Heiligenschein über den Kopf des steinernen Erlösers gelegt, eine vergängliche Aureole, die an die Verheißung erinnerte, dass die Stadt trotz all ihrer Sünden so lange nicht untergehen würde, wie der Cristo Rendetor auf seinem Sockel stand. Im Südwesten des Zuckerhutes war hinter dem niedrigen Morro do Urubu die Copacabana, der Strand der Strände, aus vierhundert Metern Höhe in seiner kilometerweiten Ausdehnung zu erkennen. Aus der Höhe betrachtet besaß der Strand die Gestalt einer halbmondförmigen Sichel, oder, wie Eddy sofort erkannte, die Form eines weiblichen Hinterteils.

Sie hatten es nicht eilig, den Zuckerhut wieder zu verlassen und setzten sich in ein Café, das eine ausgezeichnete Aussicht auf die Bucht bot. Nun erst war zu erkennen wie riesig die Guanabarabucht war, fast ein Meerbusen mit Inseln und Küsten, die im fernen Dunst verschwommen.

„Die Bucht sieht so aus, als sei sie ein Delta“, meinte Eddy. „Aber hier mündet doch gar kein Fluss, oder?“

„Stimmt, aber es sieht so aus“, erwiderte Frank. „Und genau deswegen nannten die Portugiesen, als sie im Jahre 1502 ihre erste Siedlung an dieser Stelle gründeten, den Ort `Rio de Janeiro´, die Stadt des Januarflusses.“

Eddy nickte, schwieg aber.

„Weißt du eigentlich, warum man die Einwohner von Rio Cariocas nennt?“ setzte Frank nach.

„Nö. Ich weiß noch nicht einmal, dass man sie Cariocas nennt.“

„Carioca ist ein zusammengesetztes Wort aus einer Indianersprache und bedeutet `Cari´, also `weißer Mann´ und `Oka´, das heißt `Haus´, also `weißes Haus´. Die ersten Siedler in Rio wurden von den Indianern als Weiße bezeichnet, die in weißen Häusern leben. Daraus entstand Carioca als Sammelbezeichnung für die Einwohner von Rio.“

„Was für eine lahmarschige Geschichte. So ein Bildungsschrott. Wen interessiert das?“ fragte Eddy.

„Von wegen Bildungsschrott“, widersprach Frank. „Ohne den Begriff des Carioca kannst du Brasilien überhaupt nicht verstehen. Der Carioca, also der Einwohner von Rio, ist der Widerpart des Paulista, des Einwohners von Sao Paulo. Der Carioca ist der Ausgelassene, der sein Leben am liebsten am Strand, beim Fußball oder beim Karneval verbringt - der Paulista ist der Strebsame, der Fleißige, der seine Siebensachen zusammen hält und für morgen vorsorgt.“

„Also bin ich ein Carioca und du bist ein Paulista? fragte Eddy.

Frank zuckte mit den Schultern. „Wenn du so willst. Mach dich ruhig lustig.“

„Ich mach mich nicht lustig, ich frage mich nur, inwieweit solche Kenntnisse das Reiseerlebnis vertiefen. Manchmal kommt es mir so vor, als liefen die Leute mit so vielen Fakten im Kopf herum, dass sie vor Ort nur noch Schablonen sehen“, erläuterte Eddy. „Außerdem wissen wir ja, dass du die wirklich wichtigen Fakten ja überhaupt nicht kennst.“

„Zum Beispiel?“ fragte Frank.

„Ein Beispiel kannst du haben“, erwiderte Eddy. „In welchen Jahren wurde Brasilien zum Beispiel Fußballweltmeister?“

„Was hat das denn mit Rio zu tun?“

„Wieso? Wir sind in Brasilien. Die Antwort kennt doch jedes Kind.“

„Ich kenne sie nicht.“

„Gott, bist du ungebildet“, stichelte Eddy. „Brasilien wurde Fußballweltmeister in den Jahren 1958, 1962, 1970, 1994, und 2002. Das ist schon das zweite Mal, dass ich dich kalt erwische. Das nächste Mal gibst du einen aus.“

Die Avenida Copacabana war eine kilometerlange Prachtstraße direkt am Meer mit breiten Fahrbahnen, großzügigen Parkmöglichkeiten und einem Hochhaushotel neben dem nächsten. Zum Meer hin besaß die Copacabana einen puderweißen Strand, der sich breit und flach von den Kegelbergen in der Nähe des Zuckerhutes bis zu einem Landvorsprung im Süden erstreckte. Als sie die Copacabana erreichten, herrschte tadelloser Sonnenschein, doch der Strand der Strände war für den Badebetrieb gesperrt. Die Unwetter der letzten Tage hatten sich zwar verzogen, aber das Meer war noch immer so unruhig, dass die Brandungswellen ein gefahrloses Baden unmöglich machten. Das war unerfreulich, aber noch viel unerfreulicher war, dass von schönen, braungebrannten Brasilianerinnen nirgendwo etwas zu sehen war. Nur die Garde der Händler, Kuppler und Taschendiebe hatte sich vollständig eingefunden, ohne dass auf Anhieb genau zu erkennen gewesen wäre, wer nun Händler, Kuppler oder Taschendieb war.

 

Es war schon früher Abend, als Frank und Eddy ins Hotel „Monte Blanco“ zurückkehrten. Eddy war fest entschlossen, nur kurz zu duschen, um sich dann in das Nachtleben von Rio zu stürzen. Wenn schon am Strand nichts lief, in den Bars an der Copacabana würde auf jeden Fall was gebacken sein, verkündete Eddy. „Und dass du mitgehst, bist du mir schuldig“, fügte er hinzu. „Ich habe mir den ganzen Tag Kultur reingezogen. Jetzt ist Action angesagt.“

Leichter gesagt, als getan. In Wirklichkeit steckte ihnen die Zeitumstellung noch in den Knochen. Die Müdigkeit, die sie schon den ganzen Tag wie ein lästiges Gepäck mit sich herumgeschleppt hatten, wurde übermächtig, und als sie sich nach dem Duschen nur kurz auf das Bett legten, schliefen sie sofort ein.

*

Als Frank am nächsten Morgen erwachte, war es noch dunkel. Eddy lag leise schnarchend in seinem Bett. Es war fünf Uhr in der Frühe. Die letzte Stunde der Nacht ging gerade zu Ende.

Frank zog sich leise an und verließ das Zimmer. Im Rezeptionsraum schlief der Angestellte auf einem Sofa, eine Bedienstete hatte im Nebenraum schon damit begonnen, das Frühstück vorzubereiten. Mit einem Kaffee, den er sich an dem Automaten gezogen hatte, ging Frank auf die Straße und setzte sich auf die steinerne Brüstung vor dem Hotel. Im Osten der Rua du Cateche wurde es hell, außer einigen wenigen Taxen waren die Fahrbahnen noch leer. Zwei Nachtschwärmer kamen aus dem Metroeingang und liefen die Straße entlang, ein Taxi hielt und entließ ein Paar, das sofort in einer Seitengasse verschwand. Erst jetzt erkannte Frank, wie viele Menschen in den Hauseingängen schliefen. In dem Hotel auf der anderen Straßenseite gingen die Lichter an, einige Frauen verließen das Hotel und stöckelten davon.

Ein mittelalter Mann trat aus dem „Monte Blanco“. Mit einem Kaffee und einem Stuhl setzte er sich auf die andere Seite der Türe und grüßte. Ein paar Worte, ein Name, er hieß Martin, und war ein Deutscher. Frank schätzte ihn auf gut vierzig Jahre, er war schlank, besaß ein scharf ausgeprägtes Profil und graue, kurzgeschnittene Haare. Ein Polizeiwagen fuhr langsam vorbei, die Beamten blickten misstrauisch auf die beiden Kaffeetrinker vor dem Hotel und fuhren weiter. Martin zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, lehnt sich zurück und schloss die Augen. Nun gingen auch im Hotel „Monte Blanco“ die Lichter an, der Rezeptionist war endlich aufgestanden. Die Obdachlosen in den Hauseingängen erwachten - war nicht eines der Kinder drüben im Toreingang der Junge mit der grünen Turnhose, der gestern ihr halbes Steak erhalten hatte? Straßenfeger kamen vorüber und kehrten den Unrat von den Bürgersteigen in die Gullys. Die Straßenbeleuchtung ging aus, und langsam, wie bei einem sich einstimmenden Orchester, begann die Kakophonie der erwachenden Stadt. Hupen, Bremsen, Kreischen Klirren und Stimmen übertönten das leise Heulen des Morgenwindes. Ein neuer Tag.

Als Frank in das Hotel zurückging, saß noch niemand im Frühstückszimmer. Auf dem Buffettisch standen Toast, Konfitüre, Eier, Würste und Käse. Martin holte sich einen frisch gebrühten Kaffee und setzte sich zu Frank an den Tisch.

„Wo kommst du her?“ fragte Frank.

„Aus dem Schwarzwald.“

„Und was machst du hier?“

„Willst du das wirklich wissen?“ fragte Martin und sah Frank zweifelnd an.

„Klar, warum nicht?“

Wie sich herausstellte, war Martin ein Eheflüchtling. Eines Tages hatte er von seiner keifenden Gattin und den verzogenen Sprösslingen einfach die Nase voll gehabt. Er hatte seine Konten aufgelöst, war in einen Flieger nach Caracas gestiegen und verschwunden. Ein halbes Jahr war das nun schon her, und wie lange er noch unterwegs sein würde, wusste er nicht. Martin erzählte es langsam, Wort für Wort, konzentriert und ernst, als werde er sich jetzt erst darüber klar, was mit ihm geschehen war.

Inzwischen hatten die ersten Gäste den Frühstücksraum betreten. Leise Musik tönte aus einem Transistorradio neben der Anrichte. Auch Eddy betrat den Raum, studierte das Buffet und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

Martin nickte Eddy zu und erzählte weiter. Zuerst sei in den Llanos herumgereist und habe auf den Farmen die Motoren repariert. Davon habe er in Venezuela ganz gut leben können. Dann sei er nach Buenos Aires geflogen und habe in der Pampa das gleiche gemacht. „Argentinien, ein großartiges Land mit einer Scheißregierung“, sagte er. „Und mit den schönsten Frauen des Kontinents.“

„Schöner als die Brasilianerinnen?“ wollte Eddy wissen.

„An die Gaucha kommt niemand heran“, antwortete Martin.

„Und was macht deine Frau daheim? Hast du noch was von ihr gehört?“ fragte Frank.

„Nein, aber die hatte ohnehin einen Liebhaber. Einen Nachbarn, dem die Frau gestorben war. Das muss man sich mal vorstellen. Soll der sich jetzt um Haus und Kinder kümmern. Mich sehen die jedenfalls nie wieder.“

„Und deine Kinder?“

Martin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Zwei Idioten.“

Vier Nordamerikaner hatten am Fenster platzgenommen und begonnen, sich lautstark zu unterhalten. Ein Pärchen saß in der Sitzecke und tuschelte. Zwei weitere Tische waren von Alleinreisenden besetzt, die jeder für sich ihr Frühstück zu sich nahmen, möglicherweise Sextouristen, die gestern Nacht nichts abbekommen hatten und nun mit langen Gesichtern am Frühstückstisch saßen.

Eddy hatte sein Rührei verspeist, dazu mehrere Toast mit Streichkäse. Nun schob er den Teller von sich weg und blickte Martin an. „Hast du nicht einen Tipp für uns? Wo kann man denn hier die wirklich guten Frauen angraben?“

Martin blickte auf ohne eine Miene zu verziehen. „Überall, da brauchst du keinen Tipp. An der Copacabana, in Ipanema, in den Restaurants, in den Bussen. Und besonders ins Zeug zu legen, brauchst du dich auch nicht. Die kommen schon auf dich zu. Allerdings nicht um diese Tageszeit. Da schlafen sie noch oder müssen ihre Kinder versorgen. So richtig los geht es hier erst am späten Abend.“

Martin griff in die Tasche und holte eine Schachtel heraus, aus der er eine Tablette entnahm und schluckte. „Außerdem“, fügte er hinzu, „ist heute der Strand noch immer wegen des unruhigen Meeres für den Badebetrieb gesperrt. Aber morgen soll es besser werden.“

Eine Falte erschien auf Eddys Stirn. „Und was sollen wir jetzt den ganzen Tag machen?“ jammerte er.

„Keine Ahnung, schaut euch die Stadt an.“

„Ich mache das sowieso“, sagte Frank. „Was ist mit dir, kommst du mit?“ fragte er Eddy.

Der zuckte nur mit den Schultern und nickte.

Die Stadtbesichtigung von Rio war kein Vergnügen. Fast alle Gebäude aus der Kolonialzeit waren abgerissen worden. Im Centro nur triste Hochhausfassaden, gesichtslose Straßenzüge und jede Menge Bettler, die die Zugänge zu den Geschäften versperrten. Dann baufällige Kirchen, in die sich in Europa niemand hineintrauen würde, und ein groteskes Weltkriegsdenkmal, das zwei großen Krücken glich. Die berühmten Spiegeleffekte am Palacio Cultura Tower waren nicht zu erkennen, dafür wurden sie Zeugen einer innerstädtischen Verfolgungsjagd von Polizei und Straßendieben. Vor dem Teatro Muncipal, einem Fake der Pariser Oper, gerieten sie in eine Demonstration, die in eine wüste Rangelei ausartete. Weder die Polizei noch die Demonstranten legten sich irgendwelche Zurückhaltung auf, es wurde kräftig zugelangt, und Frank und Eddy machten, dass sie weiterkamen. Von flotten Cariocas, die sambatanzend durch die Straßen hüpften, war nirgendwo etwas zu sehen, dafür hockten die Drogensüchtigen in den Parks, und alte Mütterlein boten Tierföeten vor den Macumbageschäften zum Verkauf an. Die Nova Catedral, Rios zentrale und größte Kirche, die mehr als 20.000 Gläubigen fassen konnte, war leer und sah aus wie ein pyramidales Parkhaus.