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Read the book: «Fridolins heimliche Ehe», page 7

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IV

Es klopfte an Fridolins Thür. Eben hatte er sich erst auf sein Sofa geworfen und suchte sich nach dieser Erregung zu fassen, sein heftig schlagendes Herz gleichsam mit den Händen zu halten, in die Zukunft zu denken, – als er es pochen hörte. Er blieb still. Neues Klopfen. Endlich trat der Pocher ungerufen ein. Es war Pastor Philipp. Seine Gestalt war noch vorgebeugter, seine Schritte noch schleifender, sein Gesicht noch blasser als sonst. So geräuschlos wie möglich ging er bis an das Sofa, auf dem der Professor lag, und setzte sich daneben auf einen Stuhl.

»Verzeih, lieber Bruder, daß ich eintrete,« sagte er mit großer Langsamkeit und mit etwas Feierlichem in der Stimme.

»Was wünschest du?« fragte Fridolin, innerlich gereizt. »Willst du wieder einmal fort?«

»Nein; das nicht. Darum komme ich nicht. Fridolin, hast du zwei Minuten für mich?«

Resigniert antwortete Fridolin: »Ich habe sie. Sprich.«

»Ich habe eben, unfreiwilligerweise, einige Worte gehört – achte nicht auf meine Stimme« (sie fing nämlich an zu zittern), »ich glaube, sie ist etwas belegt – — einige Worte gehört, über die ich mit dir reden muß. Ottilie Ritter. Du sprachst von Fräulein Ottilie Ritter. Ich wollte in mein Zimmer – und stand noch vor der Thür – und weil du leider, nach deiner Gewohnheit, sehr laut sprachst, habe ich's gehört.«

»Was hast du gehört?« fragte Fridolin, indem er auffuhr.

Der Pastor drückte ihn sanft wieder in seine Ecke zurück. »Du sollst nicht zu kurz kommen, lieber Bruder,« sagte er mit einem rührend melancholischen Lächeln: »ich werde dir auch etwas von Fräulein Ottilie Ritter sagen; so gleicht's sich aus. Es war allerdings eine Untreue gegen meine Vergangenheit – — Kurz, Fräulein Ottilie – — Es ist mir damit gegangen, wie ich niemals gedacht hätte. Ich bin wieder aufgelebt. Ich habe heute allerlei Blumen und Kräuter gepflückt wie ein junger Mensch; ich habe mit euch Fliegen gejagt; – noch vor vierzehn Tagen hätte ich ebenso gut meinen Herrn Jesum Christum verleugnet, als solche Thorheiten getrieben. Ich bin noch jung, sagst du. Ja, ich bin wohl noch jung. Es ist mir nun selber so zu Mute, als wenn ich wirklich noch jung wäre. Und da sie, wie du gleichfalls sagst, die beste Erzieherin meines Kindes ist, die ich finden könnte – und da ich leider gar kein Talent habe, allein zu leben Bitte, bleib in deiner Ecke, wie ich auf meinem Stuhl – — So hab' ich heute morgen auf meinem Spaziergang, während ich die Blumen pflückte, gedacht: ich glaube wirklich, wenn sie wollte, ich wollte wohl. – Das war es, was ich meinerseits dir zu berichten hatte.«

Während er dies sagte, lag Fridolin nicht mehr in seiner Ecke, sondern stand, gegen den Tisch gelehnt, riß die Augen weiter und weiter auf, und nickte dazu, ganz verstört, mit dem Kopf. »Auch du willst sie haben!« rief er endlich aus. »Jeder will sie haben! – Und um mir das so ins Gesicht zu sagen, kommst du herein? – Wenn du vorhin an deiner Thür gehört hast, daß ich von Ottilie Ritter sprach, weißt du dann nicht, wie es in mir aussieht?«

»Ich weiß, allerdings,« murmelte der Pastor; »ich bitte dich, rede nicht so laut. Du willst auf Fräulein Ottilie nicht verzichten, hast du gesagt —«

»Nein! ich will und werde nicht auf sie verzichten! Ich werde nicht! Nicht gegen alle Brüder der Welt —!«

»Aber was redest du von allen Brüdern der Welt,« fiel ihm der Pastor ins Wort; der immer leiser und hohler sprach, je mehr Fridolins Stimme sich erhöhte. »Ich war nur gekommen, um dir mit brüderlicher Offenherzigkeit zu gestehen, was ich meinerseits vor einer Stunde gedacht hatte —«

»Es ist gut! Denke, wolle, mache deine Pläne; nur zu! Thut alle miteinander, was ihr wollt, was

ihr könnt! Hindernisse – — O! Hindernisse machen mich nicht irre, sie thun mir gut, sie wecken meine Energie, sie reizen mich. Gebt mir Hindernisse, ich springe darüber hinweg!«

»Aber was redest du von darüber Hinwegspringen, von Hindernissen —«

»Wie!« fuhr Fridolin auf. »Wirfst du mir etwa kein Hindernis in den Weg, wenn du mir sagst: ich liebe sie auch? Reißest du nicht an meinem Herzen herum, wenn du mir sagst: ich kann nicht allein leben, sie soll bei meinem Kind bleiben, sie soll meine Frau sein? – Aber ich verzichte nicht!« rief er heftiger aus. »Nein! Sag mir nichts mehr! Ich verschließe meine Ohren, meinen Verstand, mein Herz, ich höre nicht zu. Sagt mir nichts mehr von euch; sagt mir nichts von dieser gottverdammten ›heimlichen Ehe‹! Ich will eine Ehe haben wie ihr alle, wie die ganze Welt, ich will heiraten, ich will glücklich werden, und alle eure Hindernisse sollen mich nicht hindern!«

»Um Gottes willen,« stammelte Philipp; »was

für ein Ausbruch – — Fridolin—!« – Da bricht er vollends aus und ist aus der Thür. Fridolin! – — Hat man denn diesen Mann je in diesem Zustand gesehn? – Ich glaube, ich zittere. – ›Nicht gegen alle Brüder der Welt‹ – Bin ich denn so ein unbrüderlicher Bruder, daß man mir solche Kriegserklärungen ins Gesicht werfen muß? Haben wir beide so miteinander gelebt, daß er von mir hinwegstürzt wie von einem Feind, und mir – — – Ich hätte gar nicht kommen, von meinen eigenen Gedanken gar nichts sagen sollen; – ich bereue immer zu spät. ›Heimliche Ehe‹ – was wollte er mit seiner ›heimlichen Ehe‹? Ich verstehe es nicht. – Ich dir Hindernisse geben, daß du darüber hinwegspringst? Zum Dank für all deine Liebe und Güte, deine Opfer, deine brüderliche Sorge und Treue? Ich, der ich mich hinstelle und den Menschen Christi Wort und Lehre predige-, ich, der ich weiß, wie viel besser und im Geiste reicher und in allem liebenswerter du bist als ich – —

»Nein!« sagte er laut nach diesen leisen Gedanken, und ging mit einer Entschlossenheit, die an ihm selten war, aus der Thür.

Er ging in sein Zimmer; niemand begegnete ihm. Er schloß die Thüren zum Korridor und zum Nebenzimmer ab, holte aus einer Ecke einen Handkoffer hervor, und begann, zuweilen seufzend, zuweilen aus tiefer Zerstreuung auffahrend und nachsinnend, was er denn eben gewollt, allerlei Wäsche und Bücher einzupacken. Die kunstvolle Berechnung und Ersparung des Raumes, die er dabei nach alter Gewohnheit betrieb, kostete ihn viele Zeit; denn so oft er die Entdeckung machte, daß eine noch kunstvollere Behandlung des Raumes möglich sei, packte er seufzend sein ganzes Werk wieder aus und zwang seine Hemden, Reisebücher, Strümpfe und Kirchenzeitungen, sich noch inniger aneinander anzuschließen. Als er endlich nach Verlauf einiger Stunden alles vollbracht und mit sich und mit seinem Koffer abgeschlossen hatte, schloß er noch einmal auf, holte mit vieler Mühe Tintenfaß, Briefpapier und Feder wieder hervor, die er voreilig mit eingepackt, und schrieb in seiner kleinen, steilen Schrift folgenden Brief:

»Mein verehrtes Fräulein! Ein plötzlicher, an sich unbedeutender Anlaß zwingt mich, mit dem nächsten Omnibus, der nach Mori an die Eisenbahn geht, abzureisen und Sie mit meiner Judica im Schutze meines Bruders zurückzulassen. Ob ich Sie noch hier in Riva wiedersehe, oder später erst, und wann und wo, das alles würde ich Ihnen schon heute sagen, wenn ich's heute schon könnte. Ich kann es nicht. Nehmen Sie einstweilen meinen aus tiefstem Herzen kommenden Dank für alles, was Sie an meinem Kinde gethan haben und etwa noch thun werden; und gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß, was ich auch gegen die kirchenfeindlichen Gesinnungen meines Bruders vor Ihnen geäußert haben mag (und ich hatte sowohl das Recht als die Pflicht, ihm darin entgegenzutreten!), er in allem übrigen einer der verehrungswertesten und edelsten Menschen ist. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich, der ich über sein Seelenheil leider manche Sorgenstunde habe (und ich wäre ein Mensch ohne Gewissen und Glauben, hätte ich sie nicht), daß ich ihm für sein irdisches Heil allen Segen, allen Trost, alle Liebe wünsche, die ein so liebenswertes, großes Herz für sich begehren kann. Sagen Sie ihm, mein verehrtes Fräulein, daß der Gegensatz zwischen unseren religiösen und politischen Ueberzeugungen, oder sonst irgendein Gefühl, welches es auch sei, mich nicht hindert, seinen Wünschen jeden eigenen Wunsch zum Opfer zu bringen; und daß ich in mir den tröstlichen Glauben habe, alle die Liebe, die er verdient, werde ihm zu teil werden.

»Ich werde später von mir hören lassen, wie und wo ich bin; den nötigen Reisebedarf führe ich in meinem Handkoffer mit. Der eine meiner Hüte, mit den Blumen (deren einziger Zweck war, Sie für jene unsere erste Begegnung nochmals um Verzeihung zu bitten), blieb bei Ihnen stehn; ich brauche ihn nicht, ich reife mit dem andern. Es ist heute Sonnabend, der Wirt unseres Hotels wird Ihnen die Wochenrechnung überreichen; wollen Sie sie meinem Bruder geben, daß er sie bezahle. Und nun leben Sie wohl, – und Gott gebe Ihnen und meinem Bruder gute Gedanken.

Hochachtungsvoll
ergebenst
der durch Sie glückliche Vater Judicas.«

V

Pastor Philipps Brief war vielleicht noch nicht ganz geschrieben, als Fräulein Ottilie die letzte Hand an ihre Toilette legte, in der sie beim Familiendiner erscheinen wollte. Diese Toilette war, in Ermangelung von Versen (sie machte keine), gleichsam eine Antwort auf Fridolins Gedicht: die Frisur, der Kopfputz, das Krägelchen, die Farbe ihres Kleides, alles nach Professor Fridolins Geschmack und gelegentlich ausgesprochenen Wünschen gewählt, konnten auch für eine Art von Akrostichon gelten; jedes Stück des Anzugs ein Buchstabe, das Ganze: »Fridolin.« Es war dadurch etwas Veilchenhaftes über sie gekommen, das ihr eigentlich nicht natürlich war; sie stand vor dem Spiegel und konnte nicht umhin, es leise zu empfinden; doch mit der Entschlossenheit, die jedes lebhafte Gefühl des Herzens hat, warf sie diese leise Empfindung unter den Tisch. Konnte es denn wohl noch eine Täuschung sein, daß sie Fridolin liebte? Warum hatte sie denn wieder (schon zum drittenmal!) dieses Blatt mit dem verräterischen Gedicht in der Hand? Warum hatte sie es heimlich aus seinem Zimmer geholt und sich in ihrem eigenen damit eingeschlossen? Und warum setzte sie sich nun, als Veilchen geschmückt wie sie war, mit rot blühenden und glühenden Wangen an ihren Schreibtisch, zog ein zierliches Bleistiftetui hervor, das ihr der Professor gestern abend geschenkt hatte, legte das Gedicht vor sich hin, und sah auf die letzte Zeile mit einem herzlichen, tiefen Seufzer herab?

»Ich kann diese Lücke nicht mehr sehn,« sagte sie halblaut. Dieses Gedicht behalt' ich, dachte sie dann leise. Warum legte er's auch so offen auf den Tisch? – — Wenn ich's behalte, so kann ich die Lücke ja ausfüllen: die drei letzten Silben.

 
Ich, ich liebe! Wann sagst du einmal,
Echo des Herzens: – —?
 

Nun? Echo des Herzens? – Sie dachte nicht länger, sie nahm den Bleistift und schrieb. Nach »Echo des Herzens« setzte sie an und schrieb (und es machte ihr Mühe, in die kleine Schrift des Professors ihre großen, kühnen Buchstaben hineinzuzwängen): »Ich lie —«

»Nein!« sagte sie, sprang errötend auf und warf den Bleistift hin. »Wie komm' ich dazu? Was mache ich? Gott im Himmel, was ist mit mir geschehen, daß ich so lyrische Narrheiten treibe? Und ich, ich will andre Kinder erziehn?«

Ein Klopfen an der Thür unterbrach ihre Gedanken; es war ihr recht. Sie warf das Gedicht in eines der Bücher, die auf ihrem Tisch lagen, packte die andern darauf, so daß es zu unterst lag, und ging dann an die Thür, sie aufzuschließen. Sie hatte gedacht, es sei Judica. Zu ihrer Verwunderung stand Leopold vor ihr – jetzt ohne Reisetasche, Schirm und Stock – und begrüßte sie mit einer fast zu höflichen Verbeugung.

»Darf man wagen, Sie einen Augenblick zu stören?« fragte er. »Haben Sie für mich eine Minute Zeit?«

»Einen Augenblick« – »eine Minute« – für einen Mann nicht sehr logisch! dachte sie. – »O ja,« sagte sie lächelnd, »ich hab' für Sie die gewünschte Zeit.«

»Ich sehe, daß Sie schon lächeln, mein Fräulein,« erwiderte Leopold etwas mühsam und sichtlich verlegen; »das ist kein hoffnungsvoller Anfang für mich. Ich weiß sehr gut, wie es mit mir steht. Ich bin – beklommen, verlegen; daher ungeschickt. Sehn Sie, ich sage Ihnen das lieber selbst, damit Sie es nicht hinter meinem Rücken denken, mein Fräulein. Wenn ich es selber sage, so erscheint es weniger absurd, weniger lächerlich. Darum sag' ich es selbst.«

»Eine gute Maxime, und gewiß sehr praktisch,« entgegnete Ottilie heiter und leichthin. Sie betrachtete ihn mit beginnendem Interesse.

»Es liegt in der Sache,« fuhr er fort; »die Beklommenheit, mein' ich. Erstens hab' ich Ihnen gegenüber, damals in Berlin, eine auffallende Dummheit gemacht; das liegt nun auf meinem Selbstbewußtsein, das drückt mich. Zweitens bin ich, wie ich glaube, im Begriff, eine zweite Dummheit zu begehn; das richtet mich auch nicht auf. – Bitte, lächeln Sie lieber, wertes Fräulein, als daß Sie mit diesem furchtbaren Ernst zuhören, was ich Ihnen sage.«

Sie lächelte.

»Sehen Sie, mein Fräulein, – ich hab' damals, in Berlin, behauptet, ›Sie seien es‹; und ich hab' Sie gefragt, ›ob ich es sei, oder nicht‹. Nicht wahr, ich würd' Ihnen nun ebenso unverständlich und ebenso lächerlich sein, wenn ich Sie jetzt fragen wollte: ob Sie es wenigstens werden könnten, und ob – — ob ich es wenigstens werden könnte.«

O weh, sie wird rot, dachte er; ich fange meine Sache sehr plump an; ich bin ja wohl ein Esel.

»Wirklich, mein Herr —«

»Bestes Fräulein,« fiel er ihr ins Wort, »ich bitte, haben Sie noch einen Augenblick mit mir Geduld; einen Augenblick! Es handelt sich da um einen Traum – nein, eine Vision – einen Aberglauben – — Man sucht in so einem Fall die Worte und man findet sie nicht. Könnt' ich dichten, so hätt' ich sie wahrscheinlich schon gefunden. Ich hab' es auch versucht. Ich hab' versucht, ein Gedicht darüber zu machen; in diesem Versmaß: ›Stilles Rätsel, Seele meiner Träume‹; – es ging nicht. Ich kann's nicht. Ich bin kein Poet, mein Fräulein; ich bin ein Naturfex; ein trockener Mensch; homo formica, Linné. Das einzige Gedicht, das ich in meinem Leben gemacht habe, hat sechs Zeilen und nur drei Reime; und das hab' ich noch dazu nicht allein gemacht, sondern mit meinem Freund, dem ›dicken Rudolf‹, zusammen; – übrigens, wenn ich gerecht sein will, das ist wirklich bedeutend.«

»So werden Sie es auswendig wissen,« sagte Ottilie in ihrer alten Heiterkeit; »und so bitt' ich sehr, tragen Sie es vor.«

»Es ist nur durch seine antike Einfachheit und durch die Wahrheit seiner Behauptungen bedeutend, mein Fräulein.«

»Ich liebe die Einfachheit und die Wahrheit; also bitte, tragen Sie es vor!«

Leopold ließ sich nicht länger nötigen, er rezitierte seine Verse, – dieselben Verse, die der dicke Rudolf an jenem Abend in Berlin den Leibschwaben vorgesungen hatte:

 
Trinket den Wein
So lang' er noch rot ist!
Werfet das Geld weg
So lang' es noch Kot ist!
Lebt doch der Mensch nur
So lang' er nicht tot ist!
 

»Ein nicht sehr rührendes, aber ein erbauendes Gedicht,« sagte Ottilie und lachte.

Leopold verneigte sich. »Ich hab' seitdem noch dreimal den Versuch gemacht,« sagte er, »mich ebenso aufzuschwingen; aber die Natur hatte sich erschöpft, wie es scheint; ich hab' nur diesen einen Löwen zur Welt gebracht.«

»So müssen Sie mir dieses Ihr Einziges in mein Album schreiben; – wollen Sie? Ich hab', wie so viele Gräfinnen, Pfarrerstöchter und Gymnasiasten, mir auch ein Album angelegt, für lyrische und didaktische Ergüsse. Wollen Sie so gut sein —?«

»Mein Fräulein, diese Ehre —«

»Hier ist das Album, hier ist Feder und Tinte!« – Sie suchte unter den Büchern auf ihrem Schreibtisch, holte eines in schwarzem Leder mit Goldschnitt hervor und legte es vor ihn hin. »Und hier ist ein Stuhl!«

»Meine Schriftsteller-Eitelkeit verbietet mir, mich dagegen zu sträuben; denn es könnte Sie plötzlich wieder gereuen,« sagte Leopold mit immer gemütlicherem Humor. »Also ich setze mich!« – Er schlug ein leeres Blatt in dem Album auf (es waren noch viele weiße Blätter darin) und fing augenblicklich an:

 
»Trinket den Wein
So lang' —«
 

Halt! dachte er und hielt inne.

»Nun? Warum schreiben Sie nicht?«

»Ich – ich feile noch!« gab er etwas zögernd

zur Antwort. Oho, dachte er, vielleicht brächte ich

eine Anspielung hinein auf das, was ich eigentlich will; irgend so ein Wort – — Es kommt schon; es kommt. Warum sollen wir denn immer Rotwein trinken? – Er setzte wieder an und schrieb den ersten Satz kühn zu Ende:

 
»Trinket den Wein
So lang' er noch weiß ist!«
 

»Feilen Sie noch immer?« fragte Ottilie nach einer Weile.

»Nein,« sagte er und schrieb nun, ohne wieder abzusetzen, zu Ende. Dann überreichte er ihr das Buch, mit etwas verlegenem und sehr ernsthaftem Gesicht.

»Also lassen Sie sehn, ob Sie es zu Tode gefeilt haben oder nicht!« – Sie las:

 
Trinket den Wein
So lang' er noch weiß ist!
Gebet das Herz weg
So lang's noch im Preis ist!
Lebt doch der Mensch nur
So lang' er kein Greis ist!
 

»Was soll das?« fragte Ottilie und ward rot. »Das ist – ein anderes Gedicht. Wie kommen Sie dazu, das hierher zu schreiben?«

Leopold fühlte, daß er gleichfalls errötete, und verlor auf einmal wieder all seinen Humor. »Verzeihen Sie!« stammelte er.

»Was beabsichtigen Sie mit dieser Art, zu ›feilen‹?«

Werd' es los, dachte Leopold; werd' es los! – Er nahm sich zusammen und murmelte: »Was ich —? – Eine – eine Anfrage.«

»Verzeihen Sie!« setzte er hinzu, da er sah, daß es ihr um die Lippen zuckte. »Es kam mir so in den Mund – in die Feder – — Seien Sie nicht böse, mein Fräulein Mein alter Aberglaube – denn ich glaube wirklich, Sie sind es – Und es ist so ein verrückter Zustand, nicht zu wissen, – nicht zu wissen, ob man es ist oder nicht.«

Das Fräulein schien diese letzten Worte nicht mehr zu hören; es ging ihr ein ganz eigenes, rätselhaftes Spiel über das glühende Gesicht. Indem sie die Lippen ein wenig öffnete, suchte sie mit den Augen auf dem Tisch. Aus dem Album war, als Leopold es vorhin aufgehoben hatte, um es ihr zu überreichen, ein loses Blatt herausgeglitten und lag neben den andern Büchern da; ein auf der sichtbaren Seite unbeschriebenes Blatt. In sich vertieft, wie sie war, setzte sie sich auf den Stuhl, nahm ihren Bleistift und fing an, auf diesem Blatt zu schreiben.

»Was, mein Fräulein —?« fragte er, brach aber, sowie er sich laut sprechen hörte, wieder ab.

Sie murmelte etwas, das er nicht verstand. Ihr Bleistift ging geschwind über das Papier; blieb dann stehn, wie ein gehemmschuhtes Rad; und lief dann wieder fort. Kurze Zeilen entstanden unter ihren zierlichen Fingern. Sowie sie fertig war, machte sie einen langen Haken über das Blatt herunter, stand auf und trat zurück.

»Ich soll lesen —?« fragte er verwirrt.

Sie nickte, ohne ihn anzusehn. So trat er denn neben den Stuhl, beugte sich etwas vor und las. Sie hat auch »gefeilt«! dachte er. Mit einen: Gefühl, das ihm den Atem versetzte, las er still für sich:

 
Schenket den Wein ein
So lang' er noch rein ist!
Suchet kein Herz mehr auf,
Das nicht mehr sein ist.
Lebt doch der Mensch nur
Dieweil er zu Zwei'n ist!
 

Er las es einmal, dann wieder, dann zum drittenmal; doch zuletzt nur noch mit den Augen, ohne Sinn und Verstand. Es war ihm elend zu Mut. Hätt' ich's nicht denken können? dachte er. Wer viel fragt, kriegt viel Antwort! – Endlich entstand ihm eine Art von Nebel vor den Augen, und er glaubte nur noch durch diesen Nebel die beiden Zeilen zu sehn: »Suchet kein Herz mehr auf, das nicht mehr sein ist!« Er fühlte sich tief beschämt, – und noch tiefer betrübt. Eine wahre Furcht befiel ihn plötzlich, Ottilie wieder zu sehn, oder ihr Kleid hinter sich rauschen zu hören. Er horchte, ohne sich zu rühren. Jetzt wird es rauschen! dachte er. Doch es rauschte nicht. Das Zimmer war totenstill. Er hörte nur die Fliegen, die durch die offenen Fenster wieder hereinzogen; und die Fliegenjagd, das Gespräch mit Fridolin, sein schwerer Gang hierher, alles fiel ihm wie durch einen Zug an tausend Gehirnfäden wieder ein, so daß er zusammenzuckte. Unwillkürlich wandte er sich um, als hätte Ottilie ihn von hinten berührt. Es hatte ihn aber niemand berührt. Sie war fort. Geräuschlos war sie verschwunden.

Und was thut man nun? fragte er sich in Gedanken. Etwas muß man thun! Er nahm das verhängnisvolle Blatt wieder in die Hand und drehte es hin und her, wie wenn er den Pfeil in seiner Wunde herumdrehte. »Uebrigens war es schon beschrieben!« sagte er, in seinem Elend, halblaut vor sich hin. »Auch auf der andern Seite ein Gedicht!« Mechanisch begann er die Verse auf dieser Rückseite zu lesen. Allmählich wurden seine Augen größer. und so groß wie nie. Er sah Fridolins kleine Schrift, sah die Anfangsbuchstaben (Ottilie hatte sie mit ihrem Bleistift, vor einer Stunde, einen nach dem andern unterstrichen), und sah endlich, was das »Echo« am Schluß hinzugethan hatte. »Ich lie —« stand da, – in Ottiliens Schrift. Er erkannte sie. Er hatte sie erst heute, an diesem Morgen, in Judicas Schreibheften studiert. Fridolin und Ottilie! dachte er. Großer Gott! Ja, nun weiß ich genug.

»Findet man dich hier?« fragte Fridolins Stimme. Der Professor, in seiner schönsten Sammetweste, die Krawatte in der großen, kunstvollen Verschlingung, die er selber erfunden hatte (seine Leibschwaben nannten sie den »gordischen Knoten«), Bart und Haar künstlerisch gepflegt, stand hinter ihm in der Thür. Er hatte den Jüngling gesucht, um ihm zu zeigen, daß dieser »Kampf« um Sie die Freundschaft zwischen ihnen nicht beirren solle. »Findet man dich hier?« wiederholte er, doch ohne in Ton oder Miene Eifersucht zu verraten. »Ich hoffe, du weißt, mein Sohn, daß man in einer Viertelstunde zur Tafel gehn wird; Sprachverfälscher nennen es ›Diner‹.«

»Ich weiß, daß ihr zur Tafel gehen werdet,« antwortete Leopold; – »übrigens, alles ist bereits – in Ordnung. Lies dieses Gedicht. Von dir, an sie. Hier lag es, – in ihrem Album. Und ihre Antwort steht schon darunter; lies. Wünschest du sie noch deutlicher? Ich nicht!«

Fridolin hatte gesehen, begriffen, und war nahe daran, das Blatt vor Ueberraschung fallen zu lassen; aber mit der flachen Hand fing er es noch auf. »Ottilie —!« rief er aus. Leopold beobachtete das freudige Erschrecken auf Fridolins Gesicht, beobachtete jede Veränderung, die es darauf hervorbrachte, und rührte sich nicht.

»Mein lieber Freund,« sagte der Professor endlich, mit dem weichsten Ton, den er in der Kehle hatte, – »ich bin ganz bestürzt. Das ist eine Katastrophe.«

»Das ist wenigstens eine Enthüllung, die alle weiteren Forschungen überflüssig macht,« erwiderte Leopold mit künstlicher Kaltblütigkeit. »Also sie war es nicht. Sie sah nur so aus. Ich ›analysiere‹ nun weiter!«

»Was war sie nicht?« fragte Fridolin und starrte ihn an.

»Nicht so ein Kindskopf wie ich! – — Machen wir keine Redensarten, Fridolin, mit Glückwünschen und Bedauern; jeder fühlt ja doch nur, was er fühlen kann. Ich kehre nun zur – Wissenschaft zurück. Beitrag zum Seelenleben: Abteilung ›jugendliche Mystik‹, ›Aberglauben des Herzens‹! Adieu. Auf Wiedersehn – irgendwo.«

»Irgendwo? – Was willst du? Wohin?«

»Fort,« antwortete Leopold und ging aus der Thür.