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Read the book: «Fridolins heimliche Ehe», page 6

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Damit trat er zurück, vergaß seinen Hut (in dem sich noch immer der Blumenstrauß befand) und ging, das Taschentuch statt des Hutes in der Hand, mit großen Schritten hinaus.

Da geht er, wie immer, durch die falsche Thür, dachte Ottilie, während sie ihm nachsah. Es war die Thür, die in ihr Schlafzimmer, und erst von da auf den Gang führte. – Uebrigens scheint es, ich bilde mich hier zum Blitzableiter aus; dies war, glaub' ich, schon das vierte theologische Wetter, das, statt am Professor Fridolin, an mir heruntergefahren ist! – »Nur zu, nur zu,« sagte sie und lachte. »So bleibt es beim kalten Schlag!«

II

Ein heiteres, taktmäßiges Klopfen, im anapästischen Kurz, kurz, lang, kurz, kurz, lang, pochte an die Thür.

»Herein!« sagte sie.

Der Professor Fridolin erschien. Er hatte die ritterliche Gewohnheit angenommen, zu klopfen, wiewohl dieses Zimmer nicht für Ottilie allein, auch für gemeinschaftliche Geselligkeit bestimmt war. Sein festlich strahlendes, lebensfrohes Gesicht war, obgleich ihn dieser Morgengang erhitzt hatte, nicht mehr als gewöhnlich gerötet; wie denn seine Freunde ihm nachsagten, infolge eines Naturfehlers könne er gar nicht erröten. Desto purpurner, ganz mit Rot übergossen, stand Ottilie da. Sie vermied es, so gut es ging, ihn anzusehn; wie wenn auf seinem Gesicht das Gedicht an sie, mit den sieben ersten Buchstaben, geschrieben stünde, und das Zartgefühl ihr verböte, es daselbst zu lesen. »Guten Morgen!« erwiderte sie etwas beklommen auf seine heitere Begrüßung.

»Es verlängert offenbar das Leben, nach Italien zu reisen,« sagte Fridolin: »dies ist nun schon der achte Sonntag, den ich in acht Tagen erlebe! – Ist es wahr, Fräulein Ottilie, was mir Judica vorhin sagte, daß Sie Ihren jungen Herrn Bruder morgen hier erwarten?«

»Ja,« erwiderte sie; »auf der Durchreise nach Rom. Mit einem Reifestipendium —«

»Der Glückliche! – — Aber ich beneide jetzt niemand auf der Welt. Hier in Riva ist Rom!

War nicht mein Bruder bei Ihnen? Oder irrte ich, wenn ich ihn die Fliesen des Korridors eben abwetzen hörte?«

»Sie irrten nicht,« sagte sie mit gezwungenem Lächeln; »er war eben hier.«

»Und hat sich vermutlich bei Ihnen, unserm italienischen Lexikon, unsrer lebendigen Grammatik, wieder Rats erholt? oder mich wieder bei Ihnen verklagt? wieder den Kreuzzug gegen mich gepredigt?«

»Ich glaube, dazu wäre Ihr Herr Bruder wohl der letzte Mann!« antwortete sie sanft.

»Nach Ihrer Vorstellung, ja! Sie halten ihn offenbar für einen milden, sanften Nazarener. Sie nehmen ihn unter Ihre Engelsflügel, so oft man ein Wort über ihn spricht; Sie bemuttern ihn. Als ich neulich behauptete, im sechzehnten Jahrhundert hätte er mich, seinen Bruder, lebendig rösten lassen, versicherten Sie mir, ich sei ein zweiter Franz Moor, und er ein Engel. Ich weiß, Sie beide haben sich gegen mich verschworen; Sie beide werden eine neue Sekte bilden, deren Lebenszweck ist, mit allen Andersgläubigen die Affenkäsige der zoologischen Gärten zu bevölkern; und für mich werden Sie einen besonders bauen lassen, mit der schwarzen Inschrift: ›Fridolin, der gottlose Staatsaffe oder Vernunftgorilla. Von einigen auch der Kunst-Pavian genannt. Er spuckt und beißt.‹«

»Nun?« sagte Ottilie lachend. »Hat der Herr Pastor unrecht, wenn er behauptet, daß Sie gern übertreiben?«

»Sehn Sie: wie allemal nehmen Sie sich seiner an! Ich sage kaum drei Worte, so ruft mir die ganze Sekte zu: du übertreibst! Ob ich in der Hauptsache recht habe, ob meiner sogenannten Uebertreibung die Wahrheit, die absolute, ewige Wahrheit zu Grunde liegt, darauf geht man nicht ein! – Sehn Sie, Sie lächeln schon wieder —«

»Weil mir scheint, Sie wollen mich schon wieder, wie gestern, mit dem Herrn Pastor verwechseln —«

»Verwechseln? Ich will seine Angriffe abwehren, Sie, meine Beste, treten vor und schlagen mir die Waffe aus der Hand; was soll ich thun? Ich raffe mein Schwert wieder auf und wende mich nun gegen Sie! – Glauben Sie etwa, Fräulein Ottilie, daß die Liebe zum Schönen, zur Weisheit, zur Vernunft – diese friedliche, ideale Liebe – nicht auch ihre kriegerische Kehrseite hat, den ebenso idealen Haß gegen die Feinde des Schönen und der Vernunft? Glauben Sie, daß wir Männer der Kunst und Wissenschaft nicht auch in eine große Armeeliste eingetragen und mobil gemacht sind, daß wir nicht die Soldaten des Weltgeistes und dazu berufen sind, seine Schlachten zu schlagen? Glauben Sie, Fräulein Ottilie —«

»Aber wirklich, ich widerspreche Ihnen nicht; gar nicht; ich erlaubte mir nur, zu sagen, daß Ihr Herr Bruder —«

»Der durch meine Uebertreibungen Gereizte, der ungerecht Angegriffene, der von einem zweiten Franz Moor grausam Verleumdete ist! – Sehn Sie gefälligst in dieses Zeitungsblatt, Fräulein Ottilie: hier, auf dieser Seite, können Sie lesen —«

»Ich danke; wirklich, ich glaube es unbesehn – alles, was da steht —«

»Sie glauben es? Sie glauben, daß dieser pfäffische Maulwurf, dieses Nachteulengehirn recht hat, dieser Kerl, der da in seiner deutschen Muttersprache schreibt, zur Ehre Gottes müsse das deutsche Reich wieder zerstört, die deutsche Wissenschaft wie altes Papier verbrannt, die deutsche Poesie als neues Heidentum ausgerottet werden? Dieser Weltanschauung stimmen Sie zu, Fräulein Ottilie? Aus Parteinahme für meinen geistlichen Bruder stimmen Sie ihr zu —«

»Um Gottes willen, nein! Ich stimme ihr nicht zu; ich finde, daß sie verrückt ist; – und ich bin überzeugt, auch der Herr Pastor findet sie verrückt —«

»Sie sind überzeugt – natürlich, denn Sie breiten ja stets Ihre beiden Arme schützend über ihm aus! – Nun, Fräulein Ottilie, fragen Sie ihn selbst! Geben Sie ihm dieses Blatt; dieses Zeitungsblatt! Lassen Sie ihn diese Leichenpredigt auf Deutschland lesen und fragen Sie ihn, ob er wirklich den Mut der Konsequenz hat, bis zu diesen letzten Folgerungen mitzumarschieren! Fragen Sie ihn, ob er es vorzieht, mit diesem Rabengesindel ein kanonischer Gläubiger, oder gleich uns andern ein ›höherer Affe‹ mit Idealen, mit Bildung, Vaterland, Kunst und freier Vernunft zu sein!«

Er legte das Zeitungsblatt neben ihr auf den Tisch; seine blauen Augen strahlten sie mit einer solchen Kraft der Ueberzeugung an, daß ihr in dem Augenblick wirklich nichts einfiel, das sie erwidern könnte. Judicas Stimme ließ sich im Nebenzimmer hören. Der Professor brach ab. Er machte eine Bewegung, mit. der er sich empfahl. »Fragen Sie ihn! fragen Sie ihn!« wiederholte er noch einmal. »Hören Sie, was die Sekte darauf erwidert! Und dann sagen Sie ihm, verehrte Gegnerin, was ich, der Vernunftgorilla, Ihnen gesagt habe!«

Ottilie sah ihm nach; denn mit diesen Worten ging er (übrigens durch die rechte Thür) hinaus. Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, warf sie sich auf einen Stuhl; es war ihr auf wirklich lächerliche Weise zwischen Lachen und Weinen zu Mut. Sie nahm das Zeitungsblatt in die eine, des Pastors Hut mit dem Blumenstrauß in die andere Hand. Plötzlich mußte sie lachen; – obwohl ihr etwas weh that, sie wußte nicht was. Ja, es ist begreiflich, dachte sie, daß ich ihnen allmählich unentbehrlich werde: denn seit ich da bin, können sie aufs schönste miteinander streiten, ohne daß sie die Unannehmlichkeiten des Wortwechsels haben. Ich bin ihre Rednerbühne. Ich bin die Zeitung, in der sie ihre polemischen Leitartikel niederlegen. Sie drucken sich an mir ab. Dann gehn sie erleichtert von bannen und kehren zu den Freuden des Lebens und der Bruderliebe zurück. Wirklich, ich fange an, mich für ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu halten! – Sie stand auf. Ihr alter Galgenhumor lachte ihr aus den Augen. Auf einmal fuhren ihr wieder Verse durch den Sinn:

 
»O du, holder als Alle zumal« —
»O du – —«
 

Weiter wußte sie's nicht.

»Guter Gott!« sagte sie, »für einen Liebenden, der Verse auf mich macht, hat er mir eben eine schöne Predigt gehalten!« —

»Bist du wieder da, mein Kind?« fragte sie die eintretende Kleine, indem sie sich sehr zusammennahm. »Wo hast du so lange gesteckt?«

»Ich hab' das Blatt Papier wieder auf Onkel Fridolins Schreibtisch gelegt; und dann hab' ich aus dem Fenster geguckt und – und —«

»Nun?«

Das Kind dachte nach. »Und aus dem Fenster geguckt,« sagte sie endlich; »weiter weiß ich's nicht.«

»Träumerin! Ich werd' dir Arbeit geben! – Du hast das Blatt auch genau wieder auf seine Stelle gelegt?«

»O ja! – — Ich glaube. – — Ich weiß es nicht mehr gewiß.«

»So wird es besser sein,« sagte Ottilie mit halber, etwas unterdrückter Stimme, »ich seh' selber nach!« Sie führte die Kleine an der Hand in Professor Fridolins Zimmer, das mich auf den Garten hinausging; durch das offene Fenster sah sie Fridolin unten, am See, in einer Laube sitzen. »Nun, wo liegt dieses unglückliche Blatt?« fragte sie das Kind.

Wozu fragte sie noch; sie hatte es schon gesehn.

»Hier!« antwortete Judica. »Und hier lag es auch, Tante Ottilie.«

»Gewiß?«

»Ganz gewiß.«

Ottilie nahm es nochmals in die Hand. Die kleine zierliche Schrift schien's ihr anzuthun. Ihre Augen lasen, und ihre Lippen lasen, sich leise bewegend, mit. Hat er's hier liegen lassen, dachte sie, damit ich es finden soll? Als ich ihm neulich scherzend sagte, man müsse alles Schriftliche vor mir hüten, weil ich mit meinen Luchsaugen drei Schritte weit lese, auch die kleinste Schrift – hat er sich das gemerkt? – —

Sie war wieder bei den letzten Versen:

 
Ich, ich liebe! Wann sagst du einmal,
Echo des Herzens: – —?
 

Diese drei Silben, die da fehlen, dachte sie, – hat er gar gehofft, das Echo werde sie hinschreiben? —

»Ich liebe« – wie das klingt! Plötzlich fühlte sie, daß sie ihn liebte.

III

Sie sah auf – und das Blatt fiel ihr aus der Hand. Der junge Naturforscher, Leopold, stand drei Schritte von ihr, auf der andern Seite des Schreibtisches; in grauem Anzug, eine Reisetasche über die Schulter gehängt, einen Stockschirm in der Hand. »Guten Morgen, mein Fräulein!« sagte er scheinbar ruhig mit seinem bedächtigen Baß. »Ich such' hier den Professor. Schönen guten Morgen, Fräulein Judica.«

Das Kind sprang auf ihn zu. »Wo kommen Sie her? so plötzlich?« fragte Ottilie.

»Gott sei Dank, es scheint, Sie erkennen mich wenigstens noch! – Ich komme von Berlin. Ich langweilte mich in Berlin. Ich hab' Tante Ritter gefragt, ob sie etwas an Sie zu bestellen hätte, und mit ihren Grüßen und mit dieser Reisetasche hab' ich mich auf den Weg gemacht.«

Ottilie starrte ihn etwas befremdet an. Will er mich noch einmal fragen, dachte sie, ob »er es ist«? – »Der Herr Professor wird sehr erfreut sein,« stammelte sie. »Sie kommen direkt —«

»Ja. Ich hab' mich wie einen Koffer expediert, und bin nun da.«

»Meine Tante ist wohl?«

»Ihre Tante ist schön und gesund, Berlin ist eine Wüste, und ich bitte Sie, Fräulein Ritter, geben Sie mir eine Hand.«

»Welche Sie wollen – hier. – Judica! Ruf den Onkel! Sag ihm, wer hier ist.«

Judica stürzte ans Fenster; es war aber nicht mehr nötig, Fridolin zu rufen: denn durch die Thür, die Leopold beim Kommen halb offen gelassen hatte, trat der Herr Professor eben mit einem sonderbaren Gefolge ein. Im Gänsemarsch gingen Pastor Philipp und der Wirt des Hotels – ein kleiner, munterer Italiener mit gelbem Gesicht und schwarzem Kraushaar – hinter Fridolin her; alle drei mächtige grüne Büschel in der Hand, der Italiener lachend, die beiden Brüder mit komisch ernsten Gesichtern. Als Fridolin Leopold erblickte, stutzte er einen Augenblick; doch gleich darauf drückte er dem Jüngling, ohne ein Wort zu sagen, seinen Büschel in die Hand, bedeutete ihm, sich dem Zuge anzuschließen, und griff in die Ecke neben der Thür, wo ein ganzer Haufe solcher Büschel lag. Mit einem von ihnen bewaffnet setzte er den feierlichen Marsch durch das Zimmer fort; verneigte sich mit dem lächerlichsten Pathos vor Fräulein Ottilie, und ging dann in den entferntesten Winkel des Zimmers voran. Die andern folgten; auch Leopold, der mit philosophischer Ruhe erwartete, was geschehen werde. Judica hatte sich hurtig gleichfalls mit einem Büschel versehen und stapfte hinter ihm her.

Als der Professor bis in die Ecke gekommen war, wandte er sich zu Ottilien zurück und sagte: »Vossignora« (ein halb fragender, halb stolzer Blick auf den Wirt; dieser nickte) oder L«ce1teri?g. haben gestern die Klage auszustoßen geruht, daß in diesem sonst paradiesischen Aufenthalt jene kleinen geflügelten Dämonen, welche man Fliegen nennt, sich mit einer Schnelligkeit vervielfältigen, die die Naturkundigen unter uns leider nicht befremdet. Soll man wünschen, daß der Dame unseres Hauses durch diese geflügelten Dämonen das Leben verbittert werde? Nein. Was soll man also wünschen? Daß diesen Dämonen hier das Leben verbittert werde. Genehmigen Sie also den vor Ihnen stehenden, von mir organisierten ›Chor der Fliegenjäger‹, der es sich zur Aufgabe machen wird, täglich zu wiederholten Malen für die Ruhe Ihrer Seele und den Frieden Ihrer Nase zu sorgen, und der in diesem feierlichen Augenblick beginnt —«

Dieser Schlußsatz der Rede wäre so würdig vollendet worden, wie er begonnen hatte, wenn sich nicht gerade jetzt dem Redner eine große Fliege auf die schöne Nase gesetzt und ihn so unversehens gekitzelt hätte, daß er alle Haltung verlor und mit der freien Hand nach ihr schlug. »Verdammte Bestie!« schloß er seine Rede. Alle fünf Büschel schlugen dann gleichzeitig auf diese unparlamentarische Fliege los. Sie entfloh in eine andere Ecke, der Pastor ^verfolgte sie mit seinen längsten Schritten; Judica krähte vor Vergnügen; der Italiener jagte mit vielen Maledetta's hinter seinen Landsmänninnen her; ein wildes Chaos entwickelte sich. Endlich lief Ottilie, sich die Ohren zuhaltend, hinaus. Die Fliegenjäger folgten ihr aber, von Fridolin geführt; sie ordneten sich, sie kämpften in den anderen Zimmern systematisch, die Wände gleichsam mit vollen Salven bestreichend und, wie bei Treibjagden, nach den offenen Fenstern zu eine Kette schließend. Endlich glaubten sie gesiegt zu haben, warfen ihre Büschel auf einen Haufen, und Judica stieß ein Triumphgeschrei aus. Der Wirt verschwand; der Pastor, dessen sich eine unchristliche Berserkerwut bemächtigt hatte, verfolgte noch mit Judica eine letzte Fliege bis in Ottiliens Schlafzimmer; Leopold aber warf sich erschöpft in eine Sofaecke und streckte die Beine von sich.

»Ein furchtbar unpraktisches Verfahren!« sagte er mit einer Art von Erbitterung.

»Alles Bedeutende erscheint zunächst unpraktisch,« entgegnete Fridolin, der sich, nicht weniger erschöpft, in einem »Faulenzer« ausstreckte. »Uebrigens, guten Morgen! Uns so zu überraschen, war eine gute Idee.«

»Weil ich in dem verwünschten Berlin keine andere Idee mehr hatte, hatte ich diese. Guten Morgen! – Uebrigens« – er sah sich um – »wo sind wir hier?«

»In Philipps Zimmer.«

»Wo ist – Fräulein Ottilie geblieben?«

Ehe Fridolin antwortete, hörte man aus dem Garten herauf einen leisen Gesang. Fridolin horchte; sein Gesicht verklärte sich. Endlich deutete er mit einem Finger dahin, von wo die Stimme heraufkam.

»Sie ist offenbar vor unserm Kriegslärm entflohn!« sagte Leopold.

Fridolin blickte Leopold an, ohne etwas zu erwidern. Dann, nach einer Weile, sagte er: »Verständigen wir uns, mein Sohn. Gehen wir keine Schleichwege um einander herum. Nicht wahr, du bist hergekommen, weil du die oben genannte Dame – wiedersehen wolltest.«

»Nehmen wir an,« erwiderte Leopold nach einer Pause, »daß es so ist.«

Der Professor versank in Schweigen. Nach einer viel längeren Pause sagte er endlich: »Es war zu erwarten; denn es ließ sich denken.«

»Brauch' ich dir zu sagen, mein Freund,« setzte er nach einer neuen Pause hinzu, »daß ich bei dieser Sache, wie man zu sagen pflegt, ein – Interesse habe?«

»Ich war so frei, es bereits zu erraten,« antwortete Leopold. »Diese Fliegenjagd war eine von deinen Liebeserklärungen; nicht? – Du bildest dir ein, Fräulein Ottilie zu lieben.«

»Ich bilde mir's ein? Wieso?«

»Nun, da du doch weißt, daß du mit dir selbst in der bekannten ›heimlichen Ehe‹ lebst.«

Fridolin schwieg hierauf wieder eine Weile. »Mein guter Leopold,« sagte er dann mit überlegenem Lächeln, »diese Phantasie hast du also ernst genommen, wie ich sehe.«

»Wie?« sagte Leopold verdutzt und richtete sich auf: »eine Phantasie

»Ja. Bleib sitzen. Rege dich nicht auf. Diese lange Seelengeschichte, die ich dir damals erzählte – vielleicht machte ich mir nur den Spaß, dir, dem Naturforscher, eine merkwürdige ›psychologische Naturerscheinung‹ plausibel zu machen. Vielleicht um dir zu zeigen, mein Sohn, daß ich doch noch dein Meister bin. Du hast meine wissenschaftliche Auseinandersetzung gläubig hingenommen —«

»Fridolin!« unterbrach ihn Leopold, der nun vor ihm stand und ihn mit seinen forschenden Augen zu ergründen suchte. »Hast du damals Komödie gespielt, oder spielst du sie jetzt

»Ich überlass' es deinem Scharfsinn, mein Teurer, darüber ins klare zu kommen. Du bist ja ein bedeutender Kopf.«

»Jedenfalls – jedenfalls glaubst du Fräulein Ottilie zu lieben?«

»Ich hätte das Recht, mein Sohn, darüber zu schweigen; aber ich find' es würdevoller, dir offen zu antworten: Ja. Ich glaube nicht zu lieben, sondern ich liebe

»Hm! – Und was die Gegenliebe betrifft – —«

Leopold wartete auf Antwort.

»Vielleicht hältst du, junger Mensch, es für eine Thorheit, daß ich mit meinen vierzig Jahren noch die Liebe eines jungen Mädchens zu gewinnen hoffe; aber ich – so wie du mich hier in diesem Lehnstuhl liegen siehst – ich hoffe es.«

Unwillkürlich atmete Leopold auf; er hofft nur! dachte er. – »Was ich dann noch sagen wollte —« fuhr er fort.

»Sage es.«

»Du denkst sie zu heiraten

»Was dieser junge Mann alles fragt! – Ja, ich denke sie zu heiraten. Natürlich wenn sie will.«

»Du denkst sie jedem andern streitig zu machen?«

»Auf die Art, die meiner würdig ist: mit den Waffen des Geistes und des Herzens – ja. Das denke ich.«

Leopold ging im Zimmer auf und ab. Er zog sein Taschentuch hervor und rieb sich damit die Stirn. Der Professor folgte ihm mit den Augen, ohne sich zu rühren. Endlich blieb der Jüngling vor ihm stehn, mit einem feinen, klugen Lächeln um die bartlosen Lippen; während die grauen Augen Fridolin scharf beobachteten. »Es scheint mir, du bist im Stadium der Selbsttäuschung,« sagte er.

»Inwiefern?« fragte der Professor.

»Ich erinnere mich, daß du mir damals sagtest – ungefähr so war's —: ›Ein reizendes Frauenzimmer entzückt mich; ich verliebe mich. Weiß ich nun noch, daß ich auch eine weibliche Hälfte habe, mit der ich innerlich verheiratet bin? Nein. Ich hab' es vergessen. Ich weiß nicht, daß ich es wußte.‹«

»Das alles hätt' ich dir damals, abends im Tiergarten, gesagt?«

»Ja. Mein Gedächtnis ist nicht übel, wie du weißt. Du sagtest mir noch mehr: ›ich beabsichtige sie zu heiraten,‹ sagtest du; ›ich bin nur noch ein verliebter Mann; ich dichte, ich werbe‹ – — Das ungefähr waren deine Worte.«

»So! – Und daraus schließest du nun —«

»Daß dieser Zustand, in dem du deine heimliche Ehe verleugnest, auch jetzt wieder über dich gekommen ist; daß du dich jetzt nicht kennst.«

Der Professor stand auf. »Und du, der zweiundzwanzigjährige Fant, kennst mich besser als ich?«

»In diesem Augenblick, ja. Du willst Fräulein Ottilie heiraten? Du darfst sie nicht heiraten; das wäre Bigamie.«

»Das wäre Bigamie?« – Fridolin erhitzte sich. Er verlor seine lange bewahrte philosophische Fassung; er schüttelte seine große Jupiterlocke, daß sie hin und her flog. »Mein liebes Kind!« sagte er, »weil ich dir einmal eine allegorische Fabel vorgetragen habe, die ganz zu verstehn du leider noch viel zu jung bist, darum dürft' ich nicht heiraten? Und weil du dich zufällig in eben dieselbe Dame vergafft hast und ihr von Berlin an den Gardasee nachgereist bist, darum wär' es Bigamie, wenn ich Ottilie Ritter heiratete? – Ich bitte dich, laß mich ausreden; auch ich will einmal ausreden – ich, der Mann, den jeder unterbricht. Es wird offenbar Zeit, mein Sohn, daß ich dir folgendes sage! Wenn ich noch nicht entschlossen war, Ottilie Ritter zu heiraten, so bin ich es jetzt. Und ich bin entschlossen, der musterhafteste Ehemann zu werden, den es gibt! Ich bin entschlossen, euch jungen Mannsbildern von heute, euch fischblütigen Naturforschern und Verstandesknechten zu zeigen, wie so ein Idealist aus der alten Schule die wahre Liebe und die wahre Ehe versteht! Und endlich bin ich entschlossen, dir zu beweisen, mein Lieber, daß ich ein freier Mensch bin und thun kann, was ich will! – Bist du mein Nebenbuhler, – gut! Thu, was du kannst. Setz deine verständige Jugend gegen mein unverständiges Alter. Laß es uns gegenseitig für eine Ehre halten, miteinander um Ottilie Ritter zu kämpfen. Aber bilde dir nicht ein, daß ich vor deinen Einreden zurückweiche! – Ich hab' deine Schwester geliebt und dann auf ihrer Hochzeit mit einer andern getanzt; ich hab' Therese Fischer geliebt und bin dann, als mein Bruder Franz sie heiratete, sein Trauzeuge gewesen; aber bilde dir nicht ein, mein Lieber, daß ich auch auf Ottilie Ritter freiwillig und gutmütig verzichte. Kämpfe mit mir – und siege, wenn du kannst!«

»Fridolin!« rief Leopold, der nun endlich zu Worte kam, hinter ihm her. Aber Fridolin lief hinaus. In der Thür hätte er beinahe den Pastor Philipp über den Haufen gerannt, der blaß und mit sehr verstörten Gesichtszügen dastand. Doch ohne auf ihn zu achten, lief Fridolin an ihm vorbei und in sein eigenes Zimmer, und ließ den jungen Naturforscher mit der sich auflösenden Naturerscheinung der heimlichen Ehe allein.