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Die Mühle zu Husterloh

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Wie lange sie so gestanden? Wer wird das fragen! Vielleicht ständen sie heute noch, wenn nicht die Tritte anderer Gäste, die heimwärts strebten, sie verscheucht hätten. Agnes, deren aufmerksames Ohr zuerst wieder Fühlung mit der Erde gewann, zog den Geliebten aus dem Bereiche des Lichtes und tauchte mit ihm in den Nebel unter, der die Seiten des Berges bedeckte. Hier, wo das feuchtgraue Dunkel sie wie furchtsam frierende Kinder enger aneinanderpresste, fand Agnes zuerst die Sprache wieder.

»Wie weit haben wir noch nach Hause?« klang es von ihren Lippen.

»Ach, dass es nur noch eine kleine Stunde ist und nicht eine kleine Ewigkeit,« gab Hans zurück.

»Unser Hans ist im Himmel, und bis dahin könnten wir doch zusammengehen,« sagte Agnes fromm.

»Ja, mein Herz, das wollen wir, und wenn der Weg durch brot- und wasserlose Einsamkeiten führen sollte.«

»Das wird er nicht, in einigen Jahren ist mein Hans ein Herr Doktor und übernimmt die Sorge für sein Weib. Bis dahin aber, Guter, musst du mir erlauben, dir beizustehen. Siehe, ich darf die Schuld meiner Dankbarkeit nicht so hoch anwachsen lassen, dass ich dir späterhin durch Treue die Zinsen nicht zahlen könnte. Mein Liebster, zeige, dass du mich lieb hast, indem du mir gestattest am Werke deiner Vollendung mitzuarbeiten. Gewiss, ich spüre keinen Geheimnissen nach, aber wer kann dem Flüstern des Windes sein Ohr verschließen? Siehe, Hans, ich weiß es, dass dein guter Vater nur schwer die Last der Sorge trägt, die auf seinen Schultern liegt. Dein Aufenthalt auf der Universität wird sie vermehren. Sei gnädig, du mein Bester, und lass mich ihm helfend beispringen. So kann ich einst sagen: Das, was ist, ist zu einem kleinen Teile auch mit meiner Hilfe erreicht, und ich stehe nicht so arm vor dem, der mir so reichen Schatz in seiner Liebe schenkt.«

Hans war betroffen und gerührt zu gleicher Zeit. Zum ersten Male hatte er aus fremdem Mund, wenn auch mit schonenden Worten, gehört, was er seither nur von Suse wusste, dass der Glanz des Vaterhauses am Erbleichen war. Der hohe Ernst des Lebens redete zu ihm durch den liebsten Mund, den die Erde trug, und verfehlte nicht eines tiefen Eindruckes. Rasch wie der Schaumwein aus der Flasche sprudelt, schoss aus seinem Gemüte der Vorsatz, dem festgesteckten Ziele auf geradem Wege mit sicherem Schritt entgegenzugehen. Er wollte der starke Stamm werden, an dem die niedergewehte Rebe der ganzen Familie sich aufrichten sollte, und dass Agnes die stille Kraft werden wollte, die seine Wurzeln speiste, erfüllte ihn mit heiliger Verehrung für sie.

Er zog das Mädchen an sich heran und küsste sie in Dankbarkeit auf die kluge Stirn. Sie schlug die Arme um seine Schultern, überglücklich, dass das Band ihrer Liebe noch durch ein wirtschaftliches verstärkt worden sei.

Bald standen sie vorm Elternhause des Mädchens, obwohl sie nicht gesprungen waren. Der Mond hatte bereits Abschied genommen von den Zweien. Nun mussten sie es voneinander tun. Sie taten’s auch, das Herz geschwellt von freudigen Erwartungen und mit dem festen Vorsatze, einer dem anderen Geist und Körper rein zu erhalten und so ihr gemeinsames Lager ohne reuevolle Hintergedanken zu einem frommen Altare der Liebe zu gestalten.

In den nächsten Tagen hieß es im Dorfe: »Hans Höhrle ist aus der Kutte gesprungen.«

»Doktor will er werden,« sagte Indigo, der Blaufärber, »ob’s ihm dazu reicht? Zum Pfarrer braucht man einigen Verstand, zum Advokaten mehr, zum Doktor am allermeisten.«

»Ich hab’s gedacht, dass was Besseres aus ihm wird,« meinte Pappdeckel, der Buchbinder. »Denn sein Studieren dauerte mir schon zu lange, der muss doch übern Pfarrer längst hinaus sein.«

»Das reißt seiner Mutter den Herzbändel durch,« orakelte Röse Ricke, »der viele Ärger über Groß und Moos hat sich ihr auf die Leber geschlagen, bereits sieht sie aus wie der Schweizerkäs. Nun auch das noch, wenn sie erst dem Limburger gleicht, dann ist damit das Leben prinzipiell nicht mehr vereinbar.«

So waren auf unseren Hans am Scheidewege die Augen vieler gerichtet. Wenige begleiteten ihn mit herzlichen Segenswünschen, die meisten erwarteten fromm, dass der neue Ikarus mit abgeschmolzenen Fittichen in den Sumpf des Stumpfsinnes zurückfallen möchte, in dem sie selber quakten.

15. Kapitel

So saß denn Hans eines Tages mit der Liebe im Herzen und einem Billet dritter Klasse in der Westentasche in der Eisenbahn und fuhr der kleinen Landesuniversität entgegen, die aus ihm einen Doktor machen sollte. Als er den Wagen verließ, trat er unter ein buntes Gemenge von allerlei Leuten, die schwerlich des Studiums halber hierhergekommen sein konnten. Frauen in kurzen, faltenreichen Röcken trugen Körbe auf dem Rücken, und Männer in blauleinenen Kitteln hatten in buntgewürfelten Kissenüberzügen mancherlei Waren verstaut, die sie in der Stadt eingekauft hatten. Hier drückte einer einen kleinen Handkarren, dort zog einer an einem Stricke ein störriges Kalb hinter sich nach. Körbe mit Hühnern standen da herum, und aus Zwergsäcken, die am Boden lagen, hörte man das missvergnügte Grunzen junger Ferkel. Das sah alles so nüchtern, so trivial aus, das roch so sehr nach Landwirtschaft, dass unserm Hans der Gedanke kam, er könne die Alma mater überfahren haben. Doch da gewahrte er mit einem Male oben am Perron eine Gestalt in schwefelgelber Mütze, die wie ein Leuchtturm die langsam sich verlaufende Menge überragte. Das konnte ein Student sein, und unser junger Mann machte den schüchternen Versuch, sich der distinguierten Persönlichkeit um einige Schritte zu nähern. Richtig, er erkannte über der blühend weißen Hemdenbrust ein buntfarbiges Band. Das war also einer seiner zukünftigen Kommilitonen. Aber dies Gesicht schien ihm noch mehr verraten zu wollen. War das nicht? Ach, kein Zweifel, er musste es sein, es musste der Ignaz Kaufmann sein, der hier an einen riesenhaften Neufundländer gekettet war, oder der Hund an ihn.

Noch hatte Hans den frohen Gedanken nicht ganz zu Ende gedacht, als Kaufmanns Stimme ihm entgegenhallte: »Ah, sieh da, Hans Höhrle, hast du den Weihwasserpinsel aus den Fingern fallen lassen, um hier den Schläger in die Faust zu nehmen, so sei willkommen! Und wenn ich dir mit irgend etwas dienen kann, so verfüge über mich.«

Damit legte Ignaz seinen Arm in den des Schulkameraden und betrat stolzen Schrittes mit ihm den Wartesaal zweiter Klasse. Der Hund hinterher in einem ziemlich genau ausgerechneten Abstand, als ob er sagen wolle: »Zwar gehöre ich dazu, doch stimme ich im Konvent nicht ab.«

Die Dame am Buffet grüßte verbindlich und einige Kellner sprangen herbei und machten Miene, als ob sie Stühle zum Empfange so erlauchter Gäste bereitstellen wollten. Ignaz Kaufmann bewegte nur ein klein wenig seine Reitpeitsche vom Ohre bis etwa an den rechten Augenwinkel, und er war verstanden. Die Kellner wussten es, und am Buffet wusste man es auch: »Jetzt eben nicht, ein anderes Mal.«

Im Bahnhofsportal standen die Dienstmänner stramm, als die zwei vorüberschritten, und Lohnkutscher auf hohem Bocksitz hoben die Peitsche vor die Nase und neigten den Zylinder so weit nach vorn, bis er den Stiel berührte. Hans war verblüfft von all den überraschenden Ehrungen, die man ihnen erwies, und er fragte sich verwundert, durch welche hervorragende Tat sein Freund Ignaz sich diesen hohen Respekt in den vierzehn Tagen seines Hierseins verdient haben könne. Den tieferen Grund, dass nämlich alle diese Reverenzen nur vor der Mütze, vielleicht auch vor dem Hunde, gemacht wurden, begriff er noch nicht.

Auf der Treppe stehend, rief Kaufmann mit einer feudalen Geste einen Rosselenker herbei. Im Nu hielt der Wagen genau zwanzig Zentimeter vor ihren Zehenspitzen. Die zwei »Cives academici« stiegen ein, und in scharfem Tempo trabten die Pferde stolz erhobenen Hauptes, als ob sie Prinzen von Geblüt hinter sich hätten, hinein in das überhängende Giebelmeer der spießbürgerlichen Straßen. Der Hund lief vor den Pferden her, doch keineswegs in aufgeregten Sprüngen, sondern gesittet und wohlerzogen, gerade soweit, dass die Pferde mit den nicht allzu runden Knien ausholen konnten, ohne ihm auf den Schwanz zu treten.

Wohin es ging, war allen bekannt, mit Ausnahme unseres Hans Höhrle, und als das richtige Wirtshausschild erreicht war, schwenkte der Neufundländer rechts ab. Die Pferde parierten urplötzlich. Die beiden Freunde stiegen aus, und der Kutscher machte auf der Sollseite seines Notizbuches eine kleine Bemerkung.

Im Treppenhaus war es dunkel und feucht. Die Stufen waren ausgetreten, und wenn Hans seiner Nase Glauben schenken konnte, musste er annehmen, dass hier kleine Bierkaskaden sich von Stufe zu Stufe stürzten.

Der Eintritt der beiden Freunde in die Schankstube erregte einen erstaunlichen Aufstand. Ignaz führte den neuen Fuchs an die besterleuchtete Stelle des Raumes, verneigte sich und nannte seinen Namen: »Hans Höhrle.«

Von allen Seiten stürzten nun Männer mit narbigen, zuweilen fast noch blutigen Gesichtern auf ihn zu, um sich vorzustellen. Hans hörte eine Menge seltsamer Familiennamen, von denen er keinen einzigen behielt, nur die Namen fast prähistorischer Völker wie der Vandalen, Alemannen, Heruler und Goten blieben in seinem klassisch geschulten Gedächtnisse haften, und er kam sich vor wie einer, der in einem ethnographischen Museum sich den Resten der Völkerwanderung gegenüber sieht. Sogar der Hund stammte aus dem alten Testament. Er hieß Holofernes.

Ignaz zog seinen Schulkameraden nach einem Tische herüber, wo eine muntere Schar in gelben Mützen saß, die ihm äußerst zuvorkommend Platz machten. Die mit den grünen und blauen Mützen zogen sich zurück, und Hans hörte nur noch, wie eines ihrer bemoosten Häupter sagte: »Jungburschen, wenn der auch noch bei den Gelben aktiv wird, nachdem sie den Riesen Kaufmann schon haben, dann die Gnade Gottes über eure Wetterseite. Es liegt ein barometrisches Minimum über dem Lande der Franken und Cherusker, und ich fürchte, dass wir starke Niederschläge haben werden.« Einen Augenblick waren die Blicke aller fragend auf Hansens schlanke Fechterfigur gerichtet, dann aber verschlang der Lärm des Zutrinkens, der Witzworte und der gegenseitige Austausch der Ferienerlebnisse jede Sorge für die Zukunft. Einer oder der andere schien schon etwas hoch zu haben, umarmte seinen Nachbar, bot ihm Schmollis an und verabredete für den folgenden Tag einen kleinen Exbummel in die Umgebung. ›Man musste sehen, ob Censie, die kleine Kellnerin, noch im Schwarzen Wallfisch wäre und ob die Mutter Erk auf der Schottenmühle reife Handkäs hätte.‹

 

Gegen zwölf Uhr erreichte der Frühschoppen sein Ende. Hans verabschiedete sich, aß in einer billigen Restauration, neben Posteleven und Betriebsassistenten und machte sich dann auf die Suche nach einer Wohnung. Am schwarzen Brette der Universität hing ein Zettel, durch welchen »eine ruhige Witwe mit einer Tochter in gesetztem Lebensalter einen soliden Mietsherrn zu mäßigen Preisen suchte.« Hans, der die Verhältnisse seines Vaterhauses in Betracht zog und mit wenigem auszukommen dachte, schrieb Straße und Hausnummer in sein Notizbuch und machte sich auf die Suche. Nicht lange und er fand, was er brauchte. Vor einem Gemeindebrunnen stand ein gebrechliches Haus, das seinen neugierigen Giebel so weit nach vorn neigte, dass er durchs Bodenfenster wie durch ein Monokel sehen konnte, was hinter den Scheiben des Erdgeschosses vorgehe. Es regnete gerade ein wenig, und unter den überhängenden Stockwerken war auf dem Pflaster der Straße ein allerliebstes trockenes Plätzchen. Hier standen hübsch vor Nässe geschützt einige dralle Dienstmädchen. Sie schienen wenig Eile zu haben, hatten die Hände in die Schürzen gewickelt und warteten, bis sie an den Pumpenschwengel kamen.

Hans musterte die Höhe der Stockwerke und rechnete aus, dass er von den Fenstern der ersten Etage aus die Mädchen des Abends bei den Zöpfen fassen könne. Dies schien lustig zu werden und war eine interessante Beigabe, wenn das Logis sonst annehmbar war. Die Mädchen, die ihn sahen und seine Absicht errieten, kicherten, und eine von ihnen, die Speckarme in die Hüften gestemmt, meinte: »Entweder muss der Herr in zwei Stockwerken wohnen, oder er muss sich Knöpfe in die Beine machen, damit er seinen langen Leib auf einer Etage unterbringt.« Die anderen belachten weidlich diesen Witz und sahen unseren Hans nicht eben schüchtern an, so dass er in Verlegenheit geriet und eilig der Tür zuschritt.

Ehe er’s noch gedacht hatte, war er drei Stufen hinuntergefallen in ein schmales dunkles Gängchen, das vom Hofe her ein mattes Tageslicht erhielt. Hans, der sich an den Wänden noch gefangen hatte, traute seinen Augen nicht, als er da hinten in dem zerstreuten Lichtschimmer eine Anzahl Weiber wie Schattenbilder mit Besen aufeinander losschlagen sah. Sollte da »die ruhige Witwe mit der Tochter in gesetzten Lebensjahren« dabei sein?

Hans verspürte kein Verlangen, die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten und hoffte, sich unbemerkt wieder davonstehlen zu können. Allein ein Draht, der beim Schließen der Tür an einer kleinen Schelle im Hofe zupfte, hatte ihn verraten, und ehe er’s noch vermuten konnte, war er in dem engen Raume zwischen anderthalb Jahrhunderten, die Mutter und Tochter annähernd zusammenbrachten, eingekeilt.

Die Damen massierten zunächst mit vieler Sorgfalt den Rest von Unmut, der von der Balgerei mit den Nachbarsleuten her noch in den Runzeln ihrer Gesichter lag, hinaus, spuckten auf die Finger, glätteten das etwas in Unordnung geratene Haupthaar und ließen dann die melusinischen Quellen ihrer Beredsamkeit sprudeln:

»Ach, du mein Gott, wer heutzutage auf Reinlichkeit hält, hat einen schweren Stand. Sehen Sie, mein lieber Herr, bei uns ist alles blank, aber die Nachbarschaft, gerechter Himmel, sie erstickt im Dreck. Und doch haben sie für dieses Semester bereits vermietet, während wir noch leer stehen. Ja, aber man weiß ja, die Frau jung, der Mann auf einer Lokomotive. Ja, mit so was können wir nicht aufwarten. Aber wir brauchen doch nicht zu dulden, dass sie in dem gemeinschaftlichen Hofe Hühner halten.«

»Na, sicher nicht,« sagte Hans, der den Monolog an dieser schicklichen Stelle unterbrechen zu können dachte.

»Na, also,« fiel von den zwei Alten die Jüngere ein, »und doch will uns das Gesetz nicht schützen. So helfen mir uns denn selbst, und der Schlag, der an einem Huhn vorübergeht, trifft sicher auf eine Gans, denn das ist sie, sie ebensowohl wie ihre Schwester, die gewiss beide der Teufel holt, wenn’s einmal an Mädchen für alles, verstehen Sie, für alles, in der Hölle fehlen sollte.«

Hans hatte genug von der Sorte ruhiger Zimmervermieter und wollte zur Tür hinaus, aber das ging nicht. Die Tochter in dem »gesetzten Lebensalter« hatte ihm durch eine Flankenbewegung den Rückzug verlegt und drückte ihn einfach wie einen Schubkarren vor sich her. Die Alte marschierte an der Tête und so kam das feierliche Dreigespann über eine dunkle, von vielfachen Podesten unterbrochene Treppe nach der ersten Etage. Beim Überschreiten der Türschwelle musste Hans Höhrle sich bücken. Als er sich aber, im Zimmer angekommen, wieder strecken wollte, stieß er erbärmlich seinen Schädel wider die Decke und quittierte den Empfang einer nussgroßen Beule in den Kopfhaaren mit einem ärgerlichen: »Gott verdamm mich.«

»Nur nichts Unchristliches,« jammerte die Alte, »‘s ist nur, bis man sich daran gewöhnt hat,« und schob unseren Studio gegen die Fenster hin, wo er in der Tat so viel Raum über sich hatte, dass er sich in seiner ganzen Größe entwickeln konnte. »Hier steht Ihr Schreibpult, Herr Doktor,« flötete die Jüngere, »und wenn Sie beim Lernen den Kopf etwas über die Bücher beugen, wie man ja muss, so werden Sie sehen, dass es sich bei uns gut wohnen lässt.«

»Und wo ist das Bett?« fragte Hans. Die Tochter trat zur Seite, und in der Pose eines Cherubins, der das verschleierte Himmelreich enthüllt, schob sie einen Kattunvorhang zur Seite und gestattete somit einen Einblick in einen kleinen Alkoven, zu dem man auf drei Stufen hinaufsteigen musste. Hier stand eine Bettstelle, der man die Füße abgesägt hatte, damit sie nicht zu hoch hinauswollte.

Hans erschrak, als er diese Ruhestätte sah und verstieg sich zu der ironischen Bemerkung: »Hier muss wohl der Mensch zuerst in die Horizontale gebracht und dann wie Brot in den Backofen auf einem Schieber eingeschossen werden?«

»Der Herr Doktor belieben zu scherzen,« flöteten die zwei Quartiergeberinnen. »Hier haben schon Leute geschlafen, die nachher Minister wurden und noch Höhere. Wollen sich der Herr nur näher bemühen, er kann sich selber überzeugen.«

Hans senkte eines seiner Knie auf die Stufe nieder und drehte den Kopf dem Plafond zu. In der Tat, auf dem weißen Kalkanstrich entdeckte er eine Masse mit Bleistift hingeschriebener Namen, studentischer Zirkel, Zitate aus dem Corpus juris und Bibelstellen. Auch waren ganze Kunstwerke zu sehen, gekreuzte Säbel und Schlägerklingen, Totenköpfe, Kater, die Heringe fraßen usw., und Hans musste die Überzeugung gewinnen, dass Lernbeflissene aller drei Fakultäten hier in diesem Holzkasten bereits unzählige Räusche ausgeschlafen hatten. Die Einrichtung war ja bequem. Man konnte auf dem Rücken liegend mit der Hand die Decke erreichen, und unser Studio fing an, sich in den Gedanken hineinzuleben, dass auch er eines Morgens erwachen und die Kunstausstellung da oben um ein Dackelporträt bereichern könne.

Doch zunächst wollte er noch einmal durch die Straßen der Stadt irren und nachsehen, ob sich nicht doch was Besseres fände. Im Gehen fragte er nach dem Preis. Der war sehr annehmbar, zumal da die Alte noch in Aussicht stellte, etwas herunterzugehen, wenn der Herr Doktor sich des Morgens mit Malzkaffee begnügen wolle, einem Göttertrank, der, wie sie versicherte, sehr gesund und nur wenig aufregend sei.

Hans versprach, sich die Sache überlegen zu wollen und wiederzukommen, und in der Tat, das log er nicht. Das Bild seines Vaters war ihm vor die Seele getreten, und der Gedanke, dass er durch äußerste Einschränkung seiner Lebensbedürfnisse ihm seine schwere Arbeit erleichtern könne, packte ihn und weckte den Vorsatz, zu sparen, wo immer es möglich sei. So kam er aus dem Hause heraus und rechnete mit der Möglichkeit, dass er doch vielleicht noch einmal dahin zurückkehren werde.

Wie er so die Häuser begaffend wandelte und nach kleinen Täfelchen suchte mit der Aufschrift: »Zimmer zu vermieten« lief er dem Ignaz Kaufmann in die Hände, der mit seinem Leibburschen August Weber zusammen ein wenig flanierte.

»Du hast noch keine Bude?« sagte Kaufmann, »wird schwer fallen. Du bist ein bisschen spät ins Semester gekommen. Auch steigern jetzt schon diese Halunken von Philistern die Preise, weil sie sicher sind, dass sie doch vermieten werden.«

»Haben Sie schon die Anlage abgesucht?« sagte Weber. »Wenn Sie gestatten, begleiten wir Sie bis dahin, möglich dass Sie da etwas Passendes finden.«

Weber hatte ein schönes männliches Gesicht, das eigentlich schon über die Studentenjahre hinaussah und etwas ins Philisterium hineinlugte. Einige Narben auf der Quartseite bleichten schon, ein Zeichen, dass der flotte Bursche seit einigen Semestern die Klinge nicht mehr führte und wohl über Büchern und Papier den kritischen Tagen des Examens entgegenarbeitete. Er übernahm jetzt die Führung der zwei jüngeren Kommilitonen.

Im vierten Stocke eines vornehmen Hauses sah man hinter der Spiegelscheibe ein kleines Schild hängen, aber die Entfernung war zu groß. Von der Straße aus war nicht zu entziffern, was es verkünden wollte.

»Versuchen wir es,« sagte Weber und drückte auf die Klingel neben der Pforte. Die Tür sprang auf, und unsere drei stiegen über die Kokosmatten eines eleganten Treppenhauses dem vierten Stockwerk entgegen. Am Glasverschlag war mit zwei Reißnägeln eine Visitenkarte befestigt, die den Namen Amalie Braun, Oberförstersgattin, trug. Im nächsten Augenblicke schon zeigte sich eine Dame in schlichtem, aber fein geschnittenem Kleide, die sich nach dem Begehr der Herren erkundigte.

Weber verneigte sich und fragte, ob hier nicht ein Zimmer zu vermieten sei.

»Gewiss,« sagte die Dame, »wollen die Herren nur eintreten.« Es war ein schönes, großes Zimmer mit wohlgepflegten Möbeln, denen man ansah, dass sie die schonungslose Behandlung der Aftermieter noch nicht, oder wenigstens noch nicht lange ertragen hatten.

Hans lebte auf, als ihn die Vorstellung übermannte, er könne in so viel Behaglichkeit seine Abende verleben, zumal da eben die Klänge eines Klaviers, aus einem benachbarten Zimmer kommend, den Raum mit Stimmung füllten.

Weber war derweilen prüfend über den Parkettboden gegangen, hatte durch die Scheiben über die Bäume der Anlage nach den gotischen Giebeln einer benachbarten Kirche hingesehen und kam nun mit der Frage zurück: »Und der Preis, gnädige Frau?«

»Ist das Zimmer für Sie?« war die schüchterne Gegenfrage.

»Nein, für diesen jungen Herrn, der eben erst zur Universität kommt.«

»Dann vierzig Mark im Monat.«

»Das wollen wir uns einmal überlegen,« sagte Weber, der sah, wie Hans Höhrle beim Nennen dieser hohen Summe zusammenzuckte. »Darf ich übrigens, meine Gnädige, fragen, wer verfügt hier im Hause über eine solch’ virtuose Technik?«

»Meine Tochter,« sagte die Dame, indem sie sich geschmeichelt ein wenig gegen Weber verneigte.

»So jung und schon eine Künstlerin,« fuhr Weber auf sein Ziel direkter losgehend fort.

Die Dame lächelte und bemerkte: »Aus dem, was Sie hören, werden Sie sich kaum eine Vorstellung über das Alter meines Kindes machen können.«

»Aber aus dem, was ich sehe,« parierte Weber mit Schlagfertigkeit. »Wer eine Mutter hat, die kaum vierunddreißig Mal die Syringenblüte erlebte, kann selber kaum mehr als sechzehn Lenze zählen.«

»Sie irren, mein Herr, deren zwanzig.«

»Zwanzig und sechs,« rechnete Weber leise vor sich hin, »allerdings, ja, ja. Im übrigen gnädige Frau entschuldigen vielmals, dass wir gestört haben.«

Drei Männer verneigten sich tief, eine Dame leichthin, und Weber als rechter Flügelmann verschwand mit den beiden, die Glastür leise ins Schloss ziehend. Die Klänge des Klaviers begleiteten die drei das Stiegenhaus hinunter, als Weber noch einmal zu rechnen anfing: »Zwanzig und sechs gibt sechsundzwanzig, die Gnädige hat recht, das schöne Kind wird zu alt. Der halbe Zimmerpreis und ein Mediziner im Staatsexamen, so ginge es eher, will sehen, was ich für die Damen tun kann.«

Hans Höhrle fand die ganze Sache in seiner ländlichen Unbefangenheit etwas sonderbar, aber er fing doch an, zu begreifen, dass im Leben der großen Welt gewisse Gefahren wie zuschnappende Fangeisen verborgen liegen und dass es allerliebste kleine Witwen gibt, die mit allerliebsten kleinen Töchtern ein wenig spekulieren. Übrigens hatte ihm die überlegene Sicherheit des bemoosten Hauptes Weber ungemein imponiert, und er beneidete ein wenig seinen Konpennäler Kaufmann, der durch seinen besseren Wechsel in der Lage war, aktiv zu werden, und so den Schutz und Rat älterer Bundesgenossen in reichem Maße für sich hatte.

 

Indessen fing es an zu dunkeln. Hans musste zu einem Entschlusse kommen bezüglich seiner Wohnung oder in einem Hotel übernachten, was er der erneuten Kosten wegen gerne vermieden hätte. Er verabschiedete sich von seinen beiden Begleitern. Kaufmann sprach die Hoffnung aus, dass er unseren Hans einmal ins Burschenhaus abholen dürfe, fasste Weber unter den Arm und ging. Hans sah den beiden nach, bis sie die Dämmerung verschlang. Sie waren das Studentenideal, von dem er als Gymnasiast so oft geträumt. Nun war er wohl selber Student, aber das Herz wollte ihm bei seinem zugeschnürten Geldbeutel nicht recht weit werden. Er sah nur Jahre des Sparens und der Arbeit vor sich. Er konnte den flotten Burschen nicht spielen. –

Er ging selbst zum Bahnhof, holte seinen Koffer und trug ihn höchst eigenhändig dem billigen Quartiere bei der Pumpe zu, das er am Nachmittage besichtigt hatte. Die beiden Alten, wohl zufrieden, dass ihnen der Himmel endlich doch noch einen Mieter gesandt hatte, nahmen den »Herrn Doktor« bereitwillig auf, und es währte nicht gar lange, und unser Hans, ermüdet von des Tages wechselvollen Eindrücken, lag wohlgebettet im niedrigen Alkoven, einigermaßen erstaunt darüber, wie er nur das Kunststück fertig gebracht habe.

Als er am nächsten Morgen erwacht war und sich satt gesehen hatte an den Zeichnungen über seiner Nase, fing er an darüber nachzudenken, wie er wohl das Aufstehen bewerkstelligen möchte, und kam auf den Gedanken, die Bettdecke fest um sich zu schlagen und sich nun in der Horizontalen wie eine Lawine über die Stufen nach seinem Wohnzimmer hinabzuwälzen. Die Sache gelang in überraschender Weise und reifte noch ein anderes kaum vermutetes Resultat.

Mutter und Tochter unten, gewohnt, jeden Ton über ihren Häuptern zu deuten, hatten sofort gemerkt, was vorgegangen, und waren erschienen, um mit Kaffee und frischen Brötchen aufzuwarten. Auch wussten sie mit diesem Geschäft eine Menge anderer Dinge zu verbinden. Sie erboten sich, für den »Herrn Doktor« eine Waschfrau zu besorgen, die ganz gewiss keine Taschentücher unterschlägt, die zu äußerst moderaten Preisen die Strümpfe stopft und Hemdenkragen nur an den allerhöchsten Festtagen, wo die Arbeit drängt, verwechselt. Auch einen Schuster kannten die Damen, der nicht auf Bezahlung drängte und sich gedulden konnte, bis ein Lotteriegewinn oder ein reicher Schwiegervater ihm zu seinem Gelde verhalf.

Da Hans rein gar nichts zu tun hatte, so ließ er sich das Gerede gefallen und trat nur zuweilen an das Fenster, um den Mägden zuzusehen, die zur Pumpe kamen, um Wasser zu holen. Die netten Dinger mit den drallen Speckarmen und den strotzenden Miedern schienen jeweils mit seinen Vorgängern auf freundnachbarlichem Fuße gelebt zu haben, denn sie nickten schelmisch lächelnd herauf, stießen sich gegenseitig in die Lenden und tauschten kichernd Bemerkungen aus, die unser Hans nicht verstand, die sich aber offenbar mit seiner Person beschäftigten. Dies Gebaren belustigte ihn, und in das sonst so armselig ausgestattete Zimmer kam durch die freundliche Nachbarschaft ein Schimmer von Behagen. Hans fühlte die Lust der stillen Häuslichkeit, holte seine Pfeife hervor, und der allerneueste Kanasterdunst mischte sich mit dem Jahrhunderte alten der Möbel und Wände in stimmungsvoller Feierlichkeit. Der Bruder Studio fühlte etwas von dem Gottesfrieden des Sonntagmorgens, der über der Erde lag und die Straßen der kleinen Stadt mit geputztem Landvolk füllte, Herren mit Zylindern und Modedamen, die außer ihrem Putze in frommen Händen auch noch ein Gebetbüchlein zum Hause des Herrn trugen. Als der Morgen weiter vorgeschritten, erschienen bunte Mützen. Was der Alkohol der Samstagskneipe an Unbehagen in den jungen Köpfen abgelagert hatte, war nun ausgeschlafen, und frisch und unternehmend zeigte sich die akademische Jugend auf dem Trottoir zwischen Reihen von Institutsdämchen, denen man auf sogenannten Schnellbleichen den Firnis der Kultur aufpinselte und einen Bräutigam dazu, wenn sich die Sache gerade so machte, dass ein leichtentzündliches Studentenherz beim Tanzstundenkränzchen, oder sonst wo Feuer fing.

Ach, diese sonntäglichen Kirchgänge, wie waren sie doch die Woche über ersehnt. Wie boten sie Gelegenheit, bedeutungsvolle Blicke zu wechseln oder eine Blume fallen zu lassen, die, ohne dass eine Notiz im Lokalanzeiger nötig gewesen wäre, den Weg nach dem Knopfloch eines Gehrockes fand. Wie waren diese flotten Burschen in den roten, blauen und grünen Mützen doch der Zielpunkt so vieler schmachtender Augen, die letzte Erfüllung so brennender Herzenswünsche.

Hans sah und fühlte mit, was da unten vorging. Sein Hut und seine Pfeife erschienen ihm so altbacken, so philiströs. Für sein Leben gern hätte er sich in das pudelnärrische Leben der sorglosen Jugend hineingewagt. Der Gedanke, dass seine Armut es nicht zulasse, drückte ihn brutal wie eine eiserne Fessel.

Sein Herz verlangte mit einer alle Bedenken niederringenden Gewalt nach dem Becher des Lebens. Alle Lust nach Freiheit, die von der Schule ängstlich zurückgedrängt wurde, loderte in wilder Flamme auf. Hans wollte jung sein, begehrt und angeschmachtet wie die anderen. Er nahm seinen Hut, stürzte auf die Straße und kam, bald einer stolzen Professorentochter ausweichend, bald einer niedlichen Verkäuferin, die, den Schwalben gleichend, im Sonntagsstaat, gewandt ihren Flug durch die Menge nahm, in die Kneipe an den Stammtisch der Gelbmützen. Wieder saß er im Halbdunkel eines überfüllten Lokales, hörte die Jungburschen von den Erfolgen ihrer Mensuren reden, erfuhr, wie man die Terz über den Ellenbogen des Gegners schickt und die Tiefquart im Handgelenk dreht, das unerschöpfliche Gesprächsthema, an dem Semester um Semester die Schar der Füchse und Burschen sich weidet. Die blanke Wehr des Schlägers war ihr ein und ihr alles. Der Kampf und die Gefahr, die er mit sich brachte, sowie die Ehre, die er einbringen konnte, füllte ihre ganze Seele aus. Zehn Quarten, bevor man ins Bett stieg; zehn Durchzieher beim Aufstehen der Luft ins Gesicht geschlagen, dass sie pfeifend auswich, das war Ende und Beginn des Tagewerks. Hans wurde mitgerissen. Er hörte trunken zu, wie man von ausgeteilten Nadeln und Knochensplittern redete und die unterbundenen Arterien der Gegner zählte und wurde nicht abgeschreckt vom Blutgeruch der Unterhaltung. Er fühlte die Muskeln seines Armes schwellen, und so oft er nach dem Henkel seines Bierkruges langte, war es ihm, als ob er in den Korb eines Schlägers greife. Ach, wenn sich doch nicht gar zu störend in all dies Neue der Gedanke an die Not und Armut drängen wollte. Fast hätte er seinen Eltern bös werden mögen, weil sie schlecht gewirtschaftet hatten.

Ein älteres Semester mit abgeklärtem Philosophengesicht, den alle Welt mit »Eure Heiligkeit« anredete, weil er mit seinem Familiennamen Pabst hieß, setzte sich zur Seite des neuesten Füchsleins und gab seinen Gedanken eine ernstere Richtung. Er sprach langsam, und seine Sätze flossen wie Zarathustraweisheit eindrucksvoll aus dem Munde, in den während achtzehn Semestern ungezählte Liter akademischen Bieres hineingeflossen waren. Er erwähnte die Flüchtigkeit der Jahre; sprach von der Möglichkeit, die Schätze der Weisheit einzuheimsen; hatte die Güte, sich selbst als abschreckendes Beispiel hinzustellen und ermahnte unseren Hans, nicht ganz so faul zu sein, wie er selber gewesen, denn, meinte er, aus dem Bronn tiefer Selbsterkenntnis schöpfend: »Wenn ich nur alle Sonntag von elf bis zwölf studiert hätte, so könnte ich jetzt längst ein würdiger Pfarrherr und der Vorsitzende einer Reihe von Päpsten sein.« Hans war entzückt von dem väterlichen Freimut eines so hochstehenden Herrn, trug sein Los, für Augenblicke wenigstens, leichter, suchte gegen Mittag nach einer alkoholfreien Abfütterungsanstalt und aß da nach der Frühschoppendämmerung im Margarinenebel für wenig Geld Preiselbeeren mit Rindfleisch von der Freibank, in Gesellschaft von Pfarramtskandidaten, die so fleischlos waren, wie ein Heringsskelett.

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