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Die Mühle zu Husterloh

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12. Kapitel

Ostern war in Sicht, als der Lehrer sich entschloss, das Antlitz der Quarta durch eine neue Probearbeit zu verändern. Hans Höhrle und Ammelung hatten ein heiliges Schutz- und Trutzbündnis geschlossen, gemeinsam zu siegen oder gemeinsam unterzugehen. Hans verpflichtete sich, das deutsche Diktat in leserlicher Schrift seinem tauben Bundesgenossen zu liefern, wogegen diesem die Aufgabe zufiel, die erste Hälfte in tadelloses Latein zu übertragen. Die zweite Hälfte hatte Hans zu stellen. Durch diese praktische Arbeitsteilung ersparten sie vor allem Zeit; und in der Tat waren sie bei den ersten, die ihre Bogen am Katheder abgaben. Der Lehrer schwenkte sie ein wenig durch die Luft, als ob er die Todsünden gegen die Gesetze der Syntax auf diese Weise herausschütteln könne, legte sie dann aber in die Reihe. Damit war erreicht, dass sie wenigstens die Aussicht hatten gelesen zu werden, was immerhin schon als ein Erfolg angesehen werden konnte. Hans ging deshalb voll kühner Hoffnung durch die Straßen der Stadt dem Konvikte entgegen. Ja, er wagte es sogar, unter seinem Hute hervor ein wenig nach den höheren Töchtern zu schielen, die mit Musikmappen in der Hand, mit langen Zöpfen auf dem Rücken, die Richtung seiner Fahrt kreuzten.

Zu Hause wurde er unmittelbar hinter der Haustür vom Subrektor abgefangen, der ihn offenbar erwartete, sich die Kladde geben ließ und mit dieser in seinem Zimmer verschwand. Hans wusste, dass sein Nachhelfer sich ein Urteil bilden wollte, wie die Probearbeit ausgefallen sei, und war eine kleine Viertelstunde voller Unruhe. Endlich wurde er gerufen.

Der Subrektor lief, wie Meister Debitsch, in seinem Zimmer auf und ab, und der Saum seiner Sutane peitschte klatschend die silbernen Schnallen seiner Schuhe. Anfangs schien er den vor Erwartung bebenden Knaben nicht zu bemerken, plötzlich aber fuhr er auf ihn zu, fasste ihn bei den Schultern, drückte ihn an die Wand und schrie ihm ins Gesicht: »Mensch, hast du die Sache so, wie sie hier steht, ins Reine geschrieben?«

»Nein,« sagte Hans, der einer allzu schlimmen Beurteilung zuvorkommen wollte, »ich habe noch einiges daran verbessert.«

»Unseliger, du wirst doch nicht? Die Arbeit ist fehlerlos, sie garantiert dir einen der ersten Plätze, und der Umstand, dass du in dem Satze: ›Dieser Mann, der für das Vaterland geboren ist,‹ den bloßen Dativ gesetzt hast, macht dich den Herren der Erde, macht dich den Göttern gleich.« Damit schob er unseren Hans zur Türe hinaus, warf dem Rektor, der gerade außen vorbeiging, einen triumphierenden Siegerblick zu und ließ sich, wie nach einer schweren Arbeit, in die Arme seines Rohrsessels fallen. – Hans hatte nun ein vorläufiges Urteil, welches durch das definitive wohl etwas modifiziert, aber doch nicht so geändert werden konnte, dass er abermals in die heiße Zone des Schulofens verschlagen werden konnte. Er war froh in den Tiefen seiner Seele auch um der Seinen willen, wenn auch der Gedanke, dass die Arbeit nicht ganz auf ehrliche Weise zustande gekommen war, in etwas den heiteren Himmel seiner Freude umwölkte.

Der Tag, der die frohe Gewissheit des Erfolges brachte, kam heran, verlief aber für Hans nicht ohne Tränen. Kaum hatte der Professor die Hüllen abgelegt, die sein vertrocknetes Gemüt vor Zugluft schützten, so schweiften seine Blicke eine Zeitlang ins Leere, in jenes goldene Zeitalter zurück, wo jeder Mensch instinktiv nach einem Verbum sentiendi und declarandi den Accusativus cum infinitivo setzte, wurden dann suchend und blieben an Hans Höhrle hängen.

»Und wer, glaubt ihr wohl, dass sich zum Primus in eurer Hammelherde aufgeschwungen hat?« rief er in verärgertem Tone. »Hans Höhrle zusammen mit James,« fügte er seine Frage selbst beantwortend hinzu. »Es kann keinen traurigeren Beweis für die Verlotterung einer solchen Gesellschaft von Ignoranten geben, als diese Tatsache.«

Hans traute seinen Ohren nicht und stand wie ein Säulenheiliger unbeweglich da, die Klassiker unterm Arme. Seine Mitschüler drängten und stießen ihn vorwärts, halb neidisch, halb spöttisch, und am Kopf der Klasse stand der große James und winkte gutmütig. Hans stand wie angewurzelt, bis es aufs neue vom Katheder schallte: »Nun, wird’s bald?«

Jetzt drängte man hinter ihm ungeduldiger, und Hans wurde wider Willen seinem Platze zugeschoben. Der große gutmütige James hatte den ersten Platz geräumt und wollte sich mit dem zweiten begnügen, aber Hans kroch unter den Tisch und drängte ihn an die Spitze der Klasse. Er war froh, dass er saß und so gewissermaßen aus dem Gesichtsfelde der Masse verschwunden war, aber sein Gewissen drückte ihn erbärmlich, und ihn erfasste ein gewisser Höhenschwindel. Warum musste das Geschick ihm diesen Narrenspossen spielen und ihn gerade so weit über sein Idol, den Ignaz Kaufmann, hinauswerfen, wie er vorher unter ihm war? Würde er die Erwartungen erfüllen können, die mit seinem Platze verbunden waren, und musste nicht ein Fall aus dieser Höhe ihn erst recht dem Spott und der Schadenfreude preisgeben? Während er von solchen Gedanken zermartert dasaß, berührte ihn leise von hinten ein Finger. Hans wendete den Kopf soweit nach der Seite, dass er über seine Schulter hinwegsehen konnte, und gewahrte den tauben Ammelung, der unmittelbar hinter ihm glückstrahlend saß und die erwünschte Gelegenheit, seinen Buckel an einer Rücklehne reiben zu können, mit der Ausdauer eines Pudelhundes ausnutzte. Dann aber schnitt er, als ob er kein Vertrauen zum Fortbestand der Dinge habe, rasch seinen Namen in die Bank. Die Nachwelt sollte staunend erfahren, dass er da gewesen und in hervorragender Position.

Aus der Tiefe des Klassenzimmers hörte man immer noch das Geräusch der Fußtritte und tiefe Seufzer, wenn einer die Last der Ungewissheit von sich schüttelte und seinem Platze zustrebte. Endlich war jedermann untergebracht, und der Klassenführer stierte mit verglasten Augen seine neugeordnete Herde an, als ob er sich an deren verändertes Aussehen gewöhnen müsse. Dann folgte eine lange trübselige Rede über die Unseligkeit des Lehrerberufes, dem die Freude versagt sei, irgend eine Ernte der mühseligen Aussaat in die Scheune zu bringen, bis die Uhr die volle Stunde schlug und Lehrer und Lernende zu beider Freude voneinander erlöste.

Damit war in dem Drama des heutigen Tages ein Aktschluss eingetreten. Man benutzte die Pause, mit seinem Nachbar zu reden und sich ihm als guten Kameraden vorzustellen, bis jemand von außen auf die Klinke drückte. Das Gemurmel verstummte, und herein schwebte in langer Sutane, den Abglanz naher Seligsprechung im Antlitz, der Religionslehrer. Er hatte auf dem Gange den Schuldiener getroffen, einen Griff in dessen Dose getan, und genoss hinter der Schultafel – damit nicht das böse Beispiel die Genusssucht reizen möge – die verbotene Frucht. Als er hinter dem schwarzen Deckmantel seiner Sünde hervortrat, schien er sich nicht recht auszukennen und suchte, wie ein Schiff nach einer Signalstation, nach dem großen James. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er den Hans Höhrle, steuerte verwundert auf ihn zu, und seine Finger in dessen weiche Haare eingrabend, zwang er den Knaben, ihm ins Gesicht zu sehen, während sein lächelnder Mund die zweifelnde Bemerkung aussprach: »Ist das auch mit rechten Dingen zugegangen?«

»Ist das auch mit rechten Dingen zugegangen?« Diese Frage war seither nicht gestellt worden, und was berechtigte den Religionslehrer sie zu stellen? Das Gebiet der lateinischen Grammatik war nicht sein Feld, er säte da nicht, er erntete da nicht, was ging es ihn an, wenn da etwas Unkraut zwischen dem Weizen wuchs? Hans ärgerte sich über die indiskrete Frage, die so viel des Misstrauens barg und ihn bloßstellte seinen Mitschülern gegenüber. Er fühlte ihre hämischen Blicke auf seinem Rücken brennen und sah den Widerschein ihrer Schadenfreude im Gesichte des Religionslehrers. Am liebsten wäre er aufgesprungen und in die Welt hineingerannt, soweit ihn die Füße tragen wollten, allein er fand dazu nicht den Mut. Er ließ den Kopf sinken, antwortete nicht und wartete mit Ungeduld, bis die Stunde schlug, die ihn aus dem Gefängnis dieser kahlen Wände ins Freie ließ, wo seine kleine Schuld in der Unendlichkeit des Raumes zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen musste.

Endlich tippte der Hammer an die Glocke, und Hans stürmte hinaus in das vom Hunger bewegte Gewühl der Straße. Zu Tausenden liefen die Menschen aneinander vorüber, keiner kümmerte sich um den anderen. Jeder hatte das Bild irgendeiner Futterstelle vor Augen, der er zustrebte. Was lag ihnen daran, ob in der Quarta eine Probearbeit mehr oder minder regelwidrig zustande gekommen war oder nicht. Und doch, Hans konnte Niemandem ins Gesicht sehen, und als er es bei zwei harmlosen Bauernweibern einmal wagte, so schien es ihm, als ob eine die andere heimlich anstoße, wie wenn sie sagen wolle: »Sieh da, der Primus der Quarta! Wird’s denn auch mit rechten Dingen zugegangen sein?«

Nach Ablauf einiger Tage war bei unserem Hans das Stadium der Reue vorübergegangen. Er lebte auf. Die Lehrer lernten seine Gaben schätzen, und als gar der Mathematiker meinte: »Unter den Hörnern dieses Bauernschädels steckt mehr, als man vermuten konnte,« gewann der Knabe Sicherheit und füllte seinen Platz aus, so gut wie einer, der ihn sich ehrlich erworben hat. Nur der Umstand, dass seine Wetterseite den gelegentlichen Ohrfeigen des Klassenführers etwas zu sehr ausgesetzt war, erweckte zuweilen noch die alte Sehnsucht nach dem Ignaz Kaufmann und seiner sturmfreien Position in der Mitte der Klasse. Im Übrigen fühlte sich der Knabe jetzt als Vollbürger des Gymnasiums, und er dachte nicht mehr an eine Rückkehr zum Ledersofa seines Onkels.

Eine neuerliche Probearbeit setzte seinem Hochgefühl einen kleinen Dämpfer auf. Er glitt auf den Platz zurück, den sein Freund Ammelung eben noch gewärmt hatte. Dieser selbst war leider wieder beim Ofen angekommen und rutschte nun zur Schule hinaus und in eine Sodawasserbude, wo er mit Hilfe von Himbeersaft und Zitronensäure nicht ohne Großartigkeit Limonade bereitete. Unseren Hans ignorierte er – der Mann in seiner selbständigen Stellung – und wenn einer von seinen früheren Lehrern an seinem Thron von Sodawasser vorüberkam, so rauchte er Zigarren, obwohl er ab und zu noch die Erfahrung machen musste, dass diese Art, andere Leute zu ärgern, ihm selber nicht gut bekomme. Hans sah seinen Leidensgefährten mit Bedauern scheiden. Es lag nicht in seiner Macht, ihn über den steilen Grat von Quarta nach Tertia hinüberzutragen. Er musste ihn fallen lassen.

 

13. Kapitel

Hans hatte die kritischen Tage seines Gymnasiallebens nun hinter sich und konnte sich freier bewegen. Den Forderungen, welche die nun folgenden Klassen an ihn stellten, konnte er mit Leichtigkeit gerecht werden. Der Subrektor hatte seine Nachhilfestunden eingestellt, und so blieb Zeit für schöne Künste übrig. Hans kultivierte das Klavier, zeigte Talent und bald klang der »Schönbrunner« und »Bertrams Abschied« durch die sonst so stille Treibschule geistlicher Hochstämme. Der Rektor hörte mit Missvergnügen diese Töne und schrieb hinter Hansens Namen in seine Konduitenliste: »Stark zur Weltlichkeit neigender Sinn.«

Der Mann hatte fein beobachtet. Hans konnte der Welt und ihrer Luft nicht entsagen, und er äugte in der Tat gefährlich nach den höheren Töchtern, die mit Musikmappen seinen Weg kreuzten. Ihm gefielen die netten Dinger, die so keck die Köpfe herumwarfen und sich selber mit den Zöpfen ohrfeigten. Die Käferfalle der Ehe stand noch so ferne von ihnen, dass sie ungeniert ihre Neigungen zeigen durften. In den Ferien setzte Hans die Mütze verwegen aufs Ohr und traf eine peinliche Auswahl derer, die er mit einem Gruß beglückte. Er war der weltgewandte Mann, der sich an Onkel Schütteldichs Tische die Zähne stocherte und von Festungswerken, Brückenbauten und Altertumsfunden sehr gelehrt zu erzählen wusste. Obwohl der satte Faulpelz, um sich nicht zu überanstrengen, von allem nur die Hälfte glaubte, so blieb doch noch genug übrig, um Hans als eine interessante Persönlichkeit erscheinen zu lassen. Leute von Rang und Ansehen würdigten ihn ihres Umganges. Er tarockte mit dem Stationskommandanten, schob mit dem Schullehrer Kegel und ging mit dem Forstadjunkten auf die Jagd. Er schoss nie einen Schwanz, aber er heimste die ehrfürchtige Scheu ein, die das Publikum jedem Waffentragenden entgegenbringt.

Nach Agnes äugelte er zuweilen, aber das Mädchen wich ihm aus. Sie dachte älter als er und mochte das Grüne, Unreife an ihm nicht leiden.

Mutter Höhrle nützte den Sohn in den Ferien nach ihrer Weise aus. Er hatte am Sonntag in der Kirche neben ihr in dem Herrenstuhl Platz zu nehmen, und die hochgemute Frau verstand es, die Aufmerksamkeit der Gemeinde auf ihn zu lenken, indem sie ihn des öfteren zwang, ihr Taschentuch vom Boden aufzuheben oder sich zu stellen, wenn andere knieten. So wurde Hans eine Persönlichkeit, auf die das ganze Pfarrspiel mit großen Erwartungen blickte.

Auch Vater Höhrle war nicht ohne Stolz auf seinen Sohn. Er erwähnte gelegentlich bei einem Gespräche im Wirtshaus dessen gutes Zeugnis, machte an den Sonntagnachmittagen kleine Ausflüge über Land und sprach mit ihm bei Verwandten und Bekannten vor.

Hansens Schwester, Suse, ließ sich weniger von Sentimentalitäten leiten. Ihr praktischer Sinn sorgte für die nächstliegenden, realen Bedürfnisse. Sie besserte die Kleider ihres Bruders aus, besorgte dessen Wäsche, ärgerte sich über seine Stehumlegekragen, an denen die Kunst ihres Bügeleisens sich nicht bewähren wollte, und war vor allem bemüht, das Geld herbeizuschaffen, mit dem der Studienaufwand ihres Bruders bestritten werden konnte. Mit dem Markterlös der Schweine wurde der Halbjahreswechsel des Herbstes gedeckt, mit dem Verkauf eines fetten Rindes der des Frühjahrs. Doch Suse hatte zuweilen Unglück, und ein Stück Vieh wanderte zum Wasenmeister statt zum Schlächter. Dann wäre freilich Not im Lande gewesen, wenn Onkel Schütteldich mit seinen Tabak- und Heringsgroschen nicht in die Bresche getreten wäre, bis Suse auch wieder einmal Glück hatte, einen kleinen Lotteriegewinnst machte, oder einen Preis erzielte auf irgend einer Rindviehausstellung.

Der würdige Pfarrherr sah dem Treiben mit verhaltenem Kummer zu. Dass Hans entgleisen könne und für die Kirche verloren gehe, das war ihm klar, und in der Tat, es kam rascher, als man hätte denken sollen.

Ein Pfarrerstöchterchen in der Nachbarschaft des Konviktes hörte offenen Herzens und offenen Fensters unserem Künstler beim Klavierspiel zu und verstand es, ihm eines Tages in eine Liebesepistel geschmackvoll verpackt einen halben Haarzopf und ein Stückchen Hackbraten zuzustellen. Den Hackbraten wusste Hans so aufzuheben, dass er unauffindbar war wie der Nibelungenhort im Rhein, den Zopf aber und die geheime Liebesoffenbarung fand der Rektor, und er geriet in ein wahres Dornengestrüpp stechender Gewissenszweifel. Das Endresultat tagelangen Nachdenkens war, dass Hans Höhrle vom Himmel nicht erkoren sei, dem Altare zu dienen, und so flog er aus dem Konvikt. Dieses Missgeschick ertrug der Schüler leichter als die zu Hause.

Vater Höhrle konnte sich seinen Sohn auch als Richter oder Arzt denken, aber die Mutter litt darunter, dass sie bei der Primiz nicht an hervorragender Stelle im Chore knien und im Angesichte von aller Welt Dankestränen vergießen sollte. Sie renommierte weniger mit ihrem Sohne, und wenn sie gefragt wurde, ob er bald ausgeweiht werde, sagte sie: ›Es sei noch nicht ganz sicher und nicht nur die Professoren der Gottesgelehrtheit rissen sich um ihn, sondern auch die anderen.‹

So hüpften Hansens Jahre im Wechsel von Ferien und Schulzeit wie bunte Vögel an ihm vorüber, Vögel mit glänzendem Gefieder durch Rosenhecken girrend, Vögel mit starkem Flügelschlag, die sich mit Wollust vom Sturme tragen ließen, zur Erde niedergeweht wurden und sich mit neuer Kraft wieder erhoben. Bald war er der Liebling aller seiner Lehrer, bis ihn die Verhätschelung langweilte, und der Onkel Schütteldich bei ihm zum Durchbruch kam. Nach Monaten empörender Faulheit aber setzte er wieder mit frischen Kräften ein und gelangte in die Nachbarschaft des großen James, der durch all die Jahre von keinem Zufall erschüttert am Bugspriet der Klasse stand.

Es ereignete sich nichts Besonderes mehr. Der Jahrgang trieb wie eine Heringbank, der große James immer voran, den Strom der Wissenschaft hinunter, fiel an jedem August über ein Wehr und nahm anstandslos die Barre des Maturitätsexamens.

Nun rauschte vor den jungen Leuten das Meer des Lebens. Sie stürzten sich hinein. Einer verlor den anderen aus dem Auge, jeder Zusammenhang löste sich, und kaum mehr fand sich Gelegenheit, dass Hinz und Kunz sich wiedersahen.

14. Kapitel

So war denn auch Hans vor die große Frage gestellt: Was nun? Er war zwanzig Jahre alt und ein prächtiger Bursche. Manches Mädchen wusste das und konnte sich seinen schön gebildeten Leib nur schwer in einer Kutte denken. Auch Agnes, obwohl von mancherlei verschüchtert, hatte Augen, die ängstlich über des Jünglings nächsten Entschließungen wachten. Sie war eifersüchtig, sie gönnte ihn keiner anderen, selbst nicht der Mutter Kirche.

All die Jahre her hatte sie ihn des Öfteren gesehen, aber sie vermied es, ihm nahe zu kommen, noch beherrschte sie die Schüchternheit des Mädchens. Seit in ihr die Jungfrau erwacht war, trat die kindliche Naivität zurück, sie fing an zu begehren, und doch hütete sie sich zu verraten, was ihre Sehnsucht forderte, hielt den Mund geschlossen und hütete ihre Blicke. Musste sie auf der Straße an ihm vorüber, so senkte sie die schöne Stirne, dass er ihre Augen nicht sehen konnte, die in feuchter Glückseligkeit schwammen. Sie grüßte leichthin und schien ihn kaum zu bemerken.

Bei Gelegenheiten aber, wo sie ihn beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden, da öffnete sie weit die Lider und fasste das Bild seiner Schönheit wie in einem Brennglase, dass seine Strahlen tief ihr Herz versengten, das so unvorsichtig mit dem Feuer spielte. Ihre Eltern hatten die gutgehende Wirtschaft »Zum Weltschirm«. Im Herrenstüble saß der Abiturient öfter unter den Honoratioren, und die Lampe mit dem grünen Schirm warf einen Heiligenschein über ihn und über alles, was im Dorfe Anspruch hatte auf das Wort Venerabile.

Wie kam es, dass Agnes in der dunklen Küche nebenan des Öfteren den Herd bestieg und nach dem Fleische sah, das sich im Rauchfang bräunte? Wir wollen es dem Leser verraten. Hoch oben war ein Zugloch in der Mauer, das den Tabaksrauch der Gaststube in den Schornstein leitete, aber auch einen bequemen Überblick gestattete über die Hinterstube und ihre Insassen. Dort stand die Jungfrau oft geängstigt, als ob sie ihre Seele mit einem Verbrechen belastet hätte, zitternd, dass man sie überraschen könne, und sie stand doch, glühte vor Erregung und fror gleichzeitig.

Im Garten der Apotheke sah man Hans zuweilen mit einem Buche in der Laube sitzen. Das heißt, nicht alle Welt sah ihn. Es konnten sogar hundert Menschen außen am Fichtenzaune vorbeigehen, ohne dass ihn einer bemerkte, aber Agnes sah ihn, sah ihn von der Höhe ihrer Giebelstube herunter, und wenn sie ihn nicht ganz sah, so war sie zufrieden, wenn sie nur seine wohlgepflegten Hände entdeckte, die zuweilen auf der Fensterbrüstung des Gartenhäuschens den Takt trommelten zu einer Melodie, die ihr Herz tanzen ließ in Lust und Weh.

Von ihrer Liebe geredet hatte Agnes seit ihren Kindertagen mit keinem Menschen, nicht mit einer Freundin, nicht mit der Mutter, nicht mit sich selbst und am allerwenigsten mit Hans. Und doch sehnte sie sich nach einer Aussprache mit dem Geliebten mehr, als sie sich damals wenigstens nach dem Himmel sehnte.

Im Dorfe herum redete man von der Mühle nicht mehr das Allerbeste. Es gab Leute, die von unbezahlten Rechnungen sprachen, und andere wollten gar bemerkt haben, dass der Gerichtsvollzieher auf offener Straße eindringlich auf Vater Höhrle hineinredete.

Agnes schloss nicht ohne Grund aus dem Gerede, dass mehr die Not als die freie Liebeswahl den Erkorenen ihres Herzens der Mutter Kirche zuführen könne. Man wusste ja, wie sie es versteht, mit dem Werbegold im Kasten zu klingeln und intelligente Führer zu suchen für die allezeit streitbare Armee.

Vielleicht hätte das Mädchen seinen Verlust getragen und im Gebete Trost gefunden, wenn Hans sich dem Dienste des Altares als freier Mann geweiht hätte. Der Gedanke aber, dass ihn die Not an ihrer Kette aus dem frohen Leben in die einsame Zelle eines Priesterseminars zerren könne, war ihr unleidlich. Sie fühlte, dass sie in der Lage war, helfen zu können, und dass sie reden müsse, bevor die Würfel gefallen waren.

Man kann nicht sagen, der Zufall führte Röse Ricke ins Haus, denn sie schwärmte ja immer wie eine Fledermaus und war im Dämmerlicht unter das schützende Dach des Weltschirms geflogen.

»Guten Abend, Jungfer Agnes. Stricken sie nicht an einem Netz?«

»Doch, Frau Neugierde, und ich möchte mir einen Vogel fangen.«

»Wenn Ihr Euch mit einem halben Dompfaffen begnügt, so kann ich Euch sagen, wohin Ihr Euer Netz stellen müsst,« lachte die Alte.

»Hoch vor allem,« sagte Agnes aufgeräumt, »damit wir nicht statt eines Zeisigs eine Beutelratte fangen.«

»Aber eine Wasserratte dürfte es doch wohl sein, he, Jungfer Agnes? So eine, die im Mühlbau lebt oder drin groß geworden ist. Was meint Ihr dazu?« fragte sie mit anzüglichem Gelächter.

»Könnt Ihr schweigen?« fragte Agnes.

»Wie ein Sargnagel,« antwortete Röse Ricke.

»So sagt mir, Ihr, die Ihr ein Stück von Gottes Allwissenheit seid, Röse Ricke, sagt mir, was soll aus Hans Höhrle werden?«

»Nach Eurem Willen Euer Mann, Jungfer, nach seinem Willen das gleiche und ein Doktor nebenbei; aber, aber,« fügte sie bedenklich hinzu, streckte die Rechte aus und ließ den Daumen über dem Zeigefinger Kreise beschreiben, die so groß wie ein rechtschaffener Taler waren.

Agnes wusste, was das bedeuten sollte, und bemerkte verlegen: »Steht’s so?«

»So steht’s, genau so, und wenn der Husterloher Mühlwald so weiter ausgehauen wird wie bisher, so wird es ihm schwer fallen die Bretter zu liefern, in denen man den Vater Höhrle zu Grabe trägt.«

Agnes war durch die Nachricht, einen armen Schwiegervater zu bekommen, eher erfreut, als betrübt. Im Nu überschaute sie die Situation. Sie selber hatte ein respektables Vermögen. Damit wollte sie der Kirche ihr Opfer entreißen und durch Dankbarkeit den Geliebten an sich fesseln all die Tage seines Lebens. Ein nettes Häuschen mit weißen Vorhängen im blumenreichen Gärtchen, darinnen der Herr Doktor und hochwohlgeboren dessen Gemahlin und eins, zwei Lockenköpfe! Welch ein Blick in ein Himmelreich voll Glanz und Seligkeit!

 

Die heiße Sorge der nächsten Tage war: Wie komme ich allein mit ihm auf ein Viertelstündchen zusammen?

Der Himmel und das zuständige Kreisamt schafften Rat. Der erstere hatte das Fest Mariä Geburt in den September verlegt, das zweite hatte dem Wirt auf der Tromm einen Tanzzettel zugestanden.

Klaus Priester, der Musikant, trug seinen Bauch und seine Klarinette im Mittagssonnenschein des genannten Festtages über den kahlen Rücken des Berges. Zu seiner Seite schritt Veit Streichgut, die Bassgeige aus dem Rücken, während Franz Blasauf um sich und seinen Schnitzbuckel das Bombardon gewickelt hatte. Es war eine Hitze, dass das Kolophonium schmolz, und Bastel Fiedele, der Mann mit der dicken Schuhsohle am kurzen Bein, der den Geigenkasten trug, blieb hinter seinen Kunstgenossen etwas zurück. Seine Schenkel schmerzten ihn, und in seiner Seele klang noch das tiefernste Leitmotiv einer eben überstandenen Missionswoche nach. Er war verstimmt, jetzt wo er nach empfangenem Bußsakrament zum ersten Male wieder seinem leichtlebigen Handwerk nachging.

»Nimm deine Beine unter den Arm und sieh, dass du nachkommst,« ließ Klaus Priester, der Mann an der Tete, sich hören.

»Höllenpriester, hast du es so eilig in den Teufelsrachen hineinzulaufen? Gehen wir nicht mit sieben und einem halben Bein den Weg der Sünde? Wo anders wird er enden als in dem Pech und Schwefelpfuhl? Fördern wir nicht mit unserem Handwerk alle Laster: Die Gotteslästerung, die Völlerei, den Totschlag mit und ohne mildernde Umstände? Wie gerne würde ich euch alle laufen lassen und allein den Dornenpfad der Tugend wallen, wenn die paar lumpigen Kreuzer nicht wären, die man doch die Woche über so notwendig braucht. Sei der zu einem Hammelragout zerrissen, der das lumpige Geld erfunden hat!«

»Halt’s Maul, du krummer Kirchenleuchter,« herrschte ihn Klaus Priester an, »was kümmern uns die Sünden der anderen! Wir machen Musik zu gehaltenen und gebrochenen Liebesschwüren, zu den Sünden gegen das sechste und gegen das neunte Gebot. Der Mond sieht noch mehr als wir. Er kann’s nicht ändern, also tun wir desgleichen, gucken zu und machen wie er, ein freundlich Gesicht.«

Unterdessen hatte Veit Streichgut einen Schwarm von Mädchen aufgestöbert, der rechts vom Wege hinter Ginsterbüschen lag und die ungeduldigen Füße nach süßen Walzermelodien im Voraus in der Luft tanzen ließ. Zuweilen hatte sich eine von ihnen auf den Bauch gelegt und hatte den Feldweg entlang gesehen, ob sie nicht bald kämen der Bass und das Bombardon, die Trommel und die Pfeife, und nun waren sie plötzlich da und hatten das Thema heimlicher Vertraulichkeiten unterbrochen, in denen die Männer eine so wichtige Rolle spielten. Nein, das war doch auch zu arg. Der Veit war ein rechter Schlimmer, man musste sich vor ihm schämen. Wer weiß, ob er nicht schon eine Zeitlang hinterm Busch gestanden und gelauert hatte. Wie eine Kette Rebhühner fuhren die frischen Dinger auseinander, als Streichgut plötzlich seinen Fidelbogen über die brummenden Saiten seiner Bassgeige tanzen ließ. Man sah nichts als ein Flattern, Flimmern und Blitzen heller Sommerkleider zwischen Ginster- und Wacholderstöcken und hörte nichts als ein silbernes Lachen, durchschossen von dem Schnurren der G-Saite des Kontrabasses. Veit Streichgut war ein Schlimmer und hatte die armen Mädchen in arge Verlegenheit gebracht. – Derweilen war der hinkende Nachzügler zur Stelle gekommen.

»Seid Ihr auch schon da, Ihr Cherubine der Verdammnis,« schrie Bastel Fiedele, »stellt eure Netze aus und seht, dass ihr einen kriegt, der mit euch zur Hölle fährt, da unten ist gerade wie auf einem Kasinoballe, Herrenmangel und Überfluss an Weibern.«

»Was in der Hölle vorgeht, schert uns nicht, wenn’s nur beute nicht an Tänzern fehlt!« schrie eine aus der Schar der Versprengten.

Die anderen lachten, Klaus Priester zog seine »Gelberübe« aus der Tasche, und alsbald scheuchten jubelnde Klarinettentöne jedes Bedenken über das Morgen aus den flatternden Seelen der jugendlichen Schwärmerinnen. So kam die leichte Ware mit tänzelnden Schritten vorwärts.

Agnes, die unter den Mädchen war, gesellte sich zu Bastel Fiedele. Ihre Gegenwart wirkte beruhigend auf ihn ein. Er schimpfte nicht mehr, schritt langsam fürbass, und das Mädchen hatte Zeit und Gelegenheit an den Knöpfen ihres Mieders die wichtige Frage zu studieren: »Kommt er, oder kommt er nicht,« bis das Wirtshaus erreicht war.

Über dem Rasen vor der Haustüre verstreut, saß auf rasch gezimmerten Bänken vor improvisierten Tischen bereits eine Anzahl Gäste. Im Nu hatte Agnes sie gemustert. Ihr Hans war nicht dabei. Es dauerte nicht lange, und Klaus Priester mit seinen Kunstgenossen hatte sich auf der erhöhten Musikantenbank eingerichtet. Alte, mit unterschiedlichen Kirchweihsaucen getaufte Notenblätter waren aufgestellt, und eine metallklingende erbärmliche Musik füllte den leeren Saal auf der Wiese. Nach und nach traten die Paare an, etwas schüchtern, als ob sie der Horror vacui beherrschte, dann aber sicherer, als die Zahl der Tanzenden sich mehrte und kräftige Absätze den Takt traten.

Agnes lag in den Armen eines Schullehrers, der bei ihren Eltern den Mittagstisch hatte. Ihr blondes Haar peitschte im Schwunge der Bewegungen seine Wange, aber ihr Gesicht flog immer der Türe zu, auf deren Schwelle sie Hans zu finden hoffte.

Richtig! Da war er, eine tadellose, vornehme Erscheinung, fast befremdlich in der Umgebung all der Bauernburschen und ihrer Freundinnen. Agnes zitterte, als sie ihn sah. Die eben noch so flinken Füße vermochten nicht mehr dem Takte der Musik zu folgen, sie wurden unsicher, und wohl oder übel musste ihr Tänzer sich entschließen, mit ihr einer der Bänke zuzusteuern, die an den Wänden des Saales entlang den Ermüdeten Ruhe anboten.

Da saß sie nun und besann sich auf sich selber. Was hatte es für einen Zweck, an die Brust irgendeines gleichgültigen Menschen gelehnt, über die benetzte Diele zu rasen? Entweder er, der Einzige, kam, und dann, ja dann mit ganzer Hingabe von Leib und Seele, oder er kam nicht, nun, dann überhaupt nicht mehr. So saß sie fast trotzig an der Wand, lehnte jede Einladung zum Tanze ab, nur immer mit der hoffnungsfreudigen Erwartung beschäftigt, dass Hans den Saal durchqueren und sich ihr nähern möchte. Sie wartete lange. Schon hatte man die Lichter angezündet, und noch war er nicht nahegerückt. Schon kam ihr der Gedanke, dass er sich zu vornehm sein möchte für eine so bäuerliche Veranstaltung, als seine hohe Gestalt mit elastischen Schritten den Saal durchmaß. Ihre Augen, sonst so zaghaft, zogen ihn mit magnetischen Kräften an sich heran, und noch hatte er sie nicht erreicht, noch hatte er sich nicht verneigt vor ihr, so stand sie schon, und leise neigte sich ihr voller Busen seinem Herzen. So schmiegt die Meise sich dem Weißdornhang, so greift der Rabe nach den Mistelzweigen. Wie wurden dem Kinde mit einem Male die Augen so groß. Stolz stand sie da und sah in die flimmernde, glitzernde Herrlichkeit des Kronleuchters und über die tanzenden Paare. Der Besitz des Geliebten gab ihr Sicherheit, beinah das Recht, sich über alles erhaben zu fühlen. Nur tanzen, tanzen mit ihm in jeder Richtung, selbst in die Hölle, wie Bastel Fiedele meinte.

Und als sie nun am Abend den Saal verließen und hinaustraten ins Freie, wie wurde da ihr Herz so weit, wie wurde sie da durch die Liebe dem Unendlichen so nahe verwandt. Ein leichter Nebel füllte die Täler und verhüllte alles Gegenständliche. Nur der kahle Bergesrücken war erhellt und über ihm schwamm in stahlblauen Fernen der Mond. Welch wundervolle Dreieinigkeit, der Mond und er und sie. Ist es verwunderlich, wenn sie sich vorkam wie der Mittelpunkt des Universums. Sie legte den Arm um den Nacken des Geliebten. Die Flammen der Liebe schlugen ineinander, und zum Himmel stieg das stille Gelöbnis zweier Seelen, einander treu zu sein; ein Opferdampf, dem Herrn nicht minder genehm, wie einst der Rauch vom Altare Abels.

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