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Die Mühle zu Husterloh

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Die Mühle zu Husterloh
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1. Kapitel

Hans Höhrle war in der Tat ein richtiges »Röhrle«. Denkt ihr, es wäre ihm eingefallen, auf die Welt zu kommen, als seine guten Eltern ihn mit Fug und Recht erwarten konnten? Kein Gedanke daran. Er schickte seine Schwester Suse voraus in den Kampf ums Dasein. Er selber blieb in der Reserve. Mochte Suse einstweilen wachsen und groß werden, damit sie ihn warten und pflegen könne, wenn es ihm gefällig wäre, sich in die Welt hineinzubemühen. Es verstrichen einige Jahre, ohne dass Hans Höhrle auch nur das Geringste tat, um sich eine Existenz zu gründen. Schon in seiner Keimzelle lag ein bedauerlicher Beharrungstrieb. So überholte ihn auch seine Schwester Liese, und beide Mädchen waren schon ziemlich erwachsen, als der lang Erwartete endlich kam. Man badete ihn, was er geduldig hinnahm, setzte ihm eine feine Spitzenhaube mit rosa Schleifchen auf und legte ihn in einer blitzblanken Wiege unter eine Federwolke, die von rot und weiß gewürfeltem Barchent zusammengehalten war. Hans hielt die Augen geschlossen und schlief sorglos weiter, als ob mit ihm gar kein Ortswechsel vorgegangen wäre und als ob er nicht die Verpflichtung hätte, seine neue Umgebung mit einem herablassenden Lächeln zu begrüßen. Sein Atem ging ruhig, nur zuweilen trat eine kleine weiße Blase zwischen seine Lippen und ruhte da auf rosigem Grunde wie eine Perle in der Muschel. Die ganze Familie war um das Bettchen versammelt, zwei zur Rechten, zwei zur Linken, Hans Höhrle in der Mitte.

Er war ein goldiger Junge, das fühlten alle, aber Suschen fand zuerst die Sprache. »Er ist zum Anbeißen,« sagte sie. Erschrocken fuhr Lieschen zusammen und beugte sich mit ihrem Oberkörper über den Schläfer, als ob sie ihn gegen das menschenfresserische Gelüste ihrer Schwester schützen müsse.

Der Vater Höhrle hatte sich endlich satt gesehen. Er drehte sich um, aber seine Gedanken weilten doch bei dem Kinde. Seine Blicke schweiften durch das Fenster. Vor dem Hause schäumte von den Mühlenrädern nieder sein bester Knecht, der forellenreiche Olfenbach. An dessen Ufern hin streckte sich die Nährmutter seines Viehes, die saftgrüne Wiese. Drüben auf dem ansteigenden Pfade, der sich in den Tannenwald verkroch, ging bedächtig ein Trupp schwerbeladener Esel, die das Mehl nach den Bauernhöfen trugen und das Korn wieder nach der Mühle zurückbrachten. Lustig und taktfest klapperten die Stühle, und wenn der Korntrichter leer war, so schellten sie den Mahlknecht herbei, als ob sie nun einmal ohne Arbeit nicht leben könnten. Allerlei Reichtum war in der Mühle, nur Pferde gab es nicht. »Pferdverrecken das sind Schrecken« war ein Sprichwort, nach dem der Bauer in damaliger Zeit seinen Betrieb einrichtete, und schließlich hatte man ja die Kraft der bedächtigen Ochsen, um ganze Berge von Erntesegen heimzufahren, wenn auch langsam.

Wie war das Glück des Hauses Höhrle so wohlgefügt, so reich, auf so breiter Basis, als ob es die Jahrhunderte überdauern sollte. Speicher und Keller des weit ausladenden Hauses waren wohlgefüllt. Auf Stunden im Umkreis war kein Hof, der sich mit der Mühle von Husterloh messen konnte. Alle Tage überschaute der Müller sein Glück, heute aber fühlte er es, heute, wo der Erbe geboren war seines Namens und seiner Habe. Er wusste jetzt, für wen die Kühe kalbten, für wen der Tannenwald die hellgrünen zarten Sprösslinge trieb. Auf ein weiteres Menschenleben hinaus sah er den Bestand der Dinge gesichert. Ihm war so warm ums Herz, und so schweigsam und verschlossen er sonst auch war, heute musste er reden. Er schickte die beiden rosenschönen Töchter an irgendeine Arbeit, klopfte sich mit der Hand den Mehlstaub aus den Hosen und setzte sich vorsichtig auf den Rand des breiten Bettes, in dem die Wöchnerin lag. Er war nicht mehr ganz jung. Seine glatt rasierten Backen hingen schon wie müde Flügel eines Zugvogels nieder, und wenn er sprach, so tanzte ein langer Zahn verwegen zwischen seinen Lippen. Er hatte ein demütiges subalternes Gesicht und stach ab gegen die energievolle Erscheinung seiner Frau, deren runde Formen die Bettdecke lüpften und auf deren drallen Backen man wohl eine Erbse zerdrücken konnte. Wer die beiden so nebeneinander sah, konnte leicht erraten, wer der Herr im Hause sei.

Vater Höhrle nahm die Hand der Entbundenen und sah ihr mit den demütigen Augen in das breite Antlitz, das auch durch das Weh des Geburtsaktes nichts von seiner Energie verloren hatte. »Mutter«, begann er weitausholend, »sieh doch, was der Junge für kräftige Fäuste hat.«

»Was willst du damit sagen«, entgegnete die Angeredete, und ihr Blick nahm dabei etwas Lauerndes an, wie das Auge eines Fechters, der den Hieb erwartet und ihn mit dem Hiebe zu parieren gedenkt.

»Nun doch,« fuhr er ruhig fort, »das Haus braucht auch einmal eine kräftigere Faust, als die meinige ist, und der Pflug und die Egge wollen geführt sein.«

»Ah,« platzte sie höhnisch heraus, »denkst du, mein Kind soll hinter den Riegelwänden deiner Bude wie die Schwänze deiner Kühe hin- und herpendeln. Daraus wird nichts!«

»Willst du das Kind hinaustreiben und in der Ferne finden lassen, was es hier ungesucht haben kann?«

»Soll er sich zu einem Gerippe herunterrackern wie du,« schrie sie zornig, »daraus wird nichts. Der Junge studiert und wird ein hochwürdiger Herr, und wenn er’s nicht zum Bischof bringt, ein Pfarrer wird er jedenfalls.«

»Rege dich nicht auf,« so suchte Vater Höhrle einzulenken.

»Du regst mich auf,« warf sie dazwischen. »Du willst nichts an das Kind hängen. Du brauchst es auch nicht. Denkst du, ich hätte umsonst seit Jahren die Milch gewässert; und dann das Geld, das ich in die Ehe gebracht habe. War die Tochter aus dem Hause Schütteldich eines Bettelmannes Kind?«

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Röse Ricke, die Hebamme, trat aus der Küche, wo sie ein wenig gelauert hatte, ins Zimmer. Sie kannte also den Gegenstand der Familienkontroverse, schob ihre Brille auf die Stirne und hauchte das hadernde Paar ungefähr folgendermaßen an:

»Seid ihr verrückt, ihr Narren? Die Frage ist doch noch gar nicht prinzipiell« – Gott weiß, woher sie das Fremdwort hatte, aber sie hatte es nun einmal und schoss damit bei jeder Gelegenheit gefährlich um sich – »wartet’s ab, bis der Junge prinzipiell hinter den Ohren trocken ist. Bis dahin kann noch viel passieren. Es kann ein Erdbeben euer Haus verschlingen. Eine Sintflut kann es in den Neckar schwemmen. Und dann, muss denn jeder etwas werden? Seht, da ist sein Onkel Schütteldich. Bis dato hat er drei Ledersofas zu Schanden gesessen und am vierten hobelt er zur Stunde mit der Kehrseite. Der Junge wird einst der Erbe seines Reichtums sein und dessen, was ihr zusammengeschrappt. Wozu braucht er einmal anderen Leuten die Arbeit wegzustehlen? Ich an seiner Stelle würde mich an jedem Quatemberfasttage einmal waschen und damit pasta!«

Vater Höhrle, der wohl ahnte, dass nun das Wasser zweier Beredsamkeitskatarakte ineinander plätschern würde, erhob sich, schlug mit seinem Stulpkäppchen einen Haufen Mücken tot, der auf der Tischplatte an einem Tropfen Milch kneipte, und ging nach seiner Mühle.

Jetzt belebte sich die Stube und füllte sich wie ein Jahrmarkt. Nachbarsweiber kamen und brachten in unterschiedlichen Geschirren eine mehr oder minder kräftig ausgefallene Weinsauce, an der die Wöchnerin sich erlaben und stärken sollte. Röse Ricke dirigierte eine Anzahl dieser Töpfe zwischen die Blumenscherben des Fensterbrettes, setzte sich daneben und fing an einzunehmen wie eine Sekundärbahnlokomotive. So kam’s, dass sie bereits einen kleinen Affen hatte, als der Doktor ins Zimmer trat. Wäre der Mann eigentlich nötig gewesen? O nein, aber Mutter Höhrle hatte nun einmal einen Stich ins Großartige; sie liebte das Außergewöhnliche, weil sie sich dadurch abheben wollte von der Masse und vor allem von denen, die es weniger machen konnten als sie selber.

Der gute, dicke Herr balancierte den Sprössling des Hauses Höhrle auf seiner breiten Hand wie auf einem Nudelbrett, horchte an ihm herum, betrachtete ihn durch seine Brillengläser, und es fehlte nicht viel und er hätte an ihm wie an einem Handschuh die Innenseite nach außen gekehrt. Endlich legte er ihn auf den Tisch mit den Worten: »So einer wird nicht alle Tage geboren. Glücklich der Mann, der zwischen Martini und Fastnacht ein Spanferkel von seinem Gewichte auf dem Tische hat.« Die ganze Korona war hochbefriedigt von dem günstigen Urteil dieses Sachverständigen. Suse und Liese waren froh, dass ihr guter Bruder aus den Bärentatzen des Übermenschen heil und ganz herausgekommen war. Sie machten sich über den Buben her und stritten sich, wer ihn unter Singsang durchs Zimmer tragen dürfe.

So war alles in bester Ordnung, und der Arzt hätte seine zwei Zentner Doktorfleisch dem mageren Klepper, der vor der Türe wartete, wieder überantworten können, wenn nicht Röse Ricke wie ein Wegelagerer aus dem Hinterhalt hervorgebrochen wäre. Sie hatte ihre Brille zwischen linkem Daumen und Zeigefinger geklemmt, stemmte, um durch ihre Fläche zu imponieren, die Hände in die Seite und überraschte den Arzt mit der erstaunlichen Frage: »Haben Sie auch gesehen, dass die Haut prinzipiell gerötet ist?«

»Sie haben das Kind gebadet,« entgegnete der Angeredete trocken, »und wohl etwas zu heiß. Die Röte kommt von der Wärme,« damit verneigte er sich gegen die Versammlung, bedeckte den Kahlhieb seines Schädels mit einem emeritierten Zylinder und verschwand mit geringschätzigem Lächeln.

Röse Ricke versank darob einen Moment in verärgerte Beschämung, aber sie erholte sich rasch und verkündete der erlauchten Versammlung: »Wenn die prinzipielle Röte von den Wörm kommt, so weiß ich Rat. Habt ihr Wurmsamen im Haus?«

Man suchte danach. Die weise Frau vermengte ihn sorgfältig mit Latwerg und stopfte das Gemenge dem Kleinen mit rücksichtsloser Gründlichkeit in den Mund. Dabei nahm jedoch nicht alles den richtigen Kurs. Einiges geriet auf ein totes Geleise und blieb auf den Backen hängen, und so kam’s, dass Hans Höhrle eine Stunde nach seiner Geburt aussah wie ein Schnauzer, der vom Mäusegraben kommt.

 

2. Kapitel

Während der nun zunächst folgenden Jahre erstrahlte scheinbar der Himmel des Höhrleschen Glückes in lachender, wolkenloser Bläue. Der Wald gab sein Holz, das Feld die glänzende Ähre, die Kühe die Milch. Mit Bienenfleiß gingen die Esel aus und ein, die Mühle prägte Geld, von den Hühnern fielen die Eier, von den Bäumen die Äpfel, und es fehlte wenig und selbst der Sägebock auf dem Speicher hätte angefangen zu kälbern. Die Mutter Höhrle baute sich nach der Peripherie aus und glich einer Melone, Suse und Liese zweien Pfirsichen, die zu reifen beginnen. Hans Höhrle hatte den Mund voller Zähne bekommen, die etwas weit auseinanderstanden, woraus Röse Ricke den Schluss zog, dass er prinzipiell weit in der Welt herumkommen würde. Das einzige, was man zu beklagen hatte, war der Verlust des tanzenden Zahnes zwischen den Lippen des Vaters Höhrle. Hatte der Müller vorher das Aussehen eines Pfarramtskandidaten, der mit dreißig Kreuzern Tagesgehalt auskommen muss, so glich er jetzt, wo seine Lippen sich etwas nach innen umkrempelten, mehr und mehr einem gutmütigen Großmütterlein.

Allein über die versöhnliche Abendstimmung, die auf diesem alternden Antlitz thronte, zog zuweilen wie Höhenrauch ein Schatten von Sorge. Vater Höhrle, und zwar er allein, sah am äußersten Rande seines Besitzstandes ein Wölkchen sich entwickeln und rasch sich zu Klumpen ballen, und er fürchtete, dass aus diesem jetzt noch so schattenhaften Luftgebilde ein Hagelschauer niederprasseln möchte, der sein Glück vernichten könnte.

Weiter unten im Tal, dort wo der Bach kurz vor seiner Mündung in den Fluss noch einmal wie ein zorniger Truthahn seine Federn sträubt und fauchend sich über Felsstücke stürzt, dort im Wiesengrunde fing man an ein Fundament zu graben. Es war die Firma Groß und Moos, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht und unbeschränkter Rücksichtslosigkeit. Bauern, die des Abends in der Mühlstube zu schlafen pflegten und warteten, bis der Mahlgang das als Mehl ausspie, was sie dem Trichter als Korn anvertraut hatten, erzählten umständlich, was man da unten plante. So erfuhr der alte Höhrle die schier unglaubliche Mär, dass man statt des Wassers den Dampf einspannen wolle, die Mühlräder zu treiben. Er konnte es nicht glauben; aber er misstraute gleichwohl den Veranstaltungen da drunten und den hohen Mauern, die, wie von Geisterhänden gebaut, rasch aus der Erde wuchsen und einen Schornstein wie einen drohenden Finger in die Luft reckten, der ungefähr sagen sollte: »Nehmt euch in acht, es kommt rascher als ihr denkt!« Höhrle verstand und fürchtete die Drohung. Der unheimliche Backsteinkoloss da unten hielt ihn fest in seinem Banne, ja lähmte ihn fast wie das Auge der Kreuzotter den Zaunkönig.

Manchmal schon, wenn sich der Abend niedersenkte, war er auf Waldwegen talab gegangen. Er sah, wie sich der Sonnenball in hunderten von Scheiben spiegelte, das fand er erklärlich; aber er wollte fast vor Schreck in die Erde sinken, als das steinerne Ungetüm im Dämmerlicht wie auf einen Zauberschlag von innen heraus zu glühen begann. Was war das? Hatte die Firma Groß und Moos die Sonne gepachtet und hing sie in ihrer Mühle aus, wenn sie den übrigen Sterblichen unterging? Der Bachmüller stand wie angewurzelt in den Haselnussstauden verborgen. Es fror ihn von innen heraus, und als er seine Beine gebrauchen wollte, um nach Hause zu gehen, war es ihm, als ob er sie aus steifem Schusterkleister herausziehen müsse. Auch folgten sie nicht seinem Willen. Sie trugen ihn hin, wohin er nicht wollte. Sie gingen im Dunkeln den moosigen Hang hinunter ins feuchte Gras des Wiesentales, überschritten den Bach, seither seinen Bach, und Höhrle stand nun vor den drahtübersponnenen Fenstern der Maschinenhalle. Aus einer offenen Feuerung schlug ihm die rote Glut eines ganzen Fegefeuers in die Augen. Alles, was diesen Flammenball allenfalls umgeben mochte, gewahrte er nicht. Wer in die Sonne schaut, übersieht die Fliegen. Die Helle nahm des Mannes ganzen Sinn gefangen. Da hörte er, wie eine schwere eiserne Tür mit dem exakten Geräusche eines Pistolenschusses ins Schloss fuhr, und nun mit einem Male kamen in dem hohen weißgetünchten Raume seltsame Dinge zum Vorschein. Ein schwarzer unheimlich auf dem Bauche kriechender Riesenleib hob silberhell glänzende, gigantische Glieder, ließ sie sausend niederfallen, um sie, in tausend Gelenke gebrochen, blitzschnell wieder zu heben. Räder schnurrten scheinbar frei im Raume schwebend mit pfeifendem Zischen durch die Luft; Taue und Riemen drehten sich um unsichtbare Wellen und geigten scheinbar zwecklos in der Luft wie Libellen über einem Sumpf. Bei all dem Lärm und all dem Schnauben musste das eiserne Ungeheuer doch nicht allzu gefährlich sein; denn Höhrle sah Menschen da drinnen herumlaufen, leibhaftige Menschen mit blauen, ölfleckenglänzenden Hosen, die friedlich aus kurzen Pfeifen rauchten. Einer der rußgeschwärzten Gesellen riss mit einem eisernen Haken die Tür der Feuerung auf, und Höhrle sah wiederum in die brodelnde, funkensprühende Glut. Wiederum versanken alle Gegenstände wie in der Helle eines Weltbrandes. Aber da kam vom Boden aus, langsam sich hebend, eine Schaufel mit einer unförmlich schwarzen Masse mitten in die leuchtende Scheibe. Ein kurzer Ruck, und der rätselhafte Stoff fuhr mit Funkengeknister in den feurig flüssigen Brei. Der Vorgang wiederholte sich ein paar Mal, dann fuhr die schwere Eisentür in ihr Schloss und alles im Raum nahm wieder die Gestalt und Form an, die es vorher hatte. Höhrle dachte nach und fand heraus, dass die schwarze Masse die Steinkohle sein könne, von der er irgendwo gelesen hatte, dass sie berufen sei, die Welt umzuformen. Ein Gruseln überkam ihn vor diesem unheimlichen Wechselbalg, der dem Schoß der Erde entsprungen war, um der Mutter Antlitz zu zerkratzen. Was konnte noch alles kommen! Vater Höhrle suchte Hilfe bei Gott und erhob das Auge zum Sternendom. Aber was fand er da? Oben in der klaren stahlblauen Nachtlust da stand wohl einen Kilometer lang und länger ein schwarzes Ungetüm, das den Mond verdeckte und wie in Schmerzen sich krümmend den klumpigen Schlangenleib wandte. Der erschreckte Mann sah genauer hin und entdeckte, dass der schwarze Wurm, der seinem Auge den Blick zum Himmel verlegte und das Tal mit einem stinkenden Brodem füllte, aus dem Riesenschornstein geboren wurde, den Menschenhand aus kleinen Backsteinen zusammengesetzt hatte. Da zum ersten Male verlor er den Respekt vor der Allmacht Gottes, der sich seinen Himmel wie einen Schinken räuchern ließ, und er fing an zu glauben an die Macht der Kohle und des Goldes. Ihn fror. Er bohrte die Fäuste tief in die Taschen seines Rockes, schlug die Absätze in den Straßenkot und senkte den müden Blick dem Boden zu, das Herz so schwer, das Herz so bang. Aber was gewahrte er da? Wie ein Notenblatt sah die Straße aus mit ihren in steifem Kote stehenden Wagenspuren. Das war ja die reine Verkehrsstatistik der Firma Groß und Moos. Was wollten ihr gegenüber die paar Hufspuren der Esel besagen, die hier und da wie Notenköpfe eingezeichnet waren. Höhrle versuchte mit geschlossenen Lidern weiterzulaufen. Doch ihn zwang die Angst, zuweilen sich umzusehen.

Ihm war, als ob der schwarze Wurm da oben in den Lüften ihm nachkriechen und nach ihm schnappen könne, und er nahm mit Eifer den Weg zwischen die Beine.

Als er aber in den Wiesenpfad nach seiner Mühle einschwenkte, wurde er ruhiger. Das schier melodische Klappern, das nun an sein Ohr drang, und der Schimmer des Öllampenlichtes zwischen dem Blattwerk des Erlengebüsches senkten ihren Frieden in sein Herz und gaben ihm wieder Sicherheit. Ohne eines von den Seinen aufzusuchen, ging er in sein Bett. Doch schlafen konnte er nicht. Er zog sich an, stieg die Treppe hinunter, und trat zu ebener Erde in den Raum ein, wo die Bauernkundschaft schlief oder Karten spielte, um sich die Zeit zu vertreiben. Von dem mehlbestaubten Balkenwerke der Decke pendelte die Laterne nieder und warf wandernde Lichter auf ein halbes Dutzend kräftiger Gestalten, die auf Spreusäcken am Boden lagen oder saßen.

»Grüß Gott«, rief Vater Höhrle zwischen das Geklapper der Mahlstühle hinein.

»Grüß Gott,« tönte es vielstimmig zurück, und eine Anzahl Männer richtete die Köpfe in die Höhe, zum Zeichen, dass sie geneigt seien, sich in eine Unterhaltung einzulassen.

»Woher zu dieser Stunde, Vater Höhrle?« rief eine Stimme aus dem Hintergrund. »Habt Ihr Euch beim Kartenspiel verspätet?«

»Das nicht, ich war im unteren Tale.«

»Und habt die Mühle von Groß und Moos angesehen? Ich denke, Ihr besinnt Euch und verkauft beizeiten Eure Spreusäcke, Vater Höhrle, denn in ein paar Jahren liegt Euch hier kein Bauer mehr herum!«

»Und versäumt seine Zeit,« rief eine boshafte Stimme. »Wer drunten Korn ablädt, braucht nur den Wagen zu wenden, und er kann mit seinem Mehle wieder von dannen fahren.«

»Nehmt Euch in acht, Müller,« sagte ein anderer beißend, »als der Dampf sich vor die Wagen spannte, wurden die Fuhrleute gerädert, wenn er die Steine dreht, so zerquetscht er die Müller.«

»Man schneidet keinem die Haare, der nicht still hält,« sagte Höhrle und suchte einen zuversichtlichen Ton in seine Worte zu legen, aber es gelang ihm nicht, zumal da es ihm den Eindruck machte, als ob er zur Stunde schon einige Spreusäcke entbehrlich hätte. Er ging in seine Kammer; aber der Gott des Schlafes kam jetzt erst recht nicht, obwohl nickende Mohnköpfe, zu Bündeln geknüpft, vom Durchzug des Zimmers herniederhingen.

3. Kapitel

Früh am nächsten Morgen erhob sich Vater Höhrle. Wer mochte auch auf einem Lager bleiben, auf dem die Sorge das Leintuch in tausend scharfe Fältchen zerknüllt hatte? Es war ein Sonntag, und der Kuhbub hatte heute seinen Kirchgang. So ging denn der Hausherr hinter den Rindern her, die in gemächlichem Wiegen das Dorf durchschritten, zuweilen auch ein wenig stehen blieben und die Häuser betrachteten, die sie wohl alle kannten, die aber heute in ihrer sonntäglichen Sauberkeit einen kuriosen Eindruck machten. Sie kamen an einen steilen Pfad, der die Berglehne hinaufführte, und bogen in diesen ein, ohne dass ihnen irgendjemand einen Wink gegeben hätte. Sie kannten sich aus in der Gemarkung, und Vater Höhrle konnte unbesorgt hinterhergehend seinen Gedanken nachhängen. Als sie an einen geschorenen, aber wieder frisch treibenden Kleeacker kamen, fingen sie an zu fressen, und ihr Hüter konnte sich die Sache noch bequemer machen. Er setzte sich auf eine kleine Böschung, die das Feld vom Walde schied, und hatte hinter sich die schwarzgrünen Nadeln eines Tannenwaldes und vor sich das hellgrüne Wiesental mit seinen zerstreuten Bauernhöfen, seinem strudelnden Bache, seinem weißglänzenden schäumenden Wehr und über dem ganzen mildstrahlend die Morgensonne des Frühherbstes. Gewiss dies alles waren dem Vater Höhrle bekannte Dinge, und doch betrachtete er alle wieder mit stillem Wohlgefallen. Nur nach einer Seite hin konnte er nicht blicken, das Tal abwärts, dorthin wo gestern das schmutzige, schwarzgraue Ungetüm in den Lüften hing, wo die Dampfmühle stand, der er so sehr misstraute. Und doch war kein Gedanke daran, dass er von dem Punkte aus, wo er sich befand, den Backsteinkoloss hätte sehen können; das Tal war viel zu gewunden. Aber einerlei, er mochte nicht einmal nach der Himmelsrichtung schauen. Er ahnte, von dort heraus, von dem Schienenstrang der Eisenbahn aus, der sich durchs Neckartal wie eine falsche Schlange wand, kam die neue Zeit mit ihren Tücken und ihrer Grausamkeit, ihrer Großmannssucht, ihrem Geldhunger, deren Opfer er werden sollte.

Das Tal herunter wälzte sich jetzt in getragenen Wellen der Klang der Kirchenglocken. Vater Höhrle war ein frommer Mann und ging gern zur Kirche, aber heute war doch der Kühbub an der Reihe, also musste der Bauer seinen Gottesdienst im Freien halten. So faltete er die Hände über seinem Stocke und betete ein Gebet, das er selber verfasst hatte und das also lautete:

»Lieber Gott erhalte, was du mir gegeben hast. Lass mich deine Scholle bebauen, so lange ich lebe, und lass sie mein Bett werden, wenn ich gestorben bin. So viel erflehe ich für mich und mehr auch nicht für meine Kinder. Meinem Weibe aber gib einen friedfertigen demütigen Sinn, damit sie nicht nach Dingen strebe, die dem Bauer nicht erreichbar sind.«

Es war nicht viel, was der Landmann da erbat, und wenn der Himmel nicht geizig war, konnte er’s gewähren. Aber er tat’s nicht.

 

Eben war Vater Höhrle fertig mit seiner Andacht und setzte sein Stulpkäppchen wieder auf, als der Viertakt eines Zweigespannes auf der Straße unter ihm erklang. Höhrle schaute hinunter. Was war das? Auf dem Rücken zweier mutwilliger Goldfüchse spiegelte sich die Morgensonne und dahinterher rollten fast lautlos die schwellenden Lederpolster eines Wagens, für einen König, der zur Krönung fährt, eben gut genug, und doch saßen nur zwei Bürgerfrauen darin. Der Bauer brauchte einige Augenblicke, um die Erscheinung zu deuten. Da schneidet ihm wie ein Peitschenhieb ein widerwärtiger Gedanke durch das Gehirn: Das ist die Firma Groß und Moos, das sind die Damen mit der beschränkten Haftpflicht. – Jetzt war’s vorbei mit dem Sonntagsgottesfrieden, vorbei mit seiner Ruhe und seiner Andacht. Er verließ das freie Feld und vergrub seine Aufregung und seine Angst im Waldesdunkel. Nur zuweilen schielte er wie ein verscheuchter Räuber unter den Tannenzweigen hervor, und als er nach Stunden der Zurückgezogenheit sah, dass seine Rinder die Nasen häufig in die Luft streckten und nur lässig fraßen, trieb er sie auf einsamen Pfaden ins Dorf den Ställen zu.

Als Vater Höhrle gegen Mittag sich seiner Mühle näherte, gewahrte er, wie ein Bündel Unterröcke voller Grazie um die Hausecke flog. Obwohl er nicht sehen konnte, wer in den Röcken steckte, so wusste er doch, dass dies der Kometschweif von Röse Ricke sei und dass der dazugehörige Stern sich nun die Treppe zum zweiten Stock hinaufschob, um oben irgendein Unheil zu verkünden. Er hatte keine Eile zu erfahren, was vorging. Er begab sich in den Stall und legte gemächlich eine Kuh nach der andern an die Kette.

»Vater Höhrle, Vater Höhrle, hört Ihr denn nicht, Vater Höhrle?« so rief mit einem Male Röse Ricke die Treppe herunter, »die Hausherrin wünscht, dass Ihr zur Stelle sein sollt, und ich denke Ihr werdet erscheinen!«

»Gewiss werde ich das,« gab der Müller zur Antwort und beeilte sich, die ausgetretenen Stufen zu ersteigen. Vor der Stubentür ordnete er erst in etwas seine Kleider und trat in demütiger Haltung ins Zimmer. Als er in das Antlitz seiner Frau sah, fuhr er ängstlich zusammen, denn obgleich der Kopf nicht die Hörner von Michelangelos Moses trug, lag doch die ganze eiserne Härte eines unerbittlichen Gesetzgebers in seinem Ausdruck.

»Hab ich dir’s nicht immer gesagt,« polterte die Müllerin los, »so kann’s nicht weiter gehen. Hast du dich je bemüht, deine Familie auf das Niveau hinaufzuheben, wohin sie gehört? Wer spielt nun im Tale die erste Geige? Groß und Moos. Wer fährt auf Gummirädern und hat seidene Schleier vorm Gesicht? Die Damen Groß und Moos. Wer hat in der Kirche einen eigenen Stuhl und lässt niemand anders mehr hinein? Groß und Moos. Und wer muss sich die Beine in den Leib stehen, solange die Predigt währt und die Messe? Die Kinder des Hauses Höhrle. Wer kommt daher wie eine Kuhmagd, hat nichts aufzusetzen und nichts anzuziehen? Die Frau vom Hause Höhrle.«

In dem Augenblick, wo sie sich so ganz erbärmlich nackt und bloß der Welt zeigen musste, übermannte sie das Mitleid mit sich selber. Sie fing heftig zu weinen an und hob die Schürze nach den Augen, woraus der Leser sehen mag, dass sie allzu dick auftrug, und dass sie immerhin noch etwas mehr am Leibe hatte, als unsere ehrsame Stamm-Mutter Eva nach dem Sündenfall.

Zunächst hörte man freilich nichts weiter als ein ausdrucksvoll vorgetragenes Schluchzen, das nicht einmal Röse Ricke sonderlich zu rühren schien, denn sie lief mit erheucheltem Seufzen nach der Küche, holte eine blecherne Waschschüssel und stellte sie der Mutter Höhrle auf den Schoß. »So,« sagte sie, »nun lasst die Tränen fließen. Das Wasser, was einer weint, das braucht er nicht zu schwitzen. So hat der liebe Gott prinzipiell die Wasserfrage entschieden, und wenn der eine Topf voll ist, so hol’ ich einen andern.«

Nun konnte eigentlich alle Welt erwarten, dass man es tropfen höre, allein es geschah ganz etwas anderes. Höhrle junior stürzte aus einer Seitenkammer und benutzte die Pause des Schweigens, um sich seinem Vater in einem neuen eleganten Anzuge vorzustellen. Wenn ich von einem neuen Anzug rede, so ist das eigentlich etwas zu viel gesagt, denn der Stoff zum mindesten war nicht neu. Er hatte vordem schon durch manches Jahr Vater Höhrles Beine geziert, und wenn ich sage, elegant, so ist auch dies ein Euphemismus, denn da der Meister Eisengarn die Metamorphose mehr mit der Schere als mit der Nadel bewerkstelligt hatte, so waren die Hosen etwas völlig ausgefallen, und sie täuschten an der Rückseite vor allem bedeutend mehr vor, als Höhrle junior sein eigen nennen konnte. Aber der Junge, der noch wenig ästhetisches Zartgefühl besaß, war mit seinem Aussehen offenbar sehr zufrieden, und er verlangte von seinem Vater einige Worte bewundernder Anerkennung. Dieser, glücklich über die kleine Ablenkung, fuhr dem Knaben mit der Hand durch das lichtblonde Haar und sagte: »Schön, mein Junge, sehr schön, du könntest der Sohn des Amtmannes sein.«

Diese Worte rissen die geborene Schütteldich plötzlich aus tränenfeuchter Lethargie empor, und sie schrie in bellendem Tone: »O, der Hohn, das muss Unsereiner sich bieten lassen! Da sieh einer den Jungen an, gleicht der noch einem Menschen?«

»Ihr übertreibt, Nachbarin,« fiel Röse Ricke ein, »er ähnelt immer noch dem Dalai-Lama von Taklakott, den ich einmal in einem Guckkasten kennen gelernt habe,« und sie lachte hell hinaus.

Auch Vater Höhrle lachte, und da er an derartige Rührszenen längst gewohnt war, so benutzte er die Gelegenheit und brachte die Tür hinter seinen Rücken. Der kleine Hans, der merkte, dass man sich über ihn amüsiere, hatte nichts dagegen einzuwenden, sondern griff mit beiden Händen an die Hosennähte und fing an, in den unaussprechlich weiten einen Cancan zu tanzen. Jetzt nahm Mutter Höhrle die Schürze von den Augen, und da sie wusste, dass sie vorhin gewaltig übertrieben hatte, so wollte sie wenigstens Röse Ricke gegenüber etwas einlenken, und sie sagte kleinlaut: »Ist nicht sein Aussehen so, dass man ihn auf Jahrmärkten sehen lassen könnte?«

»Doch,« sagte Röse Ricke, »und wenn wir zwei mit dem Zinnteller sammeln gingen, so dürfte immerhin ein Stück Geld dabei herausspringen.«

Die Tür ging auf, und Suse und Liese, die im Sonntagsputz vom Kirchgang nach Hause kamen, machten sich ungestüm über ihren drolligen Bruder her und bedeckten ihn mit einer schier endlosen Anzahl von Küssen. Mutter Höhrle fand das langweilig und kürzte die Szene des Wiedersehens mit der Frage ab, ob denn die Mädchen nichts Neues im Kirchdorfe erfahren hätten. Doch, sie hatten die Damen der Firma Groß und Moos in einem Viktoriawagen gesehen, und sie bestätigten ausdrücklich, was Röse Ricke nur gerüchtweise erzählt hatte, dass Groß und Moos in einem eigenen Kirchenstuhle saßen, der durch eine Tür für andere Leute abgesperrt war, dass der Kirchendiener vor ihnen einen Knicks gemacht, mit seinem Sacktuch die Sitze abgestäubt und ein Polster auf ihre Kniebank gelegt habe. Mutter Höhrle war empört über eine derartige Bevorzugung hereingeplackter Menschen vor dem Angesichte des Herrn, und sie erklärte rundweg: »So, entweder räumt jetzt der Pfarrer der Familie Höhrle gleichfalls einen eigenen Stuhl ein, oder wir werden Protestanten.«

»Wacker geredet,« sagte Röse Ricke, »und dem guten Hirten über dem Kirchenportal geschieht es recht, wenn seine Schafe aus dem Pferch brechen, warum speist er sie mit so unterschiedlichem Futter. Unheil, du bist im Zug,« murmelte sie noch, ging gut gelaunt nach der Türe und überließ die Mutter Höhrle dem Dämon des Neides, der mit seinen Krallen ihr Herz zerfleischte.

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