Zwielicht 14

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Zwielicht 14
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Zwielicht 14

1  Vorwort

2  Geschichten

3  Julia Annina Jorges - Puppenspiele

4  Michael Siefener - Die Fabrik

5  Karin Reddemann - Weh Mutterherz

6  Christian Weis - Dante Infernalis

7  Thomas Kodnar - Lover´s Limb

8  Harald A. Weissen - Wolf…wer?

9  Holger Vos - Skullcity

10  Vincent Voss - Die dicksten Kartoffeln

11  Algernon Blackwood - Skeleton Lake

12  Michael Tillmann - Dark Tourism – Endstufe

13  Sascha Dinse - Mel

14  Harry Harrison Kroll - Altweibersommer

15  Jesse Franklin Bone - Einfuhrverbot für Horgels

16  Artikel

17  Karin Reddemann - Baby Jane, der große Böse und ein Eispickel im Schädel

18  Vincent Preis 2019

19  Horror 2019

20  Autoreninfos

Vorwort

Liebe Freunde des gepflegten Grauens,

eine neue Zwielicht-Ausgabe liegt vor euch und das ist nicht selbstverständlich. Bücher mit Kurzgeschichten des Genres Horror und unheimliche Phantastik gibt es häufig, aber mir fällt auf Anhieb keines ein, das es auf 14 Ausgaben gebracht hat, sieht man von Zwielicht Classic ab – die Reihe mit Nachdrucken steht bei 15 Nummern.

Als im April 2009 die erste Ausgabe erschien, eine indirekte Fortführung der Leselupenbücher Die dunkle Seite und Schattenseiten, war unser Ziel, eine regelmäßige Publikationsmöglichkeit für Autoren und entsprechenden Lesestoff für Liebhaber dieser Literaturform zu schaffen. Das ist uns gelungen. Wenn auch seitdem eine Vielzahl an Anthologien erschienen ist, so was wie Zwielicht gibt es kein zweites Mal. Die Autoren sind frei von jeglicher Inhalts- und Längenvorgabe und so bietet Zwielicht vor allem Abwechslung und scheut sich weder vor unterhaltsamen noch anspruchsvollen Geschichten.

Viermal gewann Zwielicht den Vincent Preis als Beste Anthologie, zweimal für die Beste Grafik, und Zwielicht 13 gewann mit Dann singe ich ein Lied für dich von Gard Spirlin zum ersten Mal die Kurzgeschichtenkategorie.

Erfolge sind aber immer das Gestern. Heute bieten wir drei Übersetzungen an. Wie in jeder Ausgabe findet sich eine deutsche Erstübersetzung von Algernon Blackwood, diesmal aus dem Jahr 1906. Jesse Franklin Bone – Einfuhrverbot für Horgels (1957) wurde ebenfalls zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, widmet sich dem Thema Pandemie und ist damit brandaktuell, während Harry Harrison Kroll – Altweibersommer (1924) die Angst vor … Ach lest doch selbst.

Ina Elbracht ist der neue Star im deutschsprachigen Horror und Escape Room beweist das aufs Neue. Julia Annina Jorges zeigt mit Puppenspiele ebenfalls, dass Horror keine Männerdomäne ist, im Gegenteil. Michael Siefener vorzustellen, heißt Eulen nach Athen zu tragen, der Altmeister des deutschen Horrors sollte jedem ein Begriff sein. Auch Karin Reddemann hat sich mit ihrem unverwechselbaren Stil eine wachsende Fangemeinde geschaffen.

Ein besonderes Anliegen ist es uns, Dante Infernalis von Christian Weis posthum zu veröffentlichen. Christian ist leider viel zu früh von uns gegangen und so freuen wir uns, dass wir unseren Beitrag leisten können, die Erinnerung an einen wunderbaren Autor wachzuhalten.

Holger Vos und Thomas Kodnar sind beide noch unverbrauchte Autoren; dass sie aber mit ihrer Prosa anderen in nichts nachstehen, das zeigen Skull City und Loverʼs Limb.

Vincent Voss, Sascha Dinse und Michael Tillmann sind mittlerweile so was wie Zwielicht-Institutionen, da sprechen die Geschichten für sich.

Bei den Artikeln findet sich eine weitere Folge der Legenden des Kannibalismus von Achim Hildebrand sowie der Beginn einer Artikelreihe von Karin Reddemann. Abgerundet wird dies alles von den Ergebnissen des Vincent Preis 2019 und der Auflistung der Horror-Werke 2019.

Während ihr dieses Buch lest, arbeiten wir schon mit Hochdruck an Zwielicht 15 und hoffen, ihr bleibt uns treu. Sollte euch diese Ausgabe gefallen, dann macht kein Geheimnis daraus. Wir freuen uns über jede Rückmeldung.

Mit dunklen Grüßen


Geschichten
Ina Elbracht - Escape Room

Achtung! 1111 Achtung!

Ainz

Es gibt Dinge, die spontan entstehen. Als ehemals erfolgreiche Youtuberin weiß ich das. Manche Entscheidungen müssen intuitiv und blitzschnell getroffen werden. Wenn man einmal da draußen ist, kann es wie der permanente Ritt auf einer Welle sein. Trotzdem nervte es mich, dass Judy immer so lausig vorbereitet war und statt mit Recherche oder Kenntnis zu glänzen, sich ganz dem Augenblick hingab im unverbrüchlichen Vertrauen auf ihr Improvisationsgeschick, eine überlebensgroße Klappe und ihr einnehmendes Wesen. „Als der liebe Gott den Charme verteilt hat, hab’ ich mich zweimal gemeldet“, pflegte sie anmutig kichernd zu sagen, wenn ihr jemand ein Kompliment machte. Nachdem ich das öfter im exakt gleichen Tonfall zu hören bekommen hatte, fand ich daran rein gar nichts mehr charmant. Na ja, so ergeht es wohl denjenigen, die Sternen zu nahe kommen.

Es ist mir immer leicht gefallen, mir Judy zu ihren Schulzeiten vorzustellen. Bestimmt haben alle über ihre Bemerkungen gelacht, die aus dem Mund etwa der Klassenprimel gnadenlos als unwitzig abgestraft worden wären. Was lässt sich noch weiter über sie sagen? Ich schätze, dass jeder jemanden wie Judy kennt.

Judy und ich waren zur gleichen Zeit gestartet. Als stinknormale kleine Urbexer kannten wir uns aus einem Lost-Places-Kollektiv, in dem Anonymität der wichtigste Teil des gemeinsamen Kodex darstellte. Judy hatte ihren Szene-Namen von Officer Judy Hopps aus Zootopia, deren Halbmaske sie trug, sobald gefilmt wurde. Eine gute Wahl, denn ihr schöner, breiter Mund perfektionierte den Eindruck eines sympathischen Schmunzelhasen. Auch ich habe seit unseren frühen Anfängen nie etwas verändert; mein Markenzeichen war stets eine rote Zorro-Maske. Um ehrlich zu sein, passten meine von mir wenig geliebten schiefen Katzenzähne ganz gut dazu.

Mit der Zeit verschmolzen Judy und ich zu einem perfekt eingespielten Team, das furchtlos in Industrieruinen, verlassene Klinikgebäude, Bunker oder verfallene Villen einstieg und munter alles kommentierte, was wir vorfanden. Nicht selten waren das andere Urbexer und wir wussten, dass wir einen Schritt weitergehen und ein neues Level erreichen wollten. Sich mit lauter traurigen Gestalten auf den Zehen zu stehen und mitunter aushandeln zu müssen, wer wann wo fotografieren oder drehen durfte, entsprach nicht unserem Niveau. Wir professionalisierten uns mit denjenigen im Kollektiv, die es genauso ernst meinten wie wir, und stiegen zu einer Art internen Elite auf, einer eingeschworenen Bande, bis wir zu etwas Eigenständigem wurden. Der Sprung gelang. Wir wurden „fabulous and famous“, wie Judy nie müde wurde unseren Aufstieg zu bezeichnen. Wir ließen uns zu nichts herab und gingen schon lange nicht mehr irgendwo hin. Wenn eine Location nicht exklusives Neuland war, galt sie als verbrannt und interessierte uns nicht. Auf der Fahrt nach Polen gestand sie mir im Wohnmobil, wie sehr sie hoffte, dass wir diesmal einen Volltreffer landen würden. Den konnten wir nach einer längeren Durststrecke gut gebrauchen. Sie wartete, bis wir einen Rastplatz anfuhren und uns der Aufenthalt in der Damentoilette außer Hörweite von Janusz, unserem relativ neuen Kameramann, brachte. Offenbar vertraute sie ihm nicht im gleichen Maße wie mir. Angesichts unserer strikten Anonymitätsregel eigentlich großer Quatsch, aber so ticken manche Leute nun mal.

„Hör mal, Red“, sagte sie und sah mich über den Spiegel des Waschraums an, „was meinst du, wollen wir diesmal zum allerallerersten Mal ohne Masken vor der Kamera auftreten?“ Ich zog erstaunt eine Augenbraue hoch.

„Soweit ich mich erinnere, verbietet das unser Kodex“, antwortete ich. Sie knuffte mich spielerisch gegen die Schulter.

„Über sowas sind wir doch längst hinausgewachsen. Oder hast du wirklich Angst vor Strafverfolgung? Hausfriedensbruch und der ganze Bullshit? Du doch nicht! Ohne Masken können wir den Sprung zu richtigen Influencern schaffen. Nicht nur diese Pillepalle-Einnahmen, die wir jetzt haben.“ Ich glaube, es überraschte sie sehr, dass sie mich nicht weiter überreden musste und ich sofort einverstanden war.

 

„Okay, Judy“, sagte ich nur und steckte mir eine Reisezahnbürste in den Mund, „können wir machen.“

„Du bist hammergeil, Red. Die Beste!“, jubelte sie. Ich grinste schief und mir tropfte Zahnpaste aus dem Mundwinkel. „Ich hab da was Fettes in der Pipeline. Werbung für einen Escape Room. Eine Kette. Dich hole ich natürlich mit ins Boot. Wir werden deren Testimonials.“

„Cool“, sagte ich.

Aber wenn ich ehrlich bin, glaubte ich ihr kein Wort. Bei individuellem Profit hört üblicherweise die Youtuber-Freundschaft auf.

Bevor wir gingen, hielt sie mich kurz vor dem Ausgang am Ärmel zurück und sah verlegen aus. Zumindest für ihre Verhältnisse.

„Eine Sache noch.“

Ich sah sie erwartungsvoll an. Was denn noch? Wollte sie, dass wir unsere Reportage im Bikini drehten?

„Wenn wir in dieses Jagdschloss reinkommen und es irgendwo nach Schimmel riecht, musst du das ansprechen.“

„Wieso denn?“, fragte ich knapp. Unsere Art vor der Kamera zu sprechen hatte sich im Laufe der Zeit auf unsere privaten Gespräche übertragen.

„Ich hab’s machen lassen“, sagte sie und kicherte dann wie verrückt, als ob sie sich damit selbst Applaus spendete. „Ich habe keinen Geruchssinn mehr. Futschikato. Ein winziger Eingriff.“

„Crazy Bitch! Hast du echt?“

„Ja, vielleicht klingt das im Moment noch verrückt für dich, aber ich sag dir: Nicht mehr lange, dann ist das so normal wie Botox. Man kann optimal sein Gewicht halten. Ist gesünder als Magersucht oder Bulimie, das ist mal klar. Und es nimmt den Ekel. Das ist in der Unterhaltungsbranche bestimmt in mehrfacher Hinsicht nützlich.“

„Ist ja gut“, stimmte ich zu, hauptsächlich, um das Thema rasch zu beenden und mir nicht wieder einen Vortrag über Geruchssinn und Schokolade einzuhandeln „ich kommentiere den Schimmel, kein Problem.“ Sie küsste mich auf die Wange und wir gingen zum Wohnmobil zurück.

Zwoh

Ohne Janusz’ Polnischkenntnisse und seinen guten Orientierungssinn hätten wir uns gnadenlos verfahren und das Loch im Zaun wohl nie gefunden. Wir befanden uns jetzt im militärischen Sperrgebiet. Oder ehemaligen Sperrgebiet, wenn man unserem geheimen Tippgeber glauben konnte. Es gibt nicht viel, das dem Gefühl gleicht, leise über unbekanntes Terrain zu schleichen bis endlich das Objekt der Begierde sichtbar wird. Die Vorfreude darauf, ein abandoned premise zu betreten, der Kick, wenn es endlich soweit ist. Das Jagdschloss im Wald war zu Zeiten des Kalten Kriegs vom Służba Bezpieczeństwa, dem Polnischen Geheimdienst, genutzt worden. Janusz versuchte, uns das Wort für die Anmoderation phonetisch beizubringen, der reinste Zungenbrecher. Das Gebäude von 1860 lag seit Ende der Achtziger im Dornröschenschlaf und war aufgrund der abgeschiedenen Lage ungestört geblieben. Es dauerte daher ein bisschen, bis wir einen Weg hinein fanden.

„Hey Leute“, sagte Judy und flirtete sofort was das Zeug hielt mit der Kamera. Dieses „Hey Leute“ war ihr nicht auszutreiben. Ich fand immer, dass das klang, als ob wir bei Bibis Beauty Palace wären.

„Wir haben eine supergroße Überraschung für euch. Wir machen es ab heute ohne.“ Kunstpause. „Ohne Masken, ihr kleinen Perverslinge.“ Schwungvoll entledigte sie sich ihrer Hasenmaske. Jetzt war ich dran:

„Na, wenn das Häschen blankzieht, wirft auch der Fuchs die Maske ab.“

„Fuchs?“, fragte sie verdattert.

„Wir machen das hier seit zwei Jahren und du wusstest nicht, dass ‚Zorro‘ das spanische Wort für Fuchs ist?“, fragte ich ungläubig.

„Äh“, machte sie, verhaspelte sich und endete mit „Scheißesorrysorryscheiße“. Die Aufnahme hatte sie komplett geschmissen. Nicht schlimm. Wir wiederholten es, bis sie sich darin gefiel. Im Schloss roch es übrigens nirgends nach Schimmel, alles befand sich in sehr gutem Zustand. Allerdings gab es nicht viel zu entdecken, weil es fast vollständig leer stand. Zum Abschluss gingen wir in einen grünen Spiegelsaal zurück, den Judy für „am meisten instagramable“ hielt. Wie immer zu solchen Gelegenheiten holte sie ihre Spitzentanzschuhe aus dem Rucksack und ließ sich, diesmal wieder mit Maske, in verschiedenen Posen von mir ablichten. Mich erstaunte, dass ihre Follower der ewig gleichen Arabesken, Attitüden, Croisés, Pointés und Tombés des balletttanzenden Karnickels immer noch nicht überdrüssig waren.

Janusz hatte sich derweil nach draußen verdrückt und wartete ungeduldig auf uns.

„Wenn wir die Kapelle noch schaffen wollen und im Tageslicht zurücklaufen, müssen wir uns beeilen“, sagte er mürrisch und zeigte auf einen zugewucherten Pfad.

„Kapelle?“, fragte Judy.

„Stand doch alles in den Unterlagen, die ich dir geschickt habe, Honeybunny“, antwortete ich spöttisch. „Die Sankt-Wilgefortis-Kapelle.“ Wir nahmen die Geheimhaltung ernst und hatten deshalb alle separate Urbexer-Smartphones, die wir nur für unsere Einsätze und deren Planung nutzten. Die Paranoia mittels Handyortung geschnappt zu werden war szenetypisch und auch wir davon befallen.

„Die Kapelle, na sicher, aber klar doch“, murmelte Judy. Ich sah ihr an, dass sie mal wieder keine Ahnung hatte.

Drai

Ich sollte das eigentlich nicht offen eingestehen und könnte den Sachverhalt wohl auch mit blumigen Ausflüchten verschleiern, aber ich gebe zu, dass ich mit großen Schlössern ziemlich gut kann. Ich hatte selten Probleme, sie schnell und ohne Schäden aufzubekommen. Besonders bei Kirchen und Kapellen haben Schlösser oft eher symbolischen Wert. Viele Urbexer denken, man müsse sich bei solchen Bauwerken immer an Seiteneingänge und Fenster halten, aber das stimmt nicht. Durchs große Portal führt oft der leichteste Weg.

Die Wilgefortis-Kapelle war ein schöner Ort, der durch das einfallende eigelbfarbene Licht wie mit uraltem Firnis überzogen wirkte. Der Polnische Geheimdienst hatte offenbar nie Interesse an diesem Gebäude gezeigt und es ungenutzt gelassen. Die Gebetbücher für katholische Christen, die wir fanden, waren alt und in deutscher Sprache. Alles schien noch genauso zu sein, wie zu jenem Zeitpunkt, an dem hier zuletzt göttlicher Beistand gesucht worden war. Wir schnatterten drauflos und gerieten in einen regelrechten Rausch. Vor dem großen Kreuz blieb Judy stehen und stutzte.

„Wieso trägt Jesus goldene Pumps?“, fragte sie und kratzte sich ratlos am Kopf.

„Weil das nicht Jesus sondern Sankt Wilgefortis ist“, antwortete ich und machte mich über sie lustig, weil sie natürlich mal wieder die Infos nicht gelesen hatte.

„Das ist eine Frau? Mit Bart? Das ist ja mal schrill!“ Ich erzählte ihr die Geschichte der Heiligen, die sich geweigert hatte einen ungläubigen Heidenkönig zu heiraten und in ihrer Not Gott angefleht hatte, sie Jesus ähnlich zu machen. Gott ließ ihr daraufhin über Nacht einen Vollbart wachsen und der Heiratskandidat nahm Reißaus. Das erboste den Vater von Wilgefortis, oder auch Sankt Kümmernis, wie sie später genannt wurde, derart, dass er sie auch in anderer Hinsicht Jesu ähnlich machte und sie ans Kreuz schlagen ließ, von wo aus sie über ihren Tod hinaus Wunder wirkte.

„Warum hast du vorher nix gesagt, Red!“, rief sie aus, knuffte mich und hielt mich in etwas, das gleichermaßen als Schwitzkasten wie auch als Umarmung hätte durchgehen können. „Du weißt doch, wie ich bin. Wenn ich das gewusst hätte! Wir hätten uns Bärte ankleben können, um hier zu berichten. Schade. Das ist sowas von im Trend! Conchita Wurst, genderfluid, transgender und so weiter, weißt du?“

Ich wusste genau, was sie meinte. Judy war nämlich eine, die Facebook-Freunde sammelte, die nach außen möglichst interessant erschienen.

Da sich an der Situation nun mal nichts ändern ließ, machten wir bartlos weiter und kommentierten jedes Detail der geschnitzten Heiligenfigur.

Als wir fertig waren – Janusz drängte bereits zum Aufbruch – überlegte ich halblaut, ob diese Kapelle wohl über eine unterirdische Krypta verfügte. Derartiges hatten wir schon in anderen verlassenen Sakralbauten gesehen. Da reinzugehen bedeutete für uns den ultimativen Kick. Sofort begann Judy zu suchen und wir wurden schnell fündig. Den Protest unseres Kameramanns ignorierten wir kurzerhand.

„Lieber bleiben wir die ganze Nacht hier bei der Dame mit Bart, als dass wir uns das entgehen lassen“, flüsterte sie mir verschwörerisch zu, während wir im Schein unserer Taschenlampen in die Tiefe stiegen.

Vierch

Wir standen vor einer Stahltür, die garantiert nicht aus der Erbauungszeit der Kapelle stammte. Die Kegel der Taschenlampen glitten über Beschriftungen aus Kreide, deren Bedeutung wir uns nicht erschließen konnten. „Achtung! 2222 Achtung!“, las Janusz, der hinter uns auf der Treppe stand. „Ob die das hier mal als Luftschutzbunker genutzt haben?“

„Oder als geheimen Unterschlupf. Hey Leute, wir sind an etwas ganz Besonderem dran!“, freute sich Judy. Janusz hatte unterdessen das Licht an der Kamera angestellt und wir sahen nun deutlich einen Schlüssel, der im Schloss steckte.

„Halt drauf“, wies sie Janusz an und legte los. Sie ruckelte, drehte und drückte und wirklich öffnete sich die Tür unter schauderhaftem Quietschen. Im Inneren der Kammer ließ sich noch nicht viel erkennen, aber was wir als Schemen sahen, deutete an, dass sich dort Steinsarkophage befanden. Judy war nicht mehr zu halten und stürmte hinein.

„Wie es aussieht, haben wir tatsächlich eine Krypta gefunden. Wir gehen jetzt rein und finden für euch raus, wer hier die letzte Ruhe gefunden hat.“ Ich folgte Judy. Doch sobald ich die Schwelle passiert hatte und mit ihr den Raum inspizieren wollte, schloss sich die Tür hinter mir mit lautem Knall und wir hörten, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Judy gab ein Geisterbahnkreischen von sich, während ich ungeduldig gegen die Tür wummerte. Besonders beunruhigt waren wir aber beide nicht. Solche Streiche gab es schon so lange, wie Menschen sich in verlassene Gebäude schlichen.

„Na komm, schauen wir uns um, das wird ihm doch eh bald langweilig“, schlug ich vor und wir machten uns daran, die Namen auf den Sarkophagen zu entziffern, damit wir sie später flüssig vortragen konnten. Doch dann geschah etwas, das uns, obwohl wir uns in einem Raum unter der Erde befanden, der vielleicht sogar einmal zum Schutz gedient hatte, in Deckung gehen ließ. Als wir den ersten Schuss hörten, kauerten wir uns auf den Boden, beim zweiten klammerten wir uns aneinander, nach dem dritten hörte ich Judy an meinem Ohr hyperventilieren. Es dauerte vermutlich über eine Stunde, bis eine von uns zu sprechen wagte.

„Wir kennen Janusz noch nicht lange“, flüsterte ich, „vielleicht treibt er seinen Scherz gerade einfach ein bisschen zu weit. Was, wenn er selbst geschossen hat?“

„Aber warum kommt er dann nicht endlich zurück? Da stimmt etwas nicht. Ich glaube …“ Judys Zähne schlugen aufeinander. „… ich glaube er ist tot!“

Ich versuchte sie zu beruhigen.

„Wir wissen doch gar nicht, was passiert ist. Vielleicht waren das Schüsse von einem Jäger und es ist reiner Zufall, dass wir sie hier gehört haben.“

„Direkt an einer Kapelle? Auf dem Schlossgelände? Das glaube ich kaum.“ Judy rückte von mir ab und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Dann durchfuhr sie ein Ruck und sie sprach aus, was die ganze Zeit ungesagt in der Luft gehangen hatte: „Wissen die, dass wir hier unten sind? Was haben die vor?“

Danach gab es die und wir.

Irgendwann flackerte meine Taschenlampe und ging aus. Die Angst vor der vollständigen Dunkelheit drückte uns beide, das wussten wir, auch ohne es explizit angesprochen zu haben. Und weil bisher noch nichts geschehen war, rappelten wir uns auf und sahen uns um, solange das noch möglich war. „Kopf hoch, Judy, vielleicht finden wir Kerzen. Kann doch sein, dass jemand mal einen Vorrat angelegt hat.“

„Hey Red“, flüsterte Judy aufgeregt, „siehst du das da? Ist das ein Loch?“ Wir tasteten uns an der Wand entlang und fanden einen schmalen, kaum schulterhohen Durchgang in einen weiteren Raum. Vermutlich war er für nachfolgende zu bestattende Adlige angelegt, aber nie ausgebaut worden. „Kerzen!“, rief Judy, die in der Aufregung das Flüstern vergaß. Ihr Taschenlampenlicht erfasste in einem Metallregal aufgestapelte Kerzen. Dann schwenkte es ruckend in die anderen Fächer. „Wasser in Plastikflaschen“, stammelte sie. Wir wussten nicht, ob wir uns darüber freuen sollten oder nicht, denn nun stand endgültig fest, dass dieser Ort keineswegs so verlassen war, wie wir angenommen hatten. Wir befanden uns im Versteck von jemandem, der garantiert nicht erfreut sein würde, uns hier anzutreffen. „Geheimdienst, Drogen, Menschenschmuggel, was weiß denn ich?“ Judys Stimme überschlug sich und sie mutmaßte stakkatoartig weiter. Ich zündete eine Kerze an. Das Gezappel mit der Taschenlampe machte mich wahnsinnig. Ich sah mich nun auf eigene Faust in der Kammer um und entdeckte etwas äußerst Merkwürdiges. „Komm mal her!“, rief ich Judy zu. Was auch immer es war, das ich gefunden hatte, es würde sie ablenken und ihre immer schriller werdende Stimme zumindest kurzfristig verstummen lassen.

 

Fünnef

Jemand hatte eine Art Schrein errichtet. Ohne darüber nachzudenken steckte ich die jungfräulichen Kerzen an, die ein gerahmtes Foto in wuchtigen, sakral wirkenden Haltern flankierten. Im Schein der Flammen wurde das Portrait einer dunkelhaarigen jungen Frau sichtbar. Es sah aus, als wäre es einmal zu einem besonderen Anlass bei einem Fotografen gemacht worden. Davor lag eine Todesanzeige: „Alicja Schatten, 1994-2010“, las ich. Judy nahm mir den Zettel aus der Hand. Während sie ihn sich ansah, entdeckte ich einen Brief, der hinter einer Vase mit Kunstblumen klemmte. Ich zog einen handbeschriebenen Bogen aus dem unverschlossenen Umschlag. „Ach du Scheiße“, entfuhr es mir, „das ist ein Abschiedsbrief!“ Wieder versuchte Judy mir das Papier zu entreißen, doch diesmal war ich schneller, drehte ihr den Rücken zu und begann laut vorzulesen. „Gott, wie schrecklich“, sagte ich nachdem ich geendet hatte, „sich wegen Mobbing umzubringen. Armes Mädchen. Und dann noch wegen einer Peinigerin, die ‚Chantal‘ heißt.“ Alicja hatte in ihrem Brief nämlich nur einen Namen genannt, und zwar den der Rädelsführerin. Chantal. Das machte das Tragische unfreiwillig komisch.

„War bestimmt ne ganz fiese Asi-Schlampe, die ihr heutzutage garantiert vollkommen am Arsch vorbei gehen würde.“

Ich drehte mich um und reichte Judy den Brief. Sie nahm ihn ohne hinzugucken. „Muss übel sein, wenn dir jemand die Schuld für seinen Selbstmord gibt“, mutmaßte ich düster.

„Vielleicht wusste diese Chantal es gar nicht“, antwortete Judy und steckte den Abschiedsbrief zurück in den Umschlag.

„Keine Ahnung.“ Ich ging zum Regal und untersuchte das Haltbarkeitsdatum auf den Wasserflaschen. „Sieht gut aus“, sagte ich, „laufen erst nächstes Jahr ab.“

Judy kam mir nach und öffnete eine Flasche. „Durst“, sagte sie entschuldigend.

„Wenn jemand das hier zum Zweck der Trauer oder des Gedenkens eingerichtet hat, kommt er wahrscheinlich regelmäßig her. Das könnte unsere Rettung sein. Vor allem, wenn dieser Raum gar nicht in Zusammenhang mit den Schüssen steht …“ Ich gab mir Mühe möglichst positiv zu klingen.

„Ja, vielleicht“, murmelte Judy. Wir setzten uns auf unsere Jacken, tranken Wasser und teilten meinen letzten Müsliriegel. Alicjas Kerzenleuchter hatten wir in Griffweite neben uns gestellt. Judy checkte zum wohl hundertsten Mal den Netzempfang. Vergebens.

Sächz

„Ich muss dir etwas gestehen, Red.“ Das Kerzenlicht schmeichelte ihr. Sie sah aus wie eine Filmheldin, die auch nach wilden Verfolgungsjagden, Kletterpartien und diversen Stürzen noch immer auf natürlich wirkende Weise hübsch war; oberflächlich zerzaust, in Wahrheit aber makellos. Ich nickte ihr zu. Außer unseren Atemzügen war eine Weile nichts zu hören.

„Ich kannte das Mädchen. Alicja.“ Judy seufzte bleischwer.

„Echt jetzt? Wie ist denn das möglich? Was für ein irrer Zufall!“

„Kein Zufall“, gab sie kleinlaut zu.

„Alicja ging auf meine Schule. Und nachdem, was sie in ihrem Brief schreibt, haben wohl meine Freunde und ich dazu beigetragen, dass sie sich …“

„Jetzt sag mir bitte nicht, dass du diese Chantal bist?“, fuhr ich sie an. Judy nickte und brach in Tränen aus.

„Das kann doch nicht wahr sein! Dann wurde das extra für dich hier inszeniert? Von jemandem, der wusste, dass wir kommen?“ Ich sprang auf und lief wie ein gestresstes Zootier hin und her.

„Der geheime Tippgeber für die Location“, schluchzte Judy auf, „muss das alles von langer Hand geplant haben. Um mich zu bestrafen.“

„Und was hab’ ich bitte mit deiner Bestrafung zu tun?“ Mein Tonfall entglitt mir; ich hörte, wie er sich ätzend einfärbte, ich laut wurde und es mir einzig darum ging, sie rund zu machen. „Was kann ich denn dafür, dass du diese Alicja bis zum Selbstmord gemobbt hast? Darf ich wenigstens wissen, was du ihr angetan hast, Chantal?“ Ich ließ mir Judys richtigen Namen mit aller Bösartigkeit auf der Zunge zergehen.

„Hör schon auf!“, schrie sie mit funkelnden Augen, „wer bringt sich denn um, nur weil ihm unreife Jugendliche ein paar Sprüche reindrücken? Sowas passiert doch jedem mal. Ich bin doch nicht schuld an ... Das ist Bullshit!“

„Offenbar ist da jemand anderer Meinung. Und dem sind wir gründlich in die Falle gegangen. Aber vielleicht will diese Person dir bloß einen Denkzettel verpassen und lässt uns am Ende laufen.“ Ich bezwang den Hass in meiner Stimme und setzte mich wieder zu ihr. „Hör zu, das ist echt wichtig für mich. Ich brauche alle Informationen. Dann überlegen wir uns was. Das schuldest du mir. Wer war Alicja und was ist damals passiert?“

Judy schniefte ein paarmal in ein zerknülltes Taschentuch, bevor sie mit zitternder Stimme zu beichten begann. Ich spürte, dass sie keine Energie mehr zum Schreien oder für Ausflüchte hatte.

„Alicja war ein Mädchen aus ‚den Ostblocks‘. So nannten wir die Gegend, in der hauptsächlich Spätaussiedler wohnten. Ihre Familie kam jedenfalls aus Polen, vielleicht auch nur die Mutter. Ich weiß es nicht genau. Mit Nachnamen hieß sie ‚Schatten‘. Alicja Schatten. Aber das weißt du ja bereits. Sie war eigentlich ziemlich durchschnittlich, aber wir fanden sie damals doof, hässlich und ein bisschen eklig. Sie hatte einen sagenhaft schlechten Klamottengeschmack und war eine echte Spaßbremse.“

„Und das war alles?“ Judy druckste herum.

„Na ja“, sagte sie schließlich, „Alicja litt an ziemlich starker Körperbehaarung und hatte einen deutlich zu sehenden Damenbart.“

„Und damit rückst du jetzt erst raus? Wir sind hier in der Kapelle einer Heiligen mit Vollbart, falls du dich erinnerst!“ Empörung durchbebte meine Stimme.

„Denkst du, das wäre mir nicht aufgefallen?“

„Also, raus damit, womit habt ihr das Mädchen gequält?“, forschte ich, „was habt ihr getan?“

„Manche nannten sie Ali Baba und die 40 Bartstoppeln“, antwortete sie. Ich hörte ihr an, dass sie sich schämte. „Dabei war es doch so offensichtlich. Fast ein Wunder, dass es vor mir keinem anderen auffiel. Ich war jedenfalls schuld, dass sie den Namen ‚Alicja Bartschatten‘ weghatte und ihn nicht wieder los wurde. Dass sie sich irgendwann die Oberlippe rasierte, machte es blöderweise kein Stück besser.“

„Fiese Aktion, Honeybunny“, sagte ich.

„Ich weiß. Es hat sich einfach verselbständigt. Trotzdem. Das war scheiße. Ich war echt ne Bitch.“ Ich nickte. Wo sie recht hatte, hatte sie recht. „Wenn wir hier heil rauskommen, dann erzählst du doch keinem davon, versprichst du mir das, Red?“

„Ich werde schweigen wie ein Grab“, sagte ich. Es klang aufrichtig, war es aber nicht. Selbst schuld. Man sollte nicht allzu viel auf das Ehrenwort eines Fuchses geben. Vor allem nicht, wenn man ein Kaninchen ist.

Sibben

Im Gegensatz zu Judy roch ich das einströmende Gas und hielt den Atem an. Sobald sie bewusstlos zusammensackte, griff ich in meinem Rucksack nach der Atemmaske und zog sie an. Ab da hatte ich zwanzig Minuten. Zwei Dinge hatten hier zusammenkommen müssen, damit die Operation gelang: Judys freiwillig herbeigeführte Anosmie und der Umstand, dass eine Gasmaske im Rucksack eines Urbexers keinerlei Misstrauen erweckte. Dieser Moment hatte von Anfang an die heikelste Stelle im Plan dargestellt. Doch es lief alles glatt. Als ich das vereinbarte Klopfzeichen gab, öffnete sich die Tür und ich schlüpfte hindurch. Im Freien überwältigten mich Morgensonne und frische Luft. Ihnen gab ich die Schuld für die Tränen auf meinen Wangen, nach denen Janusz mich befragte.

„Hast du ihr Handy?“ Ich reichte es ihm. Wir hockten nebeneinander auf den Stufen zur Kapelle. Er setzte nacheinander Judys, sein und mein Gerät auf Werkseinstellungen zurück. Später würden wir sie in einem Weiher entsorgen. Plopp, plopp, plopp.

„Sie wird traurig sein, dass alle ihre Balletthäschen-Fotos weg sind“, versuchte ich zu scherzen, doch Janusz sah mich nur streng an. „O.k. o.k.“, machte ich und kuschelte mich an seine Seite, „ich weiß Bescheid: Dieser Lost-Place-Einsatz hat niemals stattgefunden.“ Er nickte, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass er richtig zugehört hatte.

„Wie hat sie reagiert?“, fragte er dann mit belegter Stimme. Ich hatte geschworen, ihn über nichts zu belügen, was in der Krypta vorgefallen war.

„Sie hatte kein besonders schlechtes Gewissen. Sie sah es eher als eine Art Kollateralschaden der Teenager-Hölle.“ Ich reichte ihm das Bild von Alicja und ihren Abschiedsbrief. „Doch ab jetzt wird sie deine Schwester garantiert ihr Lebtag lang nicht mehr vergessen.“ Ich stand auf und reichte ihm die Hand. „Lass uns gehen.“ Janusz zögerte.