Read the book: «Occupys Soldaten»

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Achim Grauer

Occupys Soldaten

Racheengel

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Widmung

Zitat

Prolog

Ein halbes Jahr zuvor: Heuschrecken

3 Tage zuvor: Kennen Sie Milton?

Karl von Moor

Franz von Moor

Burning down the house

Hugo Xavier

Zurück im Spiel

Stare down mit Armin Rodgaus

Quid pro quo

Das Innere der Zelle

Rodgaus Reich

Nemesis

Kinder, Kinder

Kein guter Tag zum Sterben

El Comandante

Leben oder sterben lassen

Heimkehr des verlorenen Sohnes

Was man nicht aufgibt, hat man nicht verloren

Das Ende der Welt

Im Land Morijah

Cold Turkey

Im Herz der Finsternis

Ground Zero

Monster

Schall und Rauch

Ursprung der Welt

Gott würfelt nicht

Auszeit

Das Milgram-Experiment

Strategem 12

Über die Zerstörung der Seele

Locked-in

Wie die Spinne im Netz

Um den Einsamen schleichen Gespenster

Geknackt

Amtsschimmel

Dum spiro, certo

Der Kompromiss

Das Leben, ein Traum?

Alles auf eine Karte

Nur ein toter Banker ist ein guter Banker

Mörderspiele

Das Leben ist kein Ponyhof

Jäger

Bastard

Blutspuren

Am Anfang war das Wort

Illusionen

Kehraus

Illusionen II

Eile mit Weile

Illusionen III

Das Ende der Reise

Bäumchen wechsle dich

Es werde Licht

Danksagung

Impressum neobooks

Inhalt

Der Vorstand der deutschen Bank, Dr. Johann Schollenbruch, wird entführt und taucht in einem Internet Video als Geisel von „Occupys Soldaten“ auf. Zeitgleich erschüttert ein Brandanschlag auf das renommierte Bankhaus „Moor & Moor“ die Republik: Eine neue Generation der RAF scheint geboren.

Feuerwehrmann Jacub „Jack“ Kosinski ist als Erster am Tatort. Er rettet die einzige Überlebende des Infernos und macht eine folgenschwere Entdeckung: Leichen scheinen sich in Luft aufzulösen. Opfer scheinen Täter zu sein. Und (Geld-)Adel verpflichtet im 21. Jahrhundert offenbar höchstens noch zu Größenwahn und Psychosen. Denn der Kopf der Terrororganisation „Ocuppys Soldaten“ ist kein anderer als Karl von Moor, Erstgeborener des Bankenimperiums – und der hat nichts weniger im Sinn als eine neue, „reine“ Gesellschaftsordnung. Neben dem medienwirksam zur Schau gestellten Sterben des Finanzhais Schollenbruch will Gutmensch Karl seinem raffgierigen Bruder Franz eine Lektion erteilen. Doch das geht gründlich schief – fortan läuft alles aus dem Ruder: aus dem hehren Träumer Karl wird ein zynischer Mörder und sein großspuriger Bruder Franz entpuppt sich als durchgeknallter Psychopath, der nur noch eines im Sinn hat: Rache.

Ungewollt und völlig unvorbereitet durchkreuzt Feuerwehrmann Jack Kosinski die Pläne der beiden Brüder – und wird von da an zum Gejagten, auch des BKAs, in Gestalt des undurchsichtigen Sonderermittlers Armin Rodgaus. Zur falschen Zeit am falschen Ort geht es für Jack plötzlich um alles: seine neue Liebe, sein Leben – und das Leben seiner Kinder. Dass am Ende nur Franz den Kopf verliert, ist wenig beruhigend. Denn Karl hat noch ein letztes strahlendes Ass im Ärmel.

Widmung

Für Ben

Zitat

Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.

Marie von Ebner-Eschenbach

Prolog

Sie stand inmitten des tosenden Feuermeers. Wie eine griechische Statue. So schön, so kalt, so seelenlos. Die Sprinkleranlage mühte sich vergebens, dem Feuer Herr zu werden. Lediglich eine kleine Gruppe der reichlich im Raum verteilten Sprühköpfe verströmten einen feinen Nebel im Raum. Kaum berührte er Haut und Kleidung der erstarrten Frau, schien er wieder zu verdampften und umhüllte sie wie ein zarter schützender Kokon. Ein schlafender Racheengel, unwirklich und schön.

Der Alarm kam um 23:58 Uhr und tauchte die Frankfurter Feuerwache 1 schlagartig in gleißendes Neonlicht. Aus allen Richtungen eilten die fünfundzwanzig Männer und Frauen der Berufsfeuerwehr in die Fahrzeughalle, schlüpften in Windeseile in ihre Schutzanzüge und überprüften ihre Ausrüstung auf Vollzähligkeit und Funktion. Vereinzelte Flüche gingen im Heulen der Sirene unter.

Feuerwehrhauptmann Jack Kosinski kam als einer der letzten aus dem Fitnessraum gehumpelt. Er war in die Konsole das abrupt zum Stillstand gekommenen Laufbands geschossen. Die Blicke seiner feixenden Kollegen quittierte er mit einem säuerlichen Lächeln, während er seinen Schutzanzug überstreifte und die Ausrüstung kontrollierte. Die Fahrt zur Taunusanlage 11 im Bankenzentrum dauerte keine sieben Minuten. Aus dem kurzen Briefing erfuhr Jack, dass der sechzehnte Stock des Hochhauses in Flammen stand. Die Hochsicherheitstüren zu den betroffenen Büros des Bankhauses Moor & Moor ließen sich nicht ohne Spezialschlüssel öffnen. Die zuständige Sicherheitsfirma war nicht zu erreichen und bis die Sprengstoffexperten vor Ort waren, um die Tür aufzusprengen, konnte es für die eingeschlossenen Personen im Bürokomplex zu spät sein. Laut Concierge, der auch den Brand gemeldet hatte, befanden sich außer den beiden Söhnen des Bankentycoons Moor noch mindestens drei weitere Personen im Bürokomplex.

„Zeit für Helden“, hatte Einsatzleiter Kurt Böhnlein sarkastisch geknurrt und die Höhenretter des Löschzuges aufs Dach des Hochhauses beordert. Ein Beobachtungsposten mit Nachtsichtgerät und Wärmebildkamera war im Gebäude der Deutschen Bank direkt gegenüber schon auf dem Weg nach oben. Der Späher war Jacks Lebensversicherung, sollte er einen Weg in das brennende Stockwerk der Taunusanlage 11 finden.

Jetzt stand Jack am Rand der Hochhausfassade in fünfundsiebzig Metern Höhe. Um ihn herum funkelte die Skyline Mainhattens verschwenderisch in der Nacht. Wovon er allerdings nichts bemerkte. Er war in den Tunnel eingetaucht. Konzentrierte sich ganz auf die nächsten Sekunden. Ging den Ablauf wieder und wieder in Gedanken durch. Hatte er etwas übersehen? Stimmten seine Berechnungen? Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Denn Fehler endeten hier meist tödlich.

Noch konnte er nicht wissen, dass sein größter Fehler schon darin bestanden hatte, heute überhaupt zum Dienst zu erscheinen. Jack hob den Kopf, ging in bester Ronaldo-schießt-gleich-nen-Freistoß Manier einige Schritte rückwärts, gab dem Kollegen am Sicherungsseil das Zeichen, nahm Anlauf und sprang über die Kante des Hochhausdaches. Jede Faser seines Körpers war zum Zerreißen gespannt, während er in die bodenlose Nacht stürzte. Eine Welle puren Adrenalins schoss durch seinen Körper, als das Seil sich mit einem scharfen Ruck straffte und Jack für den Bruchteil einer Sekunde knapp achtzig Meter über dem Asphalt schwebte. Die Zeit schien stillzustehen. Als hätte sie ihren Fauxpas bemerkt, bemühte sie sich aber sofort wieder die vertrödelten Sekunden aufzuholen und schleuderte Jack dem Erdboden entgegen. Der zappelte und wand sich wie ein Aal, als der freie Fall in eine Pendelbewegung überging.

Dreh dich zur Scheibe hin. – Mach schon! Er schoss jetzt wie eine menschliche Abrissbirne auf das Panoramafenster im sechzehnten Stock zu. Den Glasbrecher hielt er wie eine Lanze weit von sich gestreckt. Was für eine saublöde Idee, dachte Jack noch, dann durchschlug die Spitze des Glasbrechers die Scheibe und Jack flog eingehüllt in einer Scherbenfontaine quer durch das Flammenmeer.

Füße zusammen, Knie zusammen! – Hüfte eindrehen! – Füße zusammen! – Knie zusammen! – Hüfte eindrehen! Die Merksätze für den perfekten Landefall geisterten durch seinen Kopf, während er sich im Bemühen auf den Beinen zu landen, drehte und wand wie eine Katze. Die Ledersitzgruppe direkt am Fenster machte Jacks Anstrengungen mit einem Schlag zunichte. Das Hindernis rammte ihn förmlich von den Beinen und katapultierte ihn weiter in den Raum. Sich überschlagend polterte er über den polierten Designerfußboden und kam stöhnend neben einem Sitzsack zum Liegen. Jack zwang seinen adrenalinüberfluteten Körper zur Ruhe und kontrollierte den Sitz seiner Atemschutzmaske. Gierig sog er den Sauerstoff in die Lungen und löste sich von dem Sack, der ihn vor dem Aufprall auf den Tresen einer Küchenzeile bewahrt hatte. Da gefror ihm das Blut in den Adern. Der Sitzsack war menschlich. Jack starrte fassungslos in das pockennarbige Gesicht eines untersetzen mittelalten Mannes, der wohl zusammengekrümmt am Tresen gelehnt hatte, bevor Jack in ihn hinein gerauscht war. In einer völlig sinnlosen Geste drückte der untersetzte, kahlköpfige Kerl die Hände auf den Bauch, um zu verhindern, dass der sich vollends von innen nach außen stülpte. Jemand hatte ihm in den Magen geschossen.

Was zum Teufel ist hier los?, fragte sich Jack und seine Nackenhaare stellten sich auf, während sein Blick durch den Raum irrte. – Da sah er sie.

Trotz der Hitze lief Jack ein Schauer über den Rücken. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er sie für moderne Kunst gehalten. Eine Skulptur. Doch was da reglos keine fünf Schritt von ihm entfernt im flammenden Inferno stand, war tatsächlich eine Frau aus Fleisch und Blut. Mit einer beinahe körperlich spürbaren Gefährlichkeit. Da entdeckte Jack zwei weitere reglose Leiber. Sie lagen in grotesken Verrenkungen im Raum verteilt, als hätte sie ein ihrer überdrüssig gewordener Marionettenspieler achtlos hingeworfen.

„Was ist da oben los, Kos....i? – La...berich...!“, meldete sich Einsatzleiter Böhnleins krächzende Stimme ungeduldig. „Dass ich I... fü... diese Aktio... no... de... A.... auf...eißen we...e is... I... ja ho....... kla...!“

„Ein Toter, zwei leblose Personen und eine ...“, setzte Jack gerade zu einer Antwort an, da explodierte die unbekannte Schöne ansatzlos. Ihre Schnelligkeit überraschte Jack. Wie eine Raubkatze schoss sie mit zwei Sätzen auf einen der Körper zu. Sie stoppte abrupt vor der leblosen Person – einer Frau – die zusammengesunken über einem umgestoßenen Clubsessel lag. Jack reagierte viel zu spät: Im nächsten Augenblick riss der Racheengel schon den Kopf an langen Rastalocken zu sich hoch und brüllte besinnungslos:

„Karl! – Wo ist Karl?“ Dabei schüttelte und drehte Rachel – wie Jack die Furie spontan taufte – den Kopf der Rastafari-Braut wie von Sinnen hin und her.

„Stopp!“, brüllte Jack, stolperte zwei Schritte auf die mit unverminderter Kraft schreienden Verrückten zu. Vielleicht war dem Lockenkopf ja noch zu helfen, hoffte Jack und packte Rachels Handgelenke. Er musste all seine Kraft aufwenden, um das Rütteln und Schütteln zu unterbinden.

„Schluss jetzt!“, herrschte er die Irre durch seine Atemmaske an. „Lassen Sie die Frau los. – Lassen Sie sie...!“ Jack unterdrückte mühsam den aufkommenden Brechreiz, als er unvermittelt in das Gesicht der Rastafari-Braut blickte. Da war kein Gesicht mehr, sondern nur noch dampfende Hirnmasse. Ein einzelnes Auge hing wo in besseren Tagen die Nase gewesen sein musste. Pumpgun-Schrot aus nächster Nähe ins Gesicht. Das krächzend und knackend zum Leben erwachende Intercom in seinem Helm unterbrach glücklicherweise die grausige Bilderflut, die Jack zu lähmen drohte.

„Jack, Flashover auf acht Uhr. Raus hier, sofort!“, bellte der Späher, Jacks hundertachtzig Pfund schwere Lebensversicherung von gegenüber. Jacks Kopf schnellte in die angegebene Richtung und das Blut gefror ihm in den Adern. Hinter einer einen Spalt breit offenen Tür sah er eine tiefschwarz pulsierende Rauchwolke.

Pyrolysegase... Horizontale Flammenausbreitungsgeschwindigkeit 10m/sek... Vollbrand bei 1000 Grad Celsius. Jack vergewisserte sich mit einem schnellen Rundblick, dass sich der dritte Körper – ein Mann? – weder bewegte, noch irgendwelche Lebenszeichen von sich gab. Und zum ersten Mal in seinem Leben war er froh, dass der es nicht tat. Er fuhr herum und herrschte die immer noch kreischende Verrückte an:

„Kommen Sie, wir müssen hier raus! Gleich fliegt uns der ganze Mist um die Ohren. Kommen Sie, hier ist keiner mehr am Leben.“ Keine Reaktion. Lediglich Rachels Schreien wurde leiser, unterbrochen von immer länger anhaltenden Hustenanfällen. Jack versuchte ihre Hände aus den Locken der Toten zu lösen, an deren Kopf sie noch immer wie wahnsinnig zerrte, als wolle sie eine Antwort aus der leblosen Gliederpuppe herausschütteln.

Wie konnte ein so zarter Körper eine derartig titanische Kraft entwickeln? Die Irre schien mit dem Boden verwachsen zu sein und bewegte sich keinen Millimeter. Langsam wurde es eng.

Keine Zeit mehr für Netiquette. Mit der Stablampe schlug Jack der Verrückten beherzt auf Handrücken und Finger, fasste sie gleichzeitig um die Hüfte und hob sie mit einem Ruck vom Boden. Verwunderung, Schmerz und Wut überzogen Rachels puppenhaftes Gesicht, als ihr Kopf ruckartig zu Jack herumfuhr. Ihre blaugrünen, vom Rauch geröteten Augen funkelten irrsinnig. Aber immerhin ließ sie die grausig verstümmelte Leiche der Rastafari-Braut los. Jack nutzte den Überraschungsmoment, schulterte Rachel in bester Footballspielermanier und stolperte der zerstörten Glasfront entgegen. Es war der pure Wahnsinn. Rachel zappelte, schrie und schlug um sich, während Jack die Sauerstoffflasche abzustreifen versuchte. Er musste unbedingt ihrer beider Gewicht reduzieren. Wie er das zappelnde Bündel auf seiner Schulter rechtzeitig in den Bergegurt bekommen sollte, war ihm allerdings vollkommen schleierhaft.

„Umdrehen, Jack! Sofort! – Die Safeknacker sind da! – Zur Tür, lauf!", dröhnte der Späher in seinem Ohr. Jack drehte sich taumelnd um einhundertachtzig Grad und hastete der immer noch verriegelten Tür entgegen. Blindes Vertrauen, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Blind war er mittlerweile wirklich beinahe, denn die vor Anstrengung beschlagene Atemschutzmaske nahm ihm zunehmend die Sicht. Durch den milchigen Nebel schielte Jack in Richtung der pulsierenden Rauchwolke an der Decke des angrenzenden Raumes. Sie streckte bereits ihre ersten krakenhaften Arme in Richtung des flammenden Infernos.

„Kontakt in fünf Sekunden!, schrie der Späher mit sich überschlagender Stimme. Jack war noch mindestens drei Meter von der rettenden Tür entfernt. Die zu allem Überfluss immer noch fest verschlossen war. Das schaffst du nie, durchfuhr es Jack. Panik schnürte ihm die Kehle zu. Sein Atem rasselte. Die Muskeln waren müde und schwer. Sein Körper war kurz davor, ihm den Dienst zu versagen. Nur noch reine Willenskraft trieb ihn an, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Lass los, Jack. – Das schaffst du nicht mehr. – Lass einfach los“, flüsterte die Schlange in seinem Kopf. Es lohnt die Mühe nicht.

„Nein!“, schrie Jack wütend. „Nein! Es ist erst zu Ende wenn ich es sage!“ Verzweifelt mobilisierte er seine letzten Kraftreserven. – Da überschlugen sich die Ereignisse.

Die beiden Flügel der schweren Bürotür flogen genau in dem Augenblick auf, als sich das Rauchgasgemisch hinter Jack und seinem Bündel entzündete. Starke Männerarme rissen ihn und die Wahnsinnige hinaus in den Flur und beidseits der Eingangstür zu Boden. Schwere Löschdecken wurden blitzschnell über das Menschenknäuel geworfen, während die tausend Grad heißen Flammen der Rauchgasexplosion über sie hinweg schossen. Dunkelheit legte sich über Jacks Bewusstsein und gönnte ihm eine kurze Auszeit.

Auf einer Krankenbahre kam Jack langsam wieder zu sich. Neben ihm lag die unbekannte Schöne. – Sie lebt, dachte Jack erleichtert. Sie lebt, Gott sei Dank. Erst jetzt registrierte er, dass die Sanitäter Rachel fixiert hatten. Jack wollte sprechen, sie fragen, was da oben eigentlich passiert war, aber dafür war es schon zu spät. Rachels Augenlider flatterten ein letztes Mal, dann schossen sie sich und ihr Kopf sank matt zur Seite.

Ruhig gestellt, die haben sie ruhig gestellt, schoss es Jack durch den Kopf. So ein Schwachsinn. Er brauchte Antworten. - Wer war diese Frau? Und wer waren die Toten? Wer war dieser Karl? War er immer noch im 16ten Stock? War er der Pump Gun Killer?

Jack musste dringend mit dem Einsatzleiter reden. Ihn warnen... Er kämpfte sich mühsam hoch. Sein Schädel pochte und dröhnte als wolle er platzen. Gerade wollte er die Beine von der Bahre schwingen, da drückte ihn ein Rettungssanitäter sanft aber bestimmt wieder auf die Bahre zurück.

„So junger Mann, wir bleiben hübsch liegen und lassen uns erstmal wieder schön zusammenflicken. Alles andere kann warten.“

„Aber...“, versuchte Jack mühsam.

„Kein aber! Das pikst jetzt kurz ein bisschen und dann werden Sie erst mal schön schlafen.“

Jack bäumte sich mit letzter Kraft auf. „Aber Karl...“

„Ich heiße Rüdiger, Schätzchen“, lächelte der Sanitäter süffisant.

„Doch nicht Du... da oben ist noch ein...“ tröpfelte es immer unzusammenhängender aus Jack heraus.

„Sweet dreams, mein Großer“, war das letzte was Jack im Wegdämmern noch hörte, ehe ihn das Schlafmittel von seinen wirren Gedanken erlöste.

Ein halbes Jahr zuvor: Heuschrecken

Lässig schlenderte Franz von Moor um seinen gewaltigen Mahagonischreibtisch herum. Er war in einer geradezu euphorischen Stimmung. Mit glänzenden Augen betrachtete er die aktuellen Börsenkurse auf einem Plasmabildschirm, der fast die gesamte gegenüberliegende Wand ausfüllte.

Heureka! Der Reispreis war innerhalb von nur sechs Monaten um 83 Prozent gestiegen. Der Preis für Mais um 67 Prozent und der Index für Getreide gar um 111 Prozent. Heureka! Die Vorstellung, wie einst Archimedes von Syrakus nackt durch die Stadt zu stolzieren, amüsierte ihn. Stattdessen strich er zärtlich über den Schneewittchensarg. Unter feinstem Kristallglas und wohltemperiert lagerten auf verschiedenen Ebenen in Humidoren aus feinster spanischer Zeder seine kleinen Freunde. 375 Dollar das Stück. – Peanuts. 600 Milliarden Dollar hatte die Investmentgilde im letzten halben Jahr in die Rohstoffbörsen gepumpt, als sie nach dem Platzen der Immobilienblase ein neues Betätigungsfeld gesucht hatten. Der spekulative Handel mit Warenterminpapieren hatte sich zum Renner entwickelt. Und Franz von Moor hatte einen nicht unerheblichen Teil der Transaktionen über das Bankhauses Moor & Moor abgewickelt. Bei einer Bearbeitungsgebühr von 8 bis 10 Prozent auf das abgeschlossene Vertragsvolumen ergoss sich ein warmer Regen von einigen Milliarden in die Kassen der Moorschen Bank.

Andächtig entnahm Franz dem Spezialschrank eine Cohiba Behike, führte beinahe zärtlich einige Male seine Nase knapp über dem Körper der Zigarre hin und her und sog genießerisch den hauchfeinen Tabakduft in sich auf.

Ob man ihn eines Tages in einem Atemzug mit Warren Buffet nennen würde? Sein finanztechnischer Geniestreich, die Rohstoffe durch Hamsterkäufe am realen Markt künstlich zu verknappen und damit den Preis in astronomische Höhen zu treiben, hätte es jedenfalls verdient. So kassierte er nicht nur mit den Gebühren risikolos ab, sondern vervielfachte auch noch den Wert seiner Reis-, Mais und Getreideberge, die er in unzähligen Lagerhallen hortete, ins unermessliche.

Was waren da schon läppische 8-10%. Wir reden hier von einer Rendite von 100-200%. Mit einem Blick auf den Plasmaschirm registrierte er zufrieden, dass der absolute Wert seiner eingelagerten Rohstoffe mittlerweile bei knapp 3,9 Milliarden lag. Tendenz steigend. Nur noch ein wenig Geduld. Noch ein wenig gepokert. Franz grinste. Ja natürlich war er ein Spieler. Das waren sie alle. Das war ja das reizvolle an der ganzen Sache. Das Geniale daran war, dass er keinerlei Risiko dabei einging. Sollte die Blase platzen, dann war er, dann war das Bankhaus „Moor & Moor“ „too big to fail“. Franz lachte leise in sich hinein. Nur noch den letzten Prozentpunkt herauskitzeln. Ja das wollte er. Das musste er.

Damit das Mögliche entstehe, muss das Unmögliche versucht werden.“ Franz überfielen wohlige Schauer.Das war eindeutig besser als Sex. Auch wenn Hesse hier philosophierte wie ein katholischer Klosterschüler. Er hatte das Unmöglich geschaffen, weil er die nötigen Mittel besessen hatte und den Mut, sie einzusetzen. Und natürlich weil keine Regierung der Welt ihm Einhalt gebot.

Die kleine Guillotine aus Sterling Silber köpfte das Meisterwerk Kubanischer Zigarrenherstellung exakt 2 mm hinter der Kappe. Mit elegantem Schwung entzündete Franz einen Fidibus und hielt die Zigarrenspitze über die Flamme, drehte sie gleichmäßig, bis sich an allen Seiten Asche bildete.

Er, Franz von Moor, hatte in den letzten Monaten Werte in einer Höhe angehäuft, die sein Vater innerhalb eines ganzen Lebens nicht erwirtschaftet hatte. Er hatte die Verwaltung des Bankhauses „Moor & Moor“ aus dem historischen alten Familienbesitz hierher in die drei obersten Stockwerke der Taunusanlage 11 im Herzen des Frankfurter Bankenviertels verlegt und sich selbst die Panoramaetage im 16ten Stock mit einem einmaligen Rundblick auf die Doppeltürme der Deutschen Bank, dem Trianon der Deka Bank, der Alten Oper, dem Japancenter, den Garden und Silver Towers, dem Skyper der Deutschen Bundesbank und dem Galileo Hochhaus spendiert. Um nur die Wichtigsten zu nennen. Mitten im Herz der Finsternis. Genüsslich führte Franz die Zigarre an den Mund, schürzte in freudiger Erregung die Lippen, und zog ein paar Mal kräftig an dem edlen Rauchwerk. „Was bin ich doch in guter Gesellschaft“, brummte Franz gut gelaunt. Dünne bläuliche Schwaden feinsten Zigarrenrauchs hüllten ihn ein, wie tiefhängende Wolken eines dieser majestätischen Achttausender. „Meine goldenen Träume“, flüsterte Franz und begann leise zu kichern. Sollte der alte Sturschädel doch in seinem miefigen, unter Denkmalschutz stehenden Granitbunker verschimmeln. „Meine goldenen Träume.“ Vergeblich versuchte Franz die aufkeimende Hysterie zu unterdrücken. Sein Körper schüttelte sich unter dem lautlosen Gelächter. Mit Mühe richtete er sich auf und nahm eine affektierte heldische Pose ein und lies seinen Blick mit bemühter Ernsthaftigkeit durch den Raum streifen.

„Meine goldenen Träume“, stieß er unter schallendem Gelächter hervor.

„Willst Du mich nicht teilhaben lassen an deiner ungewohnten Heiterkeit, mein Sohn?“

Erschrocken fuhr Franz herum und starrte entgeistert in die aristokratischen Gesichtszüge seines Vaters, Ansgar von Moor, die keine Spur von Freundlichkeit zeigten und seine Worte Lügen straften. Franz hatte nicht bemerkt wie der Alte eingetreten war. Jetzt stand er Franz keine 10 Schritte entfernt herausfordernd gegenüber. Seine wachsamen Augen waren pechschwarz und fixierten seinen Sohn mit gnadenloser Kälte.

The good, the bad and the ugly. – In einer Person. Fehlte nur noch der umgeschnallte Revolver.Zeit zu sterben Fremder. Franz konnte ein hysterisches Glucksen gerade noch unterdrücken. Ein Blick in das Gesicht des alten Mannes tat sein Übriges. Die Lachfältchen um Ansgar von Moors Augen zeugten von einem hohen Maß an Lebensfreude und verliehen dem ergrauten, großen, alten Mann stets eine onkelhafte Aura. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Die buschigen Augenbrauen prangten wie zwei Ausrufezeichen auf seiner von tiefen Furchen durchzogenen Stirn. Die Nase zeigte spitz und scharf wie die Klinge eines Schwertes anklagend auf Franz. Ansgar von Moor war ein Mann, dessen aufrechte Haltung stets Ausdruck seiner moralischen Größe und seiner Lebensführung gewesen war. Der mangelnde Umgangsformen verabscheute, genauso wie fehlende Bildung oder ein nicht vorhandenes soziales Bewusstsein. Seine ganze Erscheinung strahlte den Stolz eines Mannes aus, der, durchdrungen von seinem humanistischen Gedankengut, ein Bankimperium aufgebaut hatte, das in Politik und Gesellschaft eine hohe Wertschätzung erfuhr. Nicht zuletzt auch, weil Ansgar von Moor nicht müde wurde, die Verantwortung anzumahnen, die seiner Meinung nach erworbene Macht und erwirtschaftetes Geld mit sich brachten. - Wie schaffte es der alte Mann nur, dass er sich in seiner Gegenwart a priori schuldig fühlte?

Was hab ich dir getan, Vater? Seit Franz denken konnte, hatte er sich bemüht, die Liebe und Zuneigung seines Vaters zu erringen. Gut, nicht immer mit den saubersten Mitteln. Seinem älteren Bruder Karl hatte er ein ums andere Mal übel mitgespielt. Warum musste er ihn auch immer bevorzugen. Karl hier, Karl dort. Der omnipotente tolle Karl.

Mein Gott, ich kotze gleich. – Das ist doch abartig. – Der Alte schneit hier rein und bei dir geht gleich wieder die „Kain und Abel Nummer“ ab. Da hat ja jeder Zulukaffer mehr Rückgrat. Das ist ja lächerlich. Vor dir steht ein Finanzgenie, Vater. Ein weit größeres als du es jemals warst. Respekt, Vater. Nur ein einziges Mal. Respekt. Franz lehnte sich betont lässig an das bis zur Decke reichende Bücherregal.

„Was kann ich für dich tun, Vater? Was verschafft mir die Ehre deines geschätzten Besuches?“

Ansgar von Moor musterte seinen Sohn von Kopf bis Fuß und in seine Gesichtszüge mischte sich kaum merklich eine Spur Ekel und Abscheu. Er war immer stolz gewesen auf seine Selbstbeherrschung. Auf seine Selbstdisziplin. Aber Franz brachte ihn regelmäßig an seine Grenzen. Wut stieg in ihm auf.

„Das Wort Ehre werde ich nicht in einem Satz mit deinem Namen führen, Franz. Ehre will verdient sein. Der Ehre muss man sich würdig erweisen. Aber dazu bedarf es eines Charakters.“ Ansgar von Moor hielt einen kurzen Augenblick inne und sah seinen Sohn noch einmal prüfend an. Franz hielt seinem Blick trotzig Stand. Nur ein nervöses Zucken seines rechten Mundwinkels verriet seine Anspannung.

„Bist du nur gekommen um mich zu beleidigen?“ Er würde sich nicht mehr die Butter vom Brot nehmen lasse. Das hatte er sich geschworen. Niemals mehr. Nicht von Ihm.

„Der große Ansgar von Moor lässt sich zu einer infamen Pöbelei herab?“ Also mutig nach vorne. Was hatte er schon zu verlieren. „Womit hab ich das verdient, Vater?“

Einen kurzen Augenblick schien der alte Mann zu zögern, dann aber straffte sich seine Haltung wieder. Bitterkeit lag jetzt in seiner Stimme.

„Beleidigen kann ich einen Mann nur, wenn er wenigstens einen Funken Ehre im Leib hat. Von Ethik und Moral will ich gar nicht erst anfangen, denn ich bin überzeugt, solche Begriffe übersteigen deine Auffassungsgabe.“

„Wird das jetzt eine Vorlesung auf deinem Spezialgebiet?“, kam es höhnisch von Franz zurück. „Der Homo sapiens sapiens und die planetare soziale Gerechtigkeit?“

Mit einem Mal wich alle Farbe aus dem Gesicht des alten Mannes. Die Lippen waren nur noch dünne Striche. Sein sonorer Bass füllte mühelos Franz großzügiges Büro, sodass der unwillkürlich einen Schritt zurück wich.

„Wie erklärst du mir die 3,9 Milliarden Gewinn aus Transaktionspapiergeschäften? – Und warum besitzt „Moor & Moor“ bald mehr Lagerhäuser mit Getreide, Reis und Mais als zufriedene Sparbuchkunden?“

Aus. Vorbei. Franz hatte gehofft... Wie infantil naiv!

„Glaubst du, ich kann nicht eins und eins zusammen zählen?“ Donnerte der Alte Moor weiter. „Du hast aus dem ehrbaren Bankhaus „Moor & Moor“ eine erbärmliche Spekulantenklitsche gemacht.“

„Vater, ich...“, setzte Franz an, aber Ansgar von Moor schnitt ihm das Wort ab.

„Deine Zeit ist abgelaufen, Franz. Du bist raus. - Das Leid, das du Millionen Menschen mit deiner Preistreiberei angetan hast, zerstört jegliche Menschlichkeit in mir.“

Kant. Er zitierte Kant.

„Meine Geduld ist erschöpft.“

Diese Selbstgefälligkeit. Wie er seinen Vater dafür hasste. Der alte Sack führt sich auf wie ein Renaissancefürst. Franz spürte, wie der Boden unter ihm zu wanken begann. Der Mund wurde ihm trocken. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Und ich zittere schon wieder vor ihm. Warum? Weil er mein Vater ist?

„Du willst mich rauswerfen, Vater?“, krächzte Franz. Vater... Er nannte ihn Vater. Aber was hieß das schon. Hatte er ihm jemals das Gefühl gegeben, geliebt zu werden? Geliebt ohne Absicht und nicht als Belohnung für was auch immer. Geliebt einfach nur weil er existierte. Weil er sein Sohn war. Ich bin aus dem gleichen Ofen geschossen wie der Bastard, den du immer bevorzugst.

„Karl, immer nur Karl!“, zischte Franz hasserfüllt, den Kopf gesenkt und vor unterdrückter Wut bebend. „Ich bin dein Sohn.“, hauchte er tonlos, bevor er förmlich explodierte und seine Stimme sich hysterisch überschlug. „Ich bin auch dein Sohn, Vater. Vergiss das nicht. – Und was deine antiquierte Weltanschauung betrifft...“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. Starrte seinen Vater an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Und dann geschah etwas Merkwürdiges mit ihm. Es war, als hätte er die Schwerkraft überwunden, so leicht fühlte er sich mit einem Mal. Ihm wurde warm. Er nahm den Raum plötzlich mit einer Intensität war, die er in dieser Reinheit nicht einmal von seinen unzähligen gezogenen Lines kannte. Und der Raum sprach zu ihm. Natürlich nicht in Worten, er war ja nicht verrückt. Nein, nein. Der Raum sprach zu ihm in einer Weise, die keiner Worte bedurfte. Der Raum gab ihm zu verstehen, dass er, Franz von Moor, allein in diesem Raum war. - Ansgar von Moor hatte aufgehört zu existierten. – Für ihn. Er hatte keinen Vater mehr.

Rührung überkam ihn. Und eine tiefe Ruhe. Denn nun wusste er was zu tun war.