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Drachenkind

Vertrauen | Verwandlung | Finsternis

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Willkommen! Nimm dir Zeit und pass gut auf!

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Nachwort

Impressum neobooks

Willkommen! Nimm dir Zeit und pass gut auf!

Dieses Buch ist nur ein kleiner Teil der Geschichte. Weitere Bücher sollen folgen, sobald ich Zeit habe. Leider kann ich derzeit keine Versprechen zu Neuerscheinungen und Terminen machen.

Was du von diesem Buch erwarten darfst:

Es gibt viel zu erzählen und viele Details. Oft ist es unerlässlich, genau zu lesen und nicht zu überfliegen. Bevor du etwas nur überfliegst, mach eine Pause oder hör auf. Du wirst sicher schnell merken, ob dir der Stil zusagt. Falls es so sein sollte, kannst du dich auf eine umfangreiche und intelligente Geschichte voller Bilder und spannender Momente freuen, die einiges an Überraschungen zu bieten hat und viele Fragen stellt.

Was du nicht erwarten darfst:

Dass alle Fragen bereits am Ende dieses ersten Buches restlos geklärt sind oder dass alles auf Anhieb einen Sinn ergeben wird. Das hier ist auch kein Kinderbuch für zwischendurch. Falls du was Seichtes zum Einschlafen brauchst, such weiter. Falls du hingegen keine Angst vor Träumen hast, leg los!

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Bitte, sei vorsichtig:

Es gibt Momente und Entwicklungen in dieser Geschichte, die sehr finster und gewaltvoll sind. Daher ist dieses Buch für besonders empfindliche oder zu junge Menschen vielleicht nicht zu empfehlen.

Fragen oder Kommentare zu diesem Projekt kannst du hier loswerden:

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Falls Buch und Geschichte gefallen, mach dir Gedanken und erzähle jemandem davon. Je mehr, desto besser ;) Und natürlich rezensieren! Wichtig!

Kapitel 1

Dumpf weckte ein leises Geräusch ihn auf. Die Augen waren noch fest verschlossen und der Körper lahm, doch die Taubheit in den Gliedern verschwand schnell, als ihm klarwurde, dass er nicht atmen konnte, begraben unter einer dicken Schicht aus pulvriger Asche voller kleiner, glühender Kohlesplitter. Asche und Staub brannten in seiner Nase, dem Mund und den Augen.

Panisch richtete er sich auf, spürte den Schmerz brennender Funken im Gesicht. Als sein Kopf die Oberfläche der Ascheschicht endlich durchbrach, drehte er sich mühevoll um. Auf allen vieren kauerte er in den grauen, unbekannten Überresten, hustete schmerzhaft die störend scharfen Partikel aus seinen Lungen heraus. Die ersten der rasselnden Atemzüge waren schlimmer als das Gefühl des Erstickens. So blieb er lange an derselben Stelle und versuchte, sich zu beruhigen. Nur langsam ließ die Furcht nach, Tränen kribbelten kurz auf seiner Haut, ehe sie verdampften. Wie eine triezende Mahnung, Wasser zu trinken. Doch hier gab es nichts. Absolut gar nichts.

Er sah sich zum ersten Mal um und bemerkte die tatsächliche Dämmerung, vielmehr Dunkelheit. Beständig rieselten neue Aschepartikel aus einem nicht sichtbaren Himmel. Die trockene Luft war von einem extrem feinen Staub durchsetzt, der in den ohnehin gereizten Atemwegen kratzte. Als hätte dichter, heißer Nebel alles eingehüllt, konnte er kaum fünfzig Schritte weit sehen. Die Welt wirkte zunächst farblos. Er stellte sich hin und sah sich schwankend um. Eine fast vergangene Spur von Fußabdrücken endete genau an der Stelle, wo er gerade noch begraben gewesen war. Seine Bewegungen scheuchten orangerote Funken auf, welche im schwachen Wind wie lebendig knisternd davonwirbelten. Er konnte sie spüren und folgte ihnen verwirrt in Gedanken, bis sie im Staub verschwanden.

Wie war er hergekommen? Wo war er? Keine Erinnerungen an den Ursprung oder Weg, keine Ahnung vom Ziel. Ein grelles Aufleuchten irgendwo am unsichtbaren Himmel schnitt förmlich in seine Augen, welche sich gerade erst tränend an die Dunkelheit gewöhnten. Das starke Licht erinnerte an Feuer. Ein tiefes Beben durchfuhr den Boden und kurz konnte er etwas weiter sehen. Eine Wüste aus Asche und Staub, eben und seit immens langer Zeit unberührt. Hinter ihm, wo die Fußspuren wie aus dem Nichts auftauchten, existierte nur tiefste Dunkelheit. Bereits nach wenigen Metern war es so schwarz, dass er glaubte, das wenige Licht aus der Umgebung würde dort einfach vernichtet. Es gab nicht einmal einen Horizont oder auch nur die Idee von Helligkeit. Er spürte instinktive Angst, als ein fremdes Geräusch ihn in der unnatürlich totalen Stille erreichte. Jener Schall, welcher ihn geweckt hatte. Irgendetwas war dort draußen.

Er drehte sich um und blickte in die Richtung, in welche die Fußabdrücke zeigten. Von dort kam das wenige Licht. Ein warmes, feuriges Leuchten. Es war durch den staubigen Rauch in der Luft so gestreut, dass er die Quelle nicht orten konnte. Ein erneutes Geräusch aus der Finsternis erzwang die Entscheidung und er machte sich auf den Weg in Richtung Licht, getrieben von einer merkwürdigen Ahnung. Er spürte deutlich, dass ihn etwas verfolgte und dass es noch relativ weit weg war, dennoch stapfte er bestimmt und unruhig voran durch die tiefe, schwelende Asche. Bereits nach wenigen Schritten blieb er wie angewurzelt stehen. Was er in der undurchsichtigen Dämmerung für einen fernen Horizont gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Wand, wie aus großen Kristallen gewachsen und unendlich. Wieso unendlich? Er grub vorsichtig etwas von der Asche beiseite, welche sich daran auftürmte. Das heiße rote Glimmen kam durch diese grobe Barriere. Und da war noch etwas.

Die erste Bewegung hinter dieser fast durchsichtigen Grenze jagte ihm einen Schrecken ein. Riesig und tiefschwarz näherte sich etwas von der anderen Seite. Die Form erschien bizarr und gestört durch die Kristalle, deren Struktur und Unreinheiten brachen das Licht wie stellenweise klare, chaotische Prismen. Ihm wurde klar, dass die alles einhüllende Hitze von hier kam. Er spürte, wie Blut aus seiner Nase tropfte, es wurde einfach zu heiß. Die Asche brannte auf seiner dunklen, nackten Haut und zerstörte mit dieser nach und nach das Einzige, was ihn von seiner Umwelt trennte. Als er hustete und so das Blut gegen die gigantische und ungeahnt dicke Mauer spritzte, schlug das kolossale Wesen von der anderen Seite so heftig dagegen, dass er rückwärts von der Wand fortgeschleudert wurde. Eine Welle aus grauem Pulver und Glut überrollte ihn unsanft, erneut wurde das Atmen unmöglich und die flirrenden Partikel nahmen jegliche Orientierung. Im Boden spürte er die Vibrationen schneller, schwerer Schritte. Etwas war hinter ihm und kam näher. Ängstlich richtete er sich wieder auf, starrte zurück in die Dunkelheit. Er konnte nur erkennen, dass die vom Himmel schwebende Asche auf ihn zu kam, als würde etwas die Luft vor sich her schieben. Was auch immer es war, es kam mit irrer Zielstrebigkeit aus der unglaublichen Schwärze genau zu ihm.

Ein erneuter, noch stärkerer Schlag traf die Barriere von der anderen Seite. Scheinbar alles hinter jener Wand stand in Flammen, das tobende Feuer wurde zunehmend heller und das riesenhafte, schwarze Ding war das einzig Dunkle. Es ging auf seiner Seite der Kristallmauer auf und ab, als suchte es nach einer Schwachstelle. Schließlich begann es, stürmisch darauf einzuschlagen, wieder und wieder, bis sich Risse bildeten. Wie versteinert stand er da, spürte die Todesangst in sich hochkochen. Mittlerweile rann das Blut aus der Nase und den Ohren, sogar die Augen schmerzten. Unter der stellenweise verkohlten Haut erkannte er ein merkwürdiges Glühen, als würde geschmolzenes Gestein durch seine Adern fließen und ihn auch innerlich verbrennen. Er sah auf seine Hände. An den Knöcheln war die Haut abgerieben und blutete, mit jedem Schlag des unbekannten Wesens auf der anderen Seite wurde es schlimmer. Der nächste brutale Stoß erzeugte eine blitzartige Fraktur, welche eines der unzähligen Lichtspiele ausglich und nun annähernd klare Sicht durch die Grenze ermöglichte. Ein hell glühendes Paar böser Augen starrte ihn rasend an, er spürte das Beben lauter Schallwellen, konnte jedoch schon nichts mehr hören. Ihm war klar, dass dieser gewaltige Ton von dem Wesen auf der anderen Seite kommen musste. Gelähmt von Angst und Schmerz hielt er den Blickkontakt, beobachtete, wie sich das Monster immer weiter zu ihm durch hackte und mit unvorstellbarer Kraft und gewaltigen Krallen tiefe Furchen in den Kristall schlug, während es ihn nicht aus den Augen ließ.

Er erkannte die Spiegelung von etwas hinter sich, drehte sich langsam und mit hell brennendem Körper um. Ein großes, massiges Wesen sprang auf ihn zu, mit weit aufgerissenem Maul und ausgestreckten, riesigen Fängen. Er spürte den Aufprall, als das tonnenschwere Biest ihn erreichte und zuschnappte. Völlig überwältigt fühlte er, wie sie beide an der dünnen Stelle durch die Grenze brachen und das Feuer der anderen Seite alles erfasste.

Kapitel 2

Eric schreckte mit einem stummen Schrei in der Brust und schmerzhafter Spannung im Körper aus dem Schlaf auf und kippte sofort wieder zurück, von etwas weichem erstaunlich fest im Gesicht getroffen. Orientierungslos griff er reflexartig nach dem, was ihn umgehauen hatte. Er konnte sich vor lauter Anspannung kaum bewegen und sah schließlich nur unscharf den farbigen Stoff des großen, bunten Kopfkissens vor sich. Die Schmerzen im ganzen Körper pulsierten wild in seinen Gedanken. Langsam wurde ihm klar, dass es taghell war und Jack das andere Ende des Kissens fest umklammert hielt, als wollte der ihn sofort noch einmal schlagen. Eric entspannte sich, sein Bewusstsein taute auf. Ja, richtig. Wie fast jeden Morgen. Jack hatte im Heim ein Spiel verbreitet: Wer seinem Zimmergenossen morgens als Erster eins mit dem Kissen verpasste, war von allen Haushaltspflichten entbunden. Der Verlierer musste die Betten machen, putzen, Küchendienst und andere Dinge erledigen, sofern notwendig. Eric hasste dieses Spiel, genau wie seinen Namen. Aber er mochte den lebensfrohen Jack mehr als irgendjemanden sonst. Nur darum ließ er sich das gefallen. Er würde Jack sowieso nie derart mit dem schweren Daunenkissen schlagen, denn der kurze Chinese würde dann wahrscheinlich quer durch das kleine Zimmer fliegen.

Jack war trotz seiner vierzehn Jahre noch immer einen Kopf kleiner als Eric, der etwa eins-dreiundsiebzig groß war. Dies war auch der Grund dafür, dass Eric selbst dann die Betten machte, falls Jack verschlief, denn der konnte es kaum mit den schweren Matratzen aufnehmen oder die Decken schütteln, ohne sie über den Boden zu schleifen.

»Stehen auf, stehen auf! Es schon spät, gleich frühes Stück und ich warten. Wenn du nicht gleich am Start, ich schlagen dich kaputt …«

Eric lächelte müde, resignierend schloss er die Augen und schüttelte den Kopf. Jack war bereits lange hier im Heim, verstand jedes Wort. Und doch schien er die Sprache nicht richtig anzunehmen. Egal, Eric hatte das Spiel verloren. Schon wieder. Bei der Vorstellung, dass der kleine Jack, gerade ein wenig größer als sein Kopfkissen, ihn mit diesem erschlagen wollte, musste er lachen. So vergrub er sich herausfordernd unter der warmen Decke und unterdrückte den stechenden Schmerz in seinem Oberkörper, welcher gerade noch zwischen den Zähnen einer tonnenschweren Bestie zerbrochen war. Jack lachte laut, entriss Eric das Kissen und ließ es drohend über dessen Kopf schweben, während Eric träge zurück in die Realität fand. Auch Jacks nächste Warnung wurde ignoriert und schließlich fuhr das große Daunenkissen schwer und heftig wie ein Hammer auf Eric nieder. In seinem Kopf hallte der Aufprall wie ein splitternder Schlag gegen eine unendliche, berstende Kristallmauer.

»Xiaolong, Arsch hoch! Frühstück! Yo, beweg dich, du Tier!«

Jack wurde ungeduldig, Eric seufzte. Warum merkte sich Jack ausgerechnet solche Worte? Sprach nach sechs Jahren immer noch kein richtiges Deutsch, aber seinem Unmut vielfältig und grob Ausdruck zu verleihen war nie ein Problem. Und dann dieser Name. Xiaolong … nicht auszuhalten! Eric mochte diesen Namen genau so wenig wie jenen, der in seinem Pass stand: Eric Simila. Er begriff nicht, wie seine Eltern ihn so hatten nennen können, aber so war es eben. Seine Mutter, Anna Simila, war vor sechzehn Jahren bei seiner Geburt gestorben. Kurz danach starb sein Vater stark alkoholisiert bei einem Autounfall. Die Nachbarin Mia, eine ältere Tibeterin, hatte ihn bei sich aufgenommen und später adoptiert. Da sie die Leiterin dieses Heimes war, lebte Eric nun hier. Zusammen mit Jack in einem Zimmer, seit ungefähr sechs Jahren. Und gleich am ersten Tag hatte dieser ihm den bescheuerten Namen Xiaolong aufgezwungen. Eric hatte schon damals gefragt, was der Name bedeutete, doch Jack konnte oder wollte es nie wirklich beschreiben. So fand sich Eric einfach damit ab, hatte sich beinahe dran gewöhnt und manchmal ging ihm der Aberglaube dieses Chinesen ohnehin auf die Nerven. Der Name provozierte ihn. Es war, als glaubte Jack, mehr über Eric zu wissen als der über sich selbst. Und jenes vermeintliche Wissen verheimlichte er gezielt, denn sonst würde er die Bedeutung des Namens einfach preisgeben. Manchmal wurde Eric von anderen auch einfach nur Tier oder Biest genannt, vor allem von den älteren. Sie meinten es meist nicht negativ, eher auf merkwürdige Weise anerkennend oder respektvoll. Doch Eric mochte dies noch viel weniger, denn auch der Grund dafür war kein guter. Dass Jack es tat, war nur ein noch deutlicheres Zeichen dafür, dass der etwas ernst meinte.

Eric war schwarz. So sagten es andere, allerdings hielt er die für farbenblind. Er war nicht schwarz, sondern einfach braun. Im Winter etwas heller als im Sommer. Im Nebenzimmer wohnte Tamara, eine Afrikanerin, sie war fast schwarz. Aber er nicht. Er hatte kohleschwarze Haare, die in gefilzten Strähnen dreißig Zentimeter herunterhingen. Zu dieser Maßnahme hatte Mia persönlich gegriffen, als sie herausfand, dass Eric sich weigerte, sich die Haare schneiden zu lassen. Es sah nicht ungepflegt aus, nur anders. Gut sogar, wenn er sie ab und zu mal wusch und bearbeitete. Vielleicht etwas zu wild, doch Eric war es egal. Was war schon zu wild? Jack hingegen hatte typisch asiatische, total glatte Haare, die er kämmen und frisieren konnte, wie es ihm passte. Am liebsten kurz und mit gefühlt einem Kilo Gel versehen. Das sah nicht schlecht aus, allerdings wirkte es dermaßen übertrieben und glitschig, dass man sich erst daran gewöhnen musste. Er übte wohl noch. Früher hatte er sich nie groß um seine Haare geschert. Jacks Augen waren schmal und wachsam, meist freundlich, manchmal erstaunlich kühl. Eric liebte Jack wie einen Bruder und Jack seinerseits sah in Eric ebenfalls viel mehr als nur einen Freund oder Mitbewohner. Ein erneuter Kissenschlag traf Eric, vor dessen Augen noch immer kleine, brennende Aschepartikel flimmerten, diesmal erstaunlich kräftig. Jack lachte und freute sich offensichtlich über die verschlafene Miene seines besten Freundes, den er soeben aus dessen Träumereien gerissen hatte. Er hatte keine Ahnung, was genau Eric träumte.

Während an diesem Samstag mal niemand die Betten machte, machte sich Eric mit Handtuch und Shampoo auf den Weg zu den Duschkabinen. Bald hörte er wieder jenes Kichern, welches ihn fast jeden Morgen auf dem Flur dorthin begleitete. Es waren die schlimmsten drei Weiber der Welt, wie er zu sagen pflegte. Ingrid, Maya und Ina. Allein diese Namen, so langweilig und so traditionell. Er hatte manchmal was gegen Namen, empfand sie auf seltsame Art wie Schlüssel zu irgendetwas, wie Hinweise oder Passwörter. Als wären die Menschen mit ihren Namen so eng verbunden, wie mit nichts anderem, doch oft schienen diese einfach nicht zu passen. Diese Mädchen, alle drei fünfzehn Jahre alt, guckten jedem hinterher, der ein wenig muskulös aussah und riefen dem dann nach, dass sie ein Kind von ihm wollten. Eric verstand sie nicht und es war ihm auch nicht klar, was daran so unfassbar amüsant sein sollte. Menschen waren so seltsam. Gleichzeitig grübelte er über seine anfängliche und ihre noch immer anhaltende Verlegenheit. Was er wohl täte, falls eine von ihnen ihn ernsthaft ansprechen würde? Er grinste. Immerhin, sie sahen einen Grund, ihm nachzuschauen.

Als Eric schließlich am großen Duschraum ankam, fiel ihm gleich jene hämische Visage auf, mit welcher er in letzter Zeit allzu oft belästigt wurde. Jan, jemand, der sich für was ganz Großartiges hielt. Mia hatte einmal gesagt, niemand würde als Idiot geboren. Viele im Heim waren sich einig: Jan könnte die eine Ausnahme sein. Er war kaum einen Kopf größer als Eric und dennoch schielte er jedes Mal von oben auf ihn herab, soweit das möglich war, um seine imaginäre Vollkommenheit und Überlegenheit möglichst deutlich zu unterstreichen. Er war schwer und stark, sein Spiel allerdings durchschaubar. Jan hatte mehr Respekt vor Eric als vor allen anderen im Heim und doch versuchte er, genau das zu überspielen. Eric erinnerte sich ungern an den Grund, verspürte dann jedes Mal eine gefährliche Spannung in sich, als wollte er Jan umlegen. Jan war der Grund für Erics unfreiwilligen Ruf als Tier oder Biest und ließ kaum eine Chance aus, diese Begriffe möglichst abwertend zu verwenden.

Es war an dem Tag gewesen, als Jack zusammen mit einem anderen Jungen im Heim angekommen war. Jan, damals selbst elf Jahre alt, hatte dem Neuen und damals Siebenjährigen grundlos ins Essen gespuckt. Er hatte gewartet, ob der Kleine vielleicht losheulen oder einen sicher verlorenen Kampf beginnen würde. Doch Haku, der Japaner, wie ihn später alle nannten, hatte sich unbeeindruckt eine neue Schüssel Reis genommen und sich anderswo hingesetzt. Und genau das, nicht beachtet zu werden, hatte Jan schon damals nicht ausstehen können. Er hatte sich auf Haku gestürzt und ihm ins Gesicht geschlagen, den Kleinen am Boden gehalten und ihn nach allen Regeln der Kunst verdreschen wollen, während seine großartige Gang - wie sie sich stolz nannten - darauf achtete, dass niemand dem weinenden Jungen helfen würde. Selbst einige der Älteren hatten einen Moment gebraucht, ehe sie sich so langsam dazu entschließen konnten, einzugreifen. Eric jedoch war aufgestanden, wie aus dem Nichts und stumm wie ein Schatten hatte er Jans Freunde mit ungeheurer Kraft beiseite geworfen und Jan am Hals gepackt, ihn von Haku hochgerissen und scheinbar mühelos quer durch den Raum gezogen.

Als Jans Freunde Eric festhalten wollten, hatte sich Eric wie ein rasendes Tier brüllend von ihnen losgerissen und sich auf den geschockten Jan gestürzt, der sich gerade wieder aufrappeln wollte und gar nicht verstand, wie ihm geschah. Eric versetzte ihm damals einen Schlag und Jan war wie tot in einer Ecke liegen geblieben, aber Eric war ihm gefolgt und gerade, bevor er erneut zugeschlagen hätte, war er wie versteinert stehengeblieben und zu sich gekommen. Jedem der Umstehenden war sofort klar gewesen, dass Eric in dem Moment keine Ahnung gehabt hatte, was geschehen war. Nach einigen Sekunden war er neben Jan auf die Knie gefallen, verängstigt beobachtend, wie Jans Atmung völlig außer Kontrolle geriet. Als schließlich Mia herbeigestürmt kam und die Situation erkannte, hatte sie Eric kaum beachtet und Jan irgendwie aus dessen Bewusstlosigkeit geholt, ihn untersucht und ihm aufgeholfen. Jan war mit einer verstauchten Hand, Kratzern an der Kehle und einem steifen Nacken davongekommen, heulend und nach Luft schnappend in sein Zimmer verschwunden, begleitet von seinen Verbündeten, welche sich kaum getraut hatten, Eric aus den Augen zu lassen. Eric jedoch hatte sich nur wortlos die Tränen aus dem Gesicht gewischt, sich an seinem Platz niedergelassen und seine Mahlzeit fortgesetzt, als wäre nie etwas gewesen. Minutenlang sprach niemand ein Wort, alle starrten Eric an aber vermieden jeglichen Augenkontakt. Eric hatte keine Ahnung, was sie gesehen hatten, war damals selbst nicht einmal in der Lage gewesen, zu erkennen, was genau passiert war. Als Jack noch am selben Abend als neuer Mitbewohner zu Eric ins Zimmer geschickt wurde, hätte er sich fast vor Angst in die Hosen gemacht. Eric durfte sich ihm nicht nähern und Jack schlief die ganze Nacht nicht. Er gab Eric den Namen »Long«, soviel konnte Eric trotz all der fremden Worte begreifen. Nach zwei Monaten hatte sich zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft entwickelt und Jack setzte einfach »Xiao« davor. Schon einen Tag nach der Situation mit Jan hatten die ersten begonnen, Eric nur noch als wildes Tier oder Biest zu handeln. Der hatte sich dem bedrückt und beschämt ergeben, bevor ihm klarwurde, dass vor allem die Ältesten es respektvoll meinten. Lange hatte er niemanden fragen können, auch Jack nicht, was überhaupt passiert war.

So hatte Jan äußerst heftig gelernt, dass diesem Eric nicht zu trauen war und fortan versuchte er, seine Niederlage mit Bosheit zu überspielen. Er nutzte jede Gelegenheit, um Jack zu bedrohen, hatte ihn bisher jedoch nie angerührt. Während er und fast alle anderen Eric damals für viele Tage eher ausgewichen und mit Angst begegnet waren, hatte sich Jan bald erholt und begonnen, seinen Körper zu trainieren, um es Eric irgendwann einmal heimzahlen zu können. Von einem fiesen Jungen hatte er sich, durch Eric traumatisiert, in ein sadistisches, gewalttätiges Wesen verwandelt und sich seinen unangefochtenen Platz als Boss unter fast allen Jugendlichen der Umgebung erzwungen. Er duldete nur die Stärksten als Handlanger und war nie zimperlich, wenn es um Erniedrigung oder schlichtweg gelangweilte Gewalt ging. Eric war Jans letzte Hürde, wegen ihm und in seiner Gegenwart rührte Jan niemanden im Haus ernsthaft an, was jedem im Heim absolut klar war. Doch Eric beanspruchte weder Jans Position noch war er überhaupt an dem idiotischen Spiel interessiert. Er war einfach nur im Weg.

Eric blinzelte, als die Erinnerung verflog und eine zugeschlagene Tür ihn zurückholte. Verwirrt stellte er fest, dass kaum drei Sekunden vergangen waren, obwohl es sich anfühlte, als wäre er ewig lange abgedriftet. Nun stand Jan immer noch da, tatsächlich ziemlich stark und massig, blockierte den Eingang zum Duschraum und seine sechs Kumpel standen bedrohlich lächerlich hinter ihm. Fast alle groß, breit und dämlich, einer von ihnen zerlegte feixend mit offenem Mund einen Kaugummi. Doch die Unsicherheit in ihren Augen war noch immer nicht verschwunden, jeden Tag aufs Neue wurde das offensichtlich. Eric spürte sie wie einen Geruch, konnte ihre Angst fast schmecken. Ihre einzige Sicherheit bestand darin, dass sie Eric nicht allein gegenüberstanden und dass der nicht so war wie sie. Abgesehen davon, dass auch er mit den Jahren stetig stärker geworden war. Bevor sich Eric an ihnen vorbeischieben konnte, öffnete Jan den Mund.

»Morgenstunde hat Gold im Munde!«, rief Jan schrill und Eric war sich sicher, dass Jan ihn am liebsten mit einem harten Stoß am Weitergehen gehindert hätte. Doch das traute Jan sich noch nicht. Eric prüfte gelangweilt und routiniert Jans Begleitung, befand die Situation für ungefährlich. Er war müde und unaufmerksam, doch dieser Typ schaffte es jedes Mal, ihn aufzuwecken. Meistens sagte Eric gar nichts, doch gerade jetzt war es ihm so egal, dass er sich zu einer Antwort hinreißen ließ.

»Du bist aber nicht Morgenstunde und aus deinem Munde kommt den ganzen Tag nur Scheiß. Woran du meinetwegen ersticken darfst, du bist so langweilig. Jetzt lass mich durch, es gibt hier Leute, die wissen, dass man sich waschen sollte.«

Mit diesen Worten schob er Jan einfach beiseite und ging zur hintersten Kabine. Da hörte er Jan hinter sich:

»Nur dreckige Tiere waschen sich. Ach ja: Ich habe herausgefunden, was Xiaolong bedeutet!«

Eric hielt inne. Es nervte ihn schon, wenn Jack ihn so nannte, aber aus Jans Mundwerk klang das gleich noch ein paar Nummern provokanter. Und falls der es wirklich herausgefunden haben sollte, würde er es sicher nicht für sich behalten, denn er wusste, wie sehr Eric davon irritiert war. Aber Eric dachte an einen von Jans dämlichen Witzen: »Dein Name bedeutet Hundefutter« oder sowas in der Richtung. Das mussten Jans Freunde sich immer ausdenken und der musste es auswendig lernen. Denn kleine Spickzettel brachten ihm nichts, er konnte ja kaum einen Satz lesen. Eric drehte sich langsam um, sah Jan in sein blödes Gesicht und fragte, ehrlich interessiert:

»Ja? Sprich. Erleuchte mich. Lass mich raten … Hat es was mit meiner Hautfarbe zu tun?«

Jan lachte überlegen. Offenbar erfreut, dass die Nummer Früchte trug.

»Alle mal herhören«, dröhnte Jan und sah sich bedeutungsvoll um, »dieser Idiot da vorne nennt sich ›kleiner Drache‹. Ist das nicht süß? Oh, wir wussten alle, dass du schwul bist. Fick dich! Tragisch, ein Krüppeldrache! Hat ja nicht mal einen Schwanz … oh, doch, da! So klein, ich habe ihn übersehen. Sorry!«

Eric sah ihn erstaunt und ärgerlich zugleich an. Dann drehte er sich zu Haku um, der gerade mit Duschen fertig war und wartete, dass der Ausgang frei würde.

»Stimmt das? Weißt du, was es bedeutet?«

Haku sah ihn an, als wäre er sich nicht sicher, ob er antworten wollte. Dann meinte er:

»Ja. Es ist kein Japanisch. Hat bestimmt mehrere Bedeutungen. Altes Chinesisch. Frag Jack, der hat dir den Namen verpasst, oder?«

Eric hörte sich noch eine Weile stumm das Gekicher und den Spott der anderen an, beobachtete aus den Augenwinkeln, wie außer Jan und seinen Kollegen niemand ihn so recht beleidigen wollte. Schließlich drehte er sich um und betrat seinen Stammplatz, die letzte Duschkabine, in der sich auch ein Waschbecken und ein Spiegel befanden. Als er auf die alte Glasplatte blickte und einen Sprung darin erkannte, durchfuhr ihn ein leichtes Schaudern. Mit dem Finger berührte er die Beschädigung, fühlte die scharfe Kante und starrte auf das von Feuchtigkeit und Kondenswasser milchige, verzerrte Spiegelbild. Er erinnerte sich wieder an seinen Traum, dachte an die kristallartige, merkwürdige und unendlich wirkende Barriere und etwas Lebendiges dahinter, für ihn unbeschreiblich beängstigend.

Seit Jahren, eigentlich seit Anbeginn seiner Erinnerungen, hatte Eric nachts diese Träume. Sie entwickelten sich langsam weiter, wie der von letzter Nacht, ein anderer blieb sogar jedes Mal exakt gleich. Eric hatte gelernt, sie bedingt zu beeinflussen, konnte sich aber nicht gegen sie wehren. Sobald er einschlief, würden sie irgendwann kommen und ihn überfallen. Aufwachen war dann unmöglich. Nur durch den Tod würde er aus den Träumen herauskommen. Heute war das riesenhafte Ungetüm auf der anderen Seite erstmals kurz davor gewesen, die Barriere rechtzeitig zu durchbrechen, hatte es am Ende sogar geschafft. Eric schmunzelte müde. Hurra, ein besonderer Tag. Etwas Neues. Wollte es ihn ebenfalls töten? Eric spürte die Angst in sich, erinnerte sich an die Augen, sah seine eigenen im Spiegel und die kranke Müdigkeit, welche sich unmissverständlich in ihnen abzeichnete. Es wurde schlimmer. Die Schmerzen waren für ihn absolut real und er konnte nichts dagegen tun, hatte sich im Wachzustand daran gewöhnt, doch im Traum war jedes Mal das erste Mal. Er war froh, dass er nicht schrie oder sich zu sehr bewegte, während er im Bett lag. Alles blieb in seinem Inneren, kein Ruf oder Wort drang nach außen. Als wäre er in diesem Körper eingesperrt, für immer. Falls es so weiterginge, würde er irgendwann nicht mehr schlafen wollen. Bereits vor ein paar Jahren hatte Eric eine solche Phase gehabt und sich dem Schlaf insgeheim verweigert. Mühevoll war er wochenlang wach geblieben aus reiner Angst vor dem, was auf ihn wartete. Wie damals war es auch jetzt: Mit zunehmendem Schlafmangel wurde er unkonzentrierter. Ab und zu kam ihm einfach die Zeit abhanden, wenige Sekunden seines Lebens waren für immer fort und für ihn fühlten sie sich wie Minuten oder Stunden an. Nur die Konsequenzen all dessen, was er innerhalb solcher Blackouts getan haben mochte, boten eine Chance, die verlorene Wahrheit zu rekonstruieren. Oder Jacks Erklärungen. Jack war immer bei ihm … Eric blinzelte. Ohne Jack wäre er längst in großen Schwierigkeiten.