Benito Cereno

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Benito Cereno
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Herman Melville

Benito Cereno

Inhaltsverzeichnis

Über den Autoren

Benito Cereno

Impressum

Über den Autoren

Herman Melville, geboren als Herman Melvill, war ein amerikanischer Schriftsteller, Dichter und Essayist. Sein Seeroman Moby-Dick zählt zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur.

Benito Cereno

Im Jahre 1799 lag Kapitän Amasa Delano aus Duxbury in Massachusetts, Kommandeur eines großen, als Frachter fahrenden Robbenfängers, mit einer wertvollen Ladung im Hafen der Insel St. Maria vor Anker – eines kleinen, wüsten und unbewohnten Eilands am südlichen Ende der langen chilenischen Küste. Er hatte den Hafen angelaufen, um Wasser zu fassen.

Am zweiten Tag in aller Morgenfrühe, als er noch in seiner Koje lag, kam sein Steuermann zu ihm und meldete, ein fremdes Schiff laufe in die Bucht ein. Der Schiffsverkehr in jenen Gewässern war damals noch nicht so zahlreich wie heute. Der Kapitän erhob sich, zog sich an und ging an Deck.

Es war ein Morgen, wie man ihn an jener Küste häufig beobachtet. Alles war stumm und lautlos; alles war grau. Die See, von einer flachen Dünung bewegt, schien dennoch stillzustehen; an der Oberfläche wirkte sie glatt wie gewelltes Blei, wenn es in dem Schmelzform erkaltet und erstarrt ist. Der Himmel glich einem grauen Mantel. Schwärme rastloser grauer Wasservögel, den rastlosen grauen Dünsten verschwistert, in deren Mitte sie ihr Spiel trieben, flitzten niedrig, in zuckendem Flug, übers Wasser hin, so wie Schwalben vorm Gewitter überm Wiesengrund. Schattenbilder – Vorboten späterer tieferer Schatten.

Zu Kapitän Delanos Überraschung zeigte das fremde Schiff, mit dem Glas beobachtet, keine Flagge, obwohl es, selbst an unbewohnter Küste, unter friedlichen Seeleuten aller Länder allgemein üblich war, beim Anlaufen eines Hafens, in dem ja immerhin ein fremdes Schiff liegen konnte, seine Farben zu zeigen. An diesem gottverlassenen Fleck herrschte freilich weder Gesetz noch Ordnung, und da man sich überdies von jener Gegend des Weltmeers dazumal allerlei düstere Geschichten erzählte, so hätte sich Kapitän Delanos Überraschung leicht zu einem unbehaglichen Gefühl vertiefen können, wenn er nicht, als ein von Natur gutartiger, allem Mißtrauen abholder Mensch, ganz außerstande gewesen wäre, sich – außer bei ungewöhnlich wichtigem und nachdrücklichem Anlaß und auch dann nur ungern – persönlich beunruhigen zu lassen, was ja immer darauf hinausläuft, daß man bei seinen Mitmenschen Bosheit und Tücke voraussetzt. Denkt man daran, wessen die Menschheit alles fähig ist, so muß man sich freilich fragen, ob ein solcher Wesenszug, gepaart mit Herzensgüte, überhaupt noch vereinbar ist auch nur mit der gewöhnlichsten Behendigkeit und Schärfe des wägenden Verstandes – aber darüber mögen sich andere den Kopf zerbrechen.

Übrigens mußten alle Befürchtungen, die sich beim ersten Anblick des fremden Schiffs allenfalls erheben mochten, für ein Seemannsauge sogleich hinfällig werden bei der Feststellung, daß die Unbekannten beim Ansteuern des Hafens viel zu nah auf die Küste zuhielten, wo eine blinde Klippe gerade in ihrem Kurs lag. Es schien sich demnach um ein Schiff zu handeln, das nicht allein dem Robbenfänger unbekannt, sondern das auch hier an der Insel fremd war, und keinesfalls um einen Freibeuter, der gewohnheitsgemäß diese Gegend des Ozeans befuhr. Mit nicht geringer Spannung setzte Kapitän Delano seine Beobachtungen fort – was ihm nicht gerade erleichtert wurde von den Dunstschwaden, die den Schiffsrumpf teilweise verhüllten, so daß das ferne Kajütlicht nur unbestimmt herüberblinkte. Auch die Sonne schimmerte in einer gewissermaßen zweideutigen Weise: sie stand in diesem Augenblick als halbe Scheibe überm Horizont und schien gemeinsam mit dem fremden Schiff in den Hafen einlaufen zu wollen – hinter dem Schleier der niedrighängenden, träg dahinkriechenden Wolken aber wirkte sie nicht unähnlich dem boshaft spähenden Auge, mit dem eine listenreiche Schöne zu Lima in der Hauptstadt aus dem indianerhaften Hinterhalt ihrer dunklen Saya-y-manta über die Plaza hinäugt.

Vielleicht war es eine Täuschung, vom diesigen Wetter verursacht, aber je länger man das fremde Schiff beobachtete, desto eigenartiger wirkten seine Manöver. Nach einiger Zeit wurde sogar ungewiß, ob es überhaupt einzulaufen gedachte und ob irgendwelcher Sinn und Verstand hinter seinen Manövern lag. Der Wind, der während der Nacht eine Kleinigkeit aufgefrischt hatte, war schon wieder schwach und unberechenbar, und die Bewegungen des Schiffs wurden davon immer noch unsicherer.

In der Vermutung, es müsse sich um ein Schiff in Seenot handeln, ließ Kapitän Delano schließlich das Walboot flottmachen; trotz dem vorsichtigen Widerspruch seines Steuermanns hatte er vor, auf dem fremden Segler an Bord zu gehen und ihn, wenn nichts anderes zu tun wäre, in den Hafen zu lotsen. In der Nacht vorher waren einige von seinen Mannschaften zu einer entfernten Klippenpartie hinausgefahren und kurz vor Tagesanbruch mit einem ansehnlichen Fischfang zurückgekehrt. In der Annahme, die Fremden seien vielleicht lang nicht zum Fangen gekommen, packte der gute Kapitän mehrere Körbe mit Fischen als Mitbringsel in sein Boot und ruderte los. Das Schiff trieb weiter auf die blinde Klippe zu; es schien ernstlich in Gefahr, und er trieb seine Leute an und tat alles, die fremden Seeleute auf ihre gefährdete Lage aufmerksam zu machen. Bevor das Boot aber sein Ziel erreichte, war der Wind wieder umgesprungen und hatte, so schwach er war, das Schiff zum Abdrehen gebracht und zugleich die Dunstschwaden wenigstens teilweise zerstreut.

Aus größerer Nähe betrachtet bot das Schiff, seit es sich nun so deutlich von dem Untergrund der bleifarbenen Dünung abhob, mit den da und dort noch umherstiebenden Nebelfetzen ungefähr den Anblick eines weißgetünchten Klostergebäudes bei abziehendem Gewitter, auf bräunlicher Klippe hoch in den Pyrenäen. Die Ähnlichkeit entsprang nicht einfach nur der Phantasie; einen Augenblick lang glaubte Kapitän Delano sogar allen Ernstes, er habe ein Schiff voller Klosterbrüder vor sich. Überm Schanzkleid schien sich's wie von neugierig ausspähenden Gestalten in dunklen Kutten zu drängen, soweit man bei dem Dunst und der Entfernung erkennen konnte, und hinter den offenen Stückpforten gewahrte man deutlich wandelnde Schattenbilder, Dominikanermönchen ähnlich, die durch Kreuzgänge schritten.

Bei weiterer Annäherung freilich wandelte sich der Eindruck, und es wurde offenbar, wie es sich in Wahrheit mit dem Schiffe verhielt. Es war ein spanischer Kauffahrer von der ersten Klasse, der neben anderer wertvoller Fracht eine Ladung Negersklaven von einem Kolonialhafen nach dem andern beförderte. Ein großes und zu seiner Zeit sicher auch sehr schönes Schiff, derengleichen man auf jener Route damals mitunter begegnen konnte: zum Teil waren es ausrangierte Schatzschiffe aus Acapulco, oder auch ehemalige Fregatten der königlich spanischen Flotte, altehrwürdigen Adelspalästen aus Italien vergleichbar, die auch nach dem Niedergang ihrer Herrschaft die Zeichen einstiger Pracht bewahrten. je mehr sich das Walboot näherte, desto ersichtlicher wurde, daß das seltsam hinfällige Aussehen des fremden Schiffs einfach auf eine schauderhafte, überall sichtbare Vernachlässigung zurückzuführen war. Rundhölzer, Tauwerk, große Teile des Schanzkleids sahen förmlich flockig aus, so lang waren sie von Schraper, Teer und Bürste unberührt geblieben. In dem Tal der trockenen Totenbeine, von welchem im Propheten Hesekiel zu lesen steht, schien dies Wunder von einem Schiff dereinstens gebaut und vom Stapel gelaufen.

Auch für seine gegenwärtige Verwendung hatte es offenbar keinen Umbau und keine Veränderung seiner Takelage erfahren. Wie einst war es ein Kriegsschiff, dem Stift eines Froissart entsprungen. Kanonen allerdings sah man keine.

Die Marse waren geräumig, mit den Überresten eines achtseitigen Netzwerks umgittert, das jetzt freilich trostlos in Fetzen hing. Man mochte diese drei Marse hoch oben drei schadhaften Vogelhäusern vergleichen, und wirklich hockte in dem einen auf einer Webeleine ein weißer Vogel, eine sogenannte Dummschwalbe, ein seltsames Geschöpf, das seinen Namen daher führt, weil es von schläfrig-träger, geradezu nachtwandlerischer Wesensart ist, deswegen es denn auch auf See häufig mit der Hand gefangen wird. Die mit reichen Aufbauten versehene Back glich ihrerseits einem alten Turm, der vor Zeiten vom Feind erstürmt und dem Verfall preisgegeben worden war. Achterschiffs schwebten zwei hochgetürmte Quartergalerien mit Säulengeländern, die an vielen Stellen von zunderdürrem Seemoos bewuchert waren, Vorbauten der unbenützten Luxuskajüte, deren Fenster trotz der milden Witterung hinter den kalfaterten Schutzklappen wohlverwahrt lagen, so daß man an verödete Balkone überm Canale Grande zu Venedig denken mußte. Als gewichtigstes Überbleibsel ???verwichener Größe schließlich gewahrte man eine schildähnliche Heckverzierung, ein weites Oval mit dem Wappen von Leon und Kastilien in überladener Schnitzerei und umrahmt von reichem mythologisch-symbolischem Figurenwerk, als dessen oberste Bekrönung eine satyrähnliche Gestalt mit Maske einem sich windenden, gleichfalls maskierten Geschöpf den Fuß auf den gebeugten Nacken setzte.

Ob das Schiff auch ein Gallionsbild trug oder am Bug unverziert war, blieb ungewiß, weil man es vorn mit Segeltuch abgedichtet hatte, entweder zum Schutz während einer Reparatur, oder einfach, um eine Schadhaftigkeit recht und schlecht zu verbergen. Unter dem Segeltuch kam eine Art Postament zum Vorschein, und an dessen Vorderseite hatte man, wohl als einen Scherz unter den Matrosen, mit Farbe und Kalk in ungelenken Buchstaben die Inschrift hingepinselt »Seguid vuestro jefe« (»Folgt eurem Führer«), während an der Bordwand nicht weit davon in prachtvollen, einst vergoldeten Großbuchstaben der Name des Schiffs angeschrieben stand: San Dominick. In die metallenen Buchstaben hatte sich der Rost wie mit Nägeln tief eingegraben, und Seegras schlingerte in dicken schlammigen Gehängen über den Namen hin, im Leichenwagenrhythmus des schwerrollenden Schiffsrumpfs.

 

Sie kamen endlich ans Ziel und wurden mit Haken vom Bug nach dem Fallreep mittschiffs gezogen. Dabei fuhren sie, noch einige Handbreit vom Schiffsrumpf entfernt, knirschend auf, als wären sie an ein unsichtbares Korallenriff geraten. Es war ein riesiger Klumpen ineinander verfilzter Entenmuscheln, die dem Schiff unter Wasser anhingen wie ein Auswuchs – ein Zeichen, daß widrige Winde und langdauernde Flauten das Schiff irgendwo auf hoher See festgehalten hatten.

Der Besucher kletterte nach oben und sah sich sogleich von einem Schwarm lärmender Weißer und Schwarzer umgeben, von denen die letzteren in ganz unerwarteter Weise überwogen, auch wenn man in Betracht zog, daß es sich um ein zum Transport von Negern bestimmtes Schiff handelte. Übrigens strömten sie alle in einer Sprache und gleichsam mit einer Stimme über von ihrer Leidensgeschichte, wobei sich die Negerweiber, deren nicht wenige an Bord waren, mit besonderer Schmerzensinbrunst hervortaten. Der Skorbut, zusammen mit einem bösartigen Fieber, habe schwer unter ihnen gewütet, namentlich unter den Spaniern. Auf der Höhe von Kap Horn seien sie mit genauer Not einem Schiffbruch entgangen und später hätten sie tagelang wie verhext in einer Flaute gelegen. Dabei hätten sie nur knappe Vorräte und beinahe kein Wasser mehr gehabt – ihre Lippen seien noch jetzt wie ausgedörrt.

Während Kapitän Delano derart zum Ziel der vielen regen Zungen wurde, nahm er selber mit seinem einen regen Augenpaar alle die vielen Gesichter in sich auf, samt allem, was ihn sonst umgab.

Wenn man auf einem großen, stark bemannten Schiff auf See zum erstenmal an Bord geht, besonders wenn es aus dem Ausland kommt und mit schwer durchschaubaren Leuten, etwa Laskaren oder Filippinos, bemannt ist, so unterscheidet sich der erste Eindruck in einer ganz charakteristischen Weise vom ersten Besuch in einem fremden Haus in fremdem Lande und mit nicht minder fremdländischen Bewohnern. Zwar halten Haus und Schiff – jenes hinter Mauern und Fensterläden, dieses hinter seinem hohen, festungsähnlichen Schanzkleid – ihr Inneres gleichmäßig bis zum letzten Augenblick verborgen, aber beim Schiff kommt noch etwas anderes hinzu: das lebendige Schauspiel in seinem Inneren wirkt, wenn es sich so plötzlich und rückhaltlos enthüllt, im Gegensatz zu dem umgebenden öden Ozean gleichsam verzaubert. Das Schiff scheint unwirklich; die fremdartigen Trachten, Gebärden und Gesichter wirken als Schattenspiel, aus der Tiefe emporgestiegen und der Tiefe alsbald wieder zubestimmt.

Vielleicht empfand auch Kapitän Delano Regungen, wie wir sie eben zu schildern versucht haben, und sah im Lichte einer höheren Bedeutung, was bei nüchterner Untersuchung höchstens ein wenig ungewöhnlich berührt hätte: zum Beispiel die sehr ins Auge springenden Gestalten von vier älteren, grauhaarigen Negern mit Köpfen wie schwärzliches, mooszerfressenes Weidengestrünk, die in sphinxartiger Haltung, ein ehrwürdiges Gegenbild zu dem unter ihnen tobenden Tumult, dahockten, der eine auf dem Steuerbordkranbalken, der zweite an der entsprechenden Stelle backbords, und die beiden andern einander gegenüber auf der Bordwand über den Großrüsten. Sie hatten aufgedröseltes Tauwerk in der Hand und zerzupften es in einer gewissen stoischen Selbstzufriedenheit zu Werg, das neben ihnen langsam zu einem Häuflein anwuchs. Zur Arbeit vollführten sie einen anhaltenden leisen und eintönigen Singsang – ein Brummen und Dröhnen, als bliesen vier grauhaarige Dudelsackspieler einen Trauermarsch.

Das Achterdeck erhob sich zu einer weitläufigen Hütte; auf ihrem vorderen Rande saßen, wie die Wergzupfer in erhabener Höhe thronend, in einer Reihe, acht Fuß hoch überm Gedränge der andern, sechs Schwarze mit untergeschlagenen Beinen – durch regelmäßige Abstände voneinander getrennt. Sie hielten jeder ein rostiges Beil in der Hand und reinigten es mithilfe eines Ziegelscherbens und eines Lumpens, anzusehen wie Küchenjungen beim Geschirrputzen. Zwischen sich hatten sie, je zwei und zwei, ein Häufchen Beile liegen, die rostigen Schneiden nach vorn gekehrt und auf den reinigenden Zugriff wartend. Die vier Wergzupfer richteten dann und wann ein kurzes Wort an einen der Vorübergehenden; die sechs Beilpolierer dagegen sprachen niemanden an und tauschten auch untereinander kein Sterbenswörtchen, sondern saßen stumm in ihre Arbeit vertieft, und ließen nur ab und zu, nach Negerart Arbeit und Zeitvertreib miteinander vereinend, unvermittelt ihre Axt seitwärts gegen die des Nachbars klingen, daß es metallisch dröhnte wie ein Beckenschlag. Alle sechs hatten, sehr zum Unterschied von der Mehrzahl ihrer Gefährten, noch ganz das rohe Aussehen des unzivilisierten, eingeborenen Afrikaners.

Übrigens ruhte der erste prüfende Blick des Betrachters nur ganz kurz auf den zehn erwähnten Gestalten und den vielen weniger auffallenden, die es noch zu sehen gab, denn bald ermüdete den Gast das heillose Durcheinander der vielen Stimmen und er wandte sich von dannen, den Kommandeur des Schiffs zu suchen, wenn es einen solchen Kommandeur überhaupt gab.

Diesem spanischen Kapitän nun schien es gar nicht unlieb zu sein, ???daß sich die Lage der Dinge unter den leidenden Menschen an Bord so augenfällig kundtat, oder er hatte es fürs erste aufgegeben, gegen die allgemeine Auflösung einzuschreiten – jedenfalls lehnte er, ein vornehm und verschlossen aussehender, auf den Amerikaner reichlich jugendlich wirkender Mann in auffallend üppiger Kleidung, im Gesicht freilich die Spuren schlafloser und sorgenvoller Nächte, tatenlos am Großmast und blickte abwechselnd mit traurigem, verzagtem Ausdruck auf seinen wildgewordenen Haufen und auf den, wie es schien, ohne Freude erwarteten Besucher. Neben ihm stand ein Schwarzer von kleinem Wuchs; jedesmal wenn er, mit der stummen Gebärde eines Wachthunds, zu seinem Herrn aufblickte, waren in seinem groben Gesicht Kummer und liebevolle Besorgnis zu lesen.

Der Amerikaner bahnte sich einen Weg durch die Menge, trat auf den Spanier zu, versicherte ihn seiner Teilnahme und erbot sich gleichzeitig zu jeder nur möglichen Hilfe. Der Spanier erwiderte fürs erste nur mit einigen gravitätisch klingenden Dankesworten; das steife und förmliche Wesen, das seinem Volk eigentümlich ist, war bei ihm gleichsam verdüstert von der Finsternis körperlichen Leidens.

Kapitän Delano verlor weiter keine Zeit mit Komplimenten. Er kehrte ans Fallreep zurück und ließ den Korb mit den Fischen heraufbringen, und da der Wind weiterhin schwach blieb, so daß es bestimmt einige Stunden dauern würde, bis das Schiff richtig vor Anker gebracht war, so hieß er seine Leute zurückrudern und Wasser holen, soviel das Fangboot tragen konnte, dazu alles Weichbrot, das der Steward zur Hand hatte, die noch nicht verzehrten Kürbisse, ein Kistchen Zucker und zwölf Flaschen Apfelwein aus seinem persönlichen Vorrat.

Das Boot war eben fortgerudert, als sich der Wind zum allgemeinen Verdruß vollends legte und die eintretende Ebbe das Schiff von neuem hilflos seewärts trieb. Kapitän Delano verließ sich indessen darauf, daß dieser Zustand nicht allzulang dauern würde, und machte den Fremden nach Kräften Mut, wobei es ihn nicht wenig befriedigte, daß er sich mit ihnen gerade in ihrer gegenwärtigen Lage dank seinen häufigen Fahrten an der spanischen Küste Südamerikas ziemlich unbefangen in ihrer Muttersprache unterhalten konnte.

Seit er mit ihnen allein war, fiel ihm so mancherlei auf, was geeignet war, ihn in seinen ersten Eindrücken zu bestärken. Doch machte sein anfängliches Befremden bald einem tiefen Mitleid Platz, und zwar mit Spaniern und Schwarzen gleichermaßen, weil er wohl merkte, daß sie ohne Ausnahme von Wasser- und Nahrungsmangel schwer mitgenommen waren. Bei den Negern waren infolge der dauernden Entbehrungen ersichtlich auch die weniger erfreulichen Eigentümlichkeiten ihrer Natur ans Licht getreten, während gleichzeitig die Autorität des spanischen Kapitäns ganz offensichtlich gelitten hatte. Wie die Dinge lagen, war gar nichts anderes zu erwarten. In Kriegsheeren und Flotten, in Städten und Familien, ja in der Natur selbst wirkt nichts so auflösend auf Zucht und Ordnung wie die Not. Allerdings konnte sich Kapitän Delano des Gefühls nicht erwehren, daß bei größerer Energie des jungen Benito Cereno die Mißwirtschaft schwerlich so tief eingerissen wäre. Seine Schlappheit, mochte sie nun in seiner Natur liegen oder auf die durchgemachten Nöte körperlicher und seelischer Art zurückgehen, war nur allzu augenscheinlich. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit schien ihn völlig in den Fängen zu halten; offenbar hatten ihn seine Hoffnungen so lange genarrt, daß er sich jetzt, wo sie ihn nicht länger narren würden, keinen Erwartungen mehr hingeben mochte und auch die Aussicht, noch im Lauf des Tages oder spätestens am Abend sicher vor Anker zu liegen, mit Wasser versorgt zu werden und einen Berufsgenossen als Ratgeber und Helfer in der Nähe zu wissen, ohne ersichtliche Freude zur Kenntnis nahm. Sein Geist hatte etwas Schweifendes; es war aber auch denkbar, daß er dauernden Schaden genommen hatte. In die Wände aus Eichenholz eingesperrt, an seinen zur Routine erstarrten Kommandoposten gefesselt, dessen unumschränkte Gewalt ihm schon zum Überdruß war, schlich er herum wie der hypochondrische Abt eines Klosters, blieb manchmal unvermittelt stehen, zuckte zusammen, starrte ziellos vor sich hin, biß sich auf die Lippen, nagte an den Fingernägeln, zwirbelte seinen Bart, wurde abwechselnd rot und blaß und zeigte überhaupt alle Symptome eines unsteten in Schwermut entrinnenden Geistes. Diese zerrüttete Seele wohnte, wie schon angedeutet, in einem nicht minder zerrütteten Gehäuse. Er war ziemlich groß, machte aber nicht den Eindruck, als wäre er je wirklich kräftig gewesen, und sah nun, infolge seines krankhaften Gemütszustandes, nur noch wie Haut und Knochen aus. Wie es schien, war ein heimliches Lungenleiden bei ihm in letzter Zeit endgültig zum Durchbruch gekommen. Seine Stimme jedenfalls klang, als atmete er nur noch mit halber Lunge – heiser und gepreßt???, ein rauhes Flüstern. So brauchte es einen nicht zu erstaunen, daß hinter dem dergestalt hilflos Einherwankenden der Leibdiener in seiner Besorgnis auf Schritt und Tritt herlief. Er reichte ihm manchmal den Arm, zog ihm auch das Taschentuch aus der Tasche und bezeugte bei diesen und ähnlichen Handreichungen einen fürsorglichen Eifer, der auch aus an sich untergeordneten Dienstleistungen Taten der Pietät und Brüderlichkeit werden ließ. Den Negern hat diese besondere Gabe den Ruf eingetragen, daß sie die angenehmsten Kammerdiener von der Welt sind; der Herr braucht sich ihnen gegenüber nicht einmal sehr von oben herab zu benehmen, sondern kann sie als nahestehende Vertrauenspersonen behandeln – als handle es sich um treuergebene Familiengenossen und nicht um Diener.

Kapitän Delano erinnerte sich wohl daran, wie laut und störrisch es unter den Schwarzen auf dem Schiff sonst zuging; er überlegte weiterhin, wie mürrisch und tatenlos die Weißen sich verhielten – und damit verglichen machte die ruhige und verständige Aufführung des Negers Babo einen menschlich recht erfreulichen Eindruck auf ihn.

Indessen schien auch Babos Wohlverhalten kaum mehr als die Disziplinlosigkeit der übrigen Mannschaft dazu angetan, den wie in Betäubung wandelnden Don Benito aus seiner traumversponnenen Wolkenwelt herauszureißen. Nicht als ob der Besucher genau diesen Eindruck von dem Spanier empfangen hätte. Die in ihm umgehende Unruhe wirkte auf den Betrachter zunächst nur als ein besonders auffälliger Zug in der auf dem Schiff herrschenden allgemeinen Verwilderung. Nur das eine gab Kapitän Delano zu denken, daß Don Benito ihm gegenüber eine, wie er sich sagen mußte, schon geradezu unfreundliche Gleichgültigkeit an den Tag legte. Aus seinem Verhalten sprach obendrein eine Art säuerlicher, übellauniger Geringschätzung, die er offenbar nicht einmal zu verbergen trachtete. Der Amerikaner schrieb es in seiner Nächstenliebe den Auswirkungen der Krankheit zu. Er hatte des öfteren beobachtet, daß bei gewissen Naturen ein langanhaltendes körperliches Leiden den geselligen Instinkt der Güte völlig überdeckt, so daß sie es, wenn sie schon selber vom schwarzen Brote zehren müssen, nur für recht und billig halten, daß jedermann, der in ihre Nähe kommt, gleichfalls gekränkt und vernachlässigt wird und so mittelbar auch an ihrer Elendskost teilnimmt.

 

Schon nach kurzem Überlegen kam Kapitän Delano übrigens zu der Vermutung, daß er vielleicht, so nachsichtig er den Spanier von vornherein beurteilt hatte, immer noch zu wenig Mitgefühl ihm gegenüber walten ließ. Was ihn verdroß, war Don Benitos reserviertes Wesen; aber es äußerte sich jedermann gegenüber, mit Ausnahme seines treuen Leibdieners. Wenn ihm zum Beispiel, wie es auf See üblich ist, zu gewissen festgesetzten Zeiten von einer Ordonnanz – einem Weißen, Mulatten oder Neger – der fällige Rapport erstattet wurde, hörte er mit sichtlicher Ungeduld zu und gab deutlich zu erkennen, wie unerwünscht ihm die Störung war. Ähnlich mochte sich dereinst sein kaiserlicher Landsmann, Karl der Fünfte, verhalten haben, zu der Zeit, da er dem Thron entsagte und sich zu seinem weltabgeschiedenen Eremitenleben rüstete.

Es war ein durch und durch lustloses und gramvolles Verhältnis der eigenen Stellung gegenüber, und es kam in fast jeder dienstlichen Handlung des Kapitäns zum Ausdruck. Zu seiner Schwermut gesellte sich ein starrer Stolz, der ihn abhielt, sich etwa persönlich mit der Befehlsübermittlung abzugeben. Erwies sich ein außerordentliches Kommando als nötig, so lag seine Weitergabe in den Händen des Leibdieners, der es durch Läufer an den Bestimmungsort übermittelte, weshalb immer eine Schar von Botenjungen, junge Spanier oder Sklaven, in Rufweite um Don Benito herumschwärmten, wie Pagen oder wie jene Lotsenfische, von denen man sagt, sie zeigten dem Haifisch den Weg. Er selber aber schlich teilnahmslos und schweigend herum, ein unauffälliger, kranker Mensch – und kein zur See Unbewanderter wäre im entferntesten auf den Gedanken gekommen, daß in ihm eine unumschränkte Machtvollkommenheit versammelt lag, gegen die es, so lange das Schiff auf See war, keine Berufung gab.

Hielt man dem gegenüber sein zurückhaltendes, abweisendes Verhalten, so mußte man in ihm wohl oder übel das Opfer einer seelischen Erkrankung erkennen. Doch konnte es auch möglich sein, daß seine Zurückhaltung bis zu einem gewissen Grad vorbedachter Absicht entsprang. Wenn dem so war, dann tat sich hier, in ungesunder Übersteigerung, jene eiskalte, peinlich ausgeklügelte Berufspraxis kund, die sich die Befehlshaber größerer Schiffe eigentlich alle zu eigen machen. Sie besteht darin, daß man, abgesehen von ganz eklatanten Notfällen, jedes Betonen der Befehlsgewalt und gleichzeitig auch jedes Hervorkehren menschlich liebenswürdiger Züge unterläßt und sich sozusagen in einen Holzklotz verwandelt, oder sagen wir besser, in eine geladene Kanone, welche nichts zu sagen hat, so lange es ihres Donners nicht bedarf.

In diesem Licht betrachtet, mochte es nur der natürliche Ausdruck einer lang und streng geübten Selbstbeherrschung und der daraus entwickelten starren Gewohnheit sein, wenn Don Benito auch jetzt, ganz ohne Rücksicht auf den derzeitigen Zustand seines Schiffes, ein Verhalten an den Tag legte, das an sich zwar harmlos und bei einem tadellos ausgerüsteten Schiff vielleicht sogar zweckmäßig war, zum gegenwärtigen Zustand der San Dominick aber eben einfach nicht passen wollte. Möglicherweise hielt es der Spanier mit der Ansicht, daß für Kapitäne dasselbe gelte wie für Götter: daß vornehme Zurückhaltung unter allen Umständen ihre Parole bleiben müsse. Wahrscheinlicher aber war, daß sich hinter dem Anschein einer im Schlaf versunkenen Befehlsgewalt einfach das Gefühl der eigenen geistigen Unzulänglichkeit verbarg – daß es sich also nicht um wohlüberlegte Taktik handelte, sondern um einen kümmerlichen Notbehelf. Mochte dem nun sein, wie ihm wollte, mochte Don Benitos Art bewußter Absicht entspringen oder nicht – für Kapitän Delano jedenfalls war es, je länger er den Spanier in seiner undurchdringlichen Reserviertheit beobachtete, immer weniger beunruhigend, daß sich diese Reserviertheit auch ihm gegenüber äußerte.

Auch wurden seine Gedanken beileibe nicht von dem fremden Kapitän allein in Anspruch genommen. Von seinem Robbenfänger her, wo die Leute wie eine große Familie friedlich beisammenlebten, war er an Ruhe und Ordnung gewöhnt, und immer wieder beleidigte es sein Auge, daß unter dem demoralisierten Haufen auf der San Dominick eine derartig geräuschvolle Verwilderung herrschte. Grobe Verstöße gegen die Disziplin nicht nur, sondern gegen den gewöhnlichsten Anstand waren zu beobachten. Kapitän Delano mußte es sich damit erklären, daß es auf dem Schiff ganz an jenen subalternen Deckoffizieren fehlte, denen auf einem stark besetzten Schiff außer anderen, höheren Pflichten das Polizeiwesen, wie man es nennen könnte, anvertraut ist. Die alten Wergzupfer übernahmen zwar, wie es schien, manchmal ihren Landsleuten, den Negern, gegenüber das Amt des Gewissenspolizisten und vermochten dann und wann kleinere Streitigkeiten von Mann zu Mann zu beschwichtigen; allgemeine Zucht und Ordnung heraufzuführen, gelang ihnen aber so gut wie gar nicht. Die San Dominick befand sich in der Lage eines transatlantischen Auswandererschiffs: auch da sind unter der vielköpfigen Menschenfracht zweifellos zahlreiche Einzelne, die so wenig Grund zur Beanstandung bieten, als wären sie wirklich nur Ballen und Kisten; sie richten aber mit all ihrem freundlichen Zureden bei ihren weniger zartbesaiteten Gefährten durchaus nicht das aus, was der Steuermann mit rücksichtslosem Arm bewirkt. Auf der San Dominick fehlte es an dem, was das Auswandererschiff allerdings aufzuweisen hat: an energischen höheren Offizieren. Auf ihren Decks war nicht einmal ein Vierter Steuermann zu erblicken.

Bei dem Besucher weckte es das Bedürfnis, die näheren Unglücksumstände zu erfahren, die den besagten Mangel an Offizieren und die damit zusammenhängenden Mißstände verursacht hatten. Das allgemeine Wehklagen, das ihn bei seinem Eintreffen begrüßt hatte, vermittelte ihm allerdings eine gewisse Vorstellung von der Unglücksfahrt, doch war ihm noch keine nähere Erklärung zuteil geworden. Am besten würde sicher der Kapitän Auskunft geben können; doch mochte sich der Besucher nicht gern an ihn wenden, weil er sich nicht eine hochmütig abweisende Antwort zuziehen wollte. Er faßte sich indessen ein Herz, trat auf Don Benito zu, versicherte ihn aufs neue seiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft und erklärte ihm anschließend, es werde sich vielleicht empfehlen, daß er, Kapitän Delano, in die Unglücksfahrt des Schiffs etwas näher eingeweiht werde, weil er dann vielleicht besser in der Lage sei, zu helfen und die Not zu lindern. Don Behrto möge ihm sein Vertrauen schenken und die Geschichte von A bis Z erzählen.

Der Angeredete begann eine Antwort zu stammeln, unterbrach sich dann, starrte den Besucher wie ein plötzlich wachgerufener Nachtwandler geistesabwesend an und schlug den Blick sogleich auf die Deckplanken nieder. In dieser Stellung verharrte er, und Kapitän Delano, angesteckt von seiner Unsicherheit, sah sich schließlich keinen anderen Ausweg, als gleichfalls alle Höflichkeit fahren zu lassen: er wandte sich kurzerhand von ihm ab und trat auf einen von den spanischen Matrosen zu, von dem er die gewünschte Auskunft zu erhalten hoffte. Kaum war er indessen fünf Schritt weit gegangen, als ihn Don Benito mit plötzlich erwachter Teilnahme zurückrief, für seine vorübergehende Geistesabwesenheit um Entschuldigung bat und sich bereit erklärte, seine Bitte zu erfüllen.

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