Uncountry

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Im Garten ein Schuppen. Und in diesem Schuppen schlief ich einst und wachte mehrmals auf des Nachts, und Kälte saß mir in den Füßen, den Hüften. Der Schuppen stand weitab vom Haus. Geschütztes Gerät. Harken, die ich im Herbst hielt und mich schund für all das Laub, das herunterkam und zum Hügel gerecht werden musste. Und in dem Schuppen Laubsäcke; die nasse Fäulnis beduftet die Dunkelheit. Der Schuppen birgt Gläser und Dosen mit sauren Schoten, Roten Beeten von unzähligen Sommern. Ich war hungrig, jedes Glas verschlossen. Ich ließ eins nach dem anderen fallen. Lief über die Scherben, näherte mich dem Boden mit dem Mund, tauchte Lippen und Zähne in Glas, in die versprengten roten Herzen.

Im Schuppen zu schlafen war so kalt wie auf dem Hügel am Holunder.

Immer kurz vorm Krankwerden. Immer kurz vorm Schnürsenkelkauen.

Im Schuppen war ein Mädchen, das mich zu verfolgen begann, nachdem ich die Gläser zerschlagen hatte. Die langen Zähne brachen ihr aus dem Mund, die düsteren Totenaugen, die Glasknochen klingeln.

Sie schoss herab wie ein Falke. Schrie raus, raus. Zog meine Füße am helllichten Tage über die Felder zum See. In den See.

Das Mädchen nuschelte wie die Bäuerin, die einmal die Woche Milch brachte. Bei so vielen fehlenden Zähnen. Das Mädchen mochte keine Milch, weil es wusste, dass die Bäuerin sie berührt hatte.

Ich dachte, wenn ich mich lange genug in Kuhlen, Kerben, Kammern kauerte, fiele es dem Mädchen schwerer, mich zu finden. Aber es tauchte am Esstisch auf, floss aus der Leitung und flutete Toiletten.

Das Mädchen auf Schritt und Tritt.

Falken des Nordens, stieß sie hervor. Ich hieß sie schweigen und querte die Klippen.

Die Tage waren gewaltige Körper, die sich zu Wäldern bogen.

Aus ihrer Kehle wuchs Gestrüpp und krabbelndes Getier. Ich wollte sagen, ich bin durstig, aber die Worte glitten zurück.

Das Mädchen lauerte, lungerte, tänzelte nachts, bis wir beide einschliefen im Lied des anderen. Sie zeigte mir kreisrunde Drachen. Draußen in den Rosenbeeten. In den Auen.

Komm zu den Auen.

Im Jahr, als der Garten überfallen wurde, tanzte das Mädchen um mein Vertrauen. Sie schwor im Flüsterton. Spielte Geige für mich. Wenn wir blieben, könnten wir einen Vater und eine Mutter, ein Land und ein Stück Himmel haben.

Wer zuerst spricht, würde seine Welt verlieren.

Und so nahm ich die Herzklappe und aß sie. Ich nahm das Schienbein und bläute es. Ich übte schwere Tage, kurze Tage, ungeduldige Tage. Als ich endlich krabbeln konnte, fragte ich meinen Gott, warum er mich elend gemacht.

Schütze das Herz wie eine Blockhütte vor Sturm. Puste hundert Mal. Laubblätter stieben in alle vier Winde. Senfgelbe Erde. Ich wusste, dass die Namen der Farben immer an den wahren Farben versagen würden.

Ich nannte sie Cold Ribbons. Sie nannte mich Lamenta.

Im Januar fuhren wir in die Berge. Mutter, Vater, ihre Freunde, deren Kinder. Wir fuhren zusammen Ski. Ich wusste nicht, wohin ich meine Hände legen sollte, wenn ich nicht Ski fuhr. Wir tranken heiße Schokolade. Cold Ribbons schrieb Postkarten. Die anderen Kinder spielten außer Sichtweite. Einmal traf ein Schneeball das Fenster, hinter dem ich saß. Ich schwitzte in meinem Schneeanzug. Ein Junge mochte ein Mädchen. Ich hatte eine schlechte Haltung und kurzes Haar. Nachts hielt Cold Ribbons meine Hand.

Jede Nacht pfiff sie und erzählte mir Geistergeschichten, die ich nie hören wollte.

Ich wollte Cold Ribbons den Fluss hinuntertreiben sehen und rufen hören: »Zieh deine Stiefel aus, Lamenta, und schwimm!«

Manchmal spielten wir zusammen; es gab keine anderen Kinder. Sie erfand Spiele, die Tage dauerten. Eines Morgens saß ich an einem Baum und sang vor mich hin. Cold Ribbons schwang sich von einem Ast herab und fing an, ein großes Marmeladenbrot zu essen. Als sie den letzten Bissen hinunterschluckte, fragte sie mich, ob ich Hunger hätte. Ich schüttelte heftig den Kopf. Sie lächelte und leckte sich die Finger.

Es gab einen Wind, der sich um mich kümmerte, mich an diese Orte brachte. Cold Ribbons musste man endlich loswerden.

Also schloss ich einen Pakt im Schuppen. Cold Ribbons zitterte in der tiefsten dunklen Ecke. Ich bellte in die Kälte hinein, schlug ein paar Gurken aus dem Regal. Draußen fuhr ein Auto vorbei; das war unwichtig, aber ich nahm es trotzdem wahr.

Immer waren wir auf der Suche nach Fisch, Zucker und kostbaren Steinen. Manchmal hatte ich Worte, manchmal hatte ich keine. Einmal gab es einen zeitlosen Schacht, ein Tal der heimatlosen Klagen. Wo soll man anfangen, wenn man die Geschichte nicht kennt?

Mimi las die Bücher rückwärts. »Fang mit dem Ende an«, befahl sie mir.

In jenem Herbst fand ich zuerst ein Taubenbein und später einen Flügel.

Luft zog mir um die Lenden. Ich ging dahin, wo ich nicht hingehen sollte. Die Laubblätter taumelten gen Himmel. Über unseren Köpfen braune Karussells.

Eines Nachts, das Haus lag im tiefsten Schlaf, weckte mich eine Hand, zerzauste mein Haar. Ich wusste, dass es Mimi war, bevor ich die Augen aufschlug.

Sie sagte, die Eiszapfen an den Bergwänden seien zu Engeln geworden.

Sie sagte, sie könne das Mädchen loswerden.

Mimi schrie: »Feuer!« Das Mädchen versteckte sich, und ich traute mich. Sie heulte, und die Wölfe hielten staunend inne. Ihre Pulsschläge trommelten durch die Bretterwand, die Gläser bebten.

Taktvoll sprach ich durch das dunkle Zepter, eine Blende des erlöschenden Blicks.

Das Mädchen umklammert die Harke. Sie bettelte; zu spät, zu spät. Ich hätschelte ihr Herz. Durch dünne Kleidung.

Fütterte Glas, fütterte Gestirne, fütterte Mimi mit Zukunft.

Die Liebesgeste war vorbei, Cold Ribbons und ich sahen uns nie wieder.

Kaum war das Mädchen weg, sagte Mimi, ich könne jetzt gehen, wohin ich wolle. »Da draußen vergeht die Freiheit über dem Atlantik und für den Atlantik«, sagte sie. »Du kennst das Leben erst, wenn du es aus seinem heimatlosen Körper getrieben hast.«

Es schneite. Im Garten streunten entlaufene Katzen. Es gab keinen Grund mehr, beim Schuppen, bei den Äckern und den Laubblättern zu bleiben.

Sie pflückte drei Feuer, durchbohrte die Ferne mit stoischem Blick und schrie: Ho Wüste, nun wirst du keine Namen mehr haben da draußen!


Bring die verwaisten Welten zu Atem.

Wir singen Asche Asche. Ash Ash.

GESCHICHTE DES ATEMS


Prolog

Die Lehmstadt liegt östlich vom Lehmgebirge. Die Arbeiter der Lehmstadt gewinnen dort den Lehm. Hanni baut lange Lehmgabeln und Schuppen für Lehmgabeln zum Schutz vor Schlamm. Er schlägt oft hin, mit dem Gesicht nach unten, und wird über den Tag zu einer lebenden Skulptur. Hanni ist schlecht gebaut, und die Lehmstadt ignoriert sein tönendes Manövern, seine Momente hysterischen Lachens, die endlosen Reihen von Gabeln in kollabierenden Gefügen am Lehmberg. Ein Laubsturm hat einen gelben Teppich über die Lehmstadt gelegt. Als die Laubblätter anwirbelten, hielt Hanni mit dem Selbstlauten inne und starrte – das erste Mal in seinem Leben – zur Krähenstunde in den kecken Himmel. Die Krähen gafften vom blauen Saum des munteren Himmels; schwarze Schallsprenkel, die sich zu Gebilden formierten, die Hanni Schwolken nannte. Mit seinen Lehmgabeln versuchte er, die Schwolken zu zerstieben, konnte sie aber nicht erreichen, fiel rückwärts in einen Graben. Schlief ein. Als Hanni erwachte, spürte er ein Klatsch Klatsch am Kopf; er konnt sich nicht erheben, konnt nichts sehen. Er schrie, aber es fielen nicht Selbstlaute aus dem Mund, er schluckte vielmehr eine Menge Schlamm. Es war finster, aber Hanni war in der Finsternis nie wach gewesen und wusste nicht, was das war, schrie also abermals. Mehr Schlamm quoll den Rachen herab. Hanni wollte schreien, aber der Schlamm in seinen Augen lag in trockenen Schichten, und so rollten die Tränen in seinem Kopf. »Hanni, gehst du heute zum Berg?« Hanni weiß nicht, warum er die Stimme seiner Mutter vernimmt. Hier ist sie nicht, unter all dem nassen Knarz. Er kennt diesen kalten Klump, weiß, wie er glitscht und härtet, unter den Fingernägeln bleibt und sie dunkelt. Er hört gedämpfte Stimmen, spürt dann ein Gewicht auf dem Gesicht. Der Knarz drückt ihm in Poren und Nasenlöcher. Er kann nicht atmen, schluckt noch mehr davon. Das Gewicht ist weg. Klatsch klatsch, vernimmt er von oben. Hanni sorgt sich um seine Lehmgabeln. Im Laubsturm war er zum Berg gelaufen; seine Gabeln müssen oft angefasst werden, sonst werden sie hart oder weggeblasen oder wieder zu Knarz. Hanni denkt nie, aber es scheint, dass das jetzt schon lange so geht, unmöglich, grt grt. Mehr Tritte, Hanni, hört, oh, Hahnemann, oh Diester, oh oh, Hanni krümmt sich, schluckt noch einen Mundvoll, den Rachen runter, er wimmert uuli uuli uuli. Das ist alles, was ihm bleibt, schlucken, was ihn bedeckt, sich zur Welt hinschlucken.

I. Abraham

Ein Mann zieht umher/ Ein Mann gehört nicht dazu/ Ein Mann ist staatenlos/ Ein Mann sucht Land/ Ein Mann spricht mit sich selbst/ Ein Mann kennt einen Gott/ Einem Mann wird verheißen/ Ein Mann braucht einen Erben/ Ein Mann verstößt seinen Sohn/ Ein Mann folgt einem Befehl/ Ein Mann steigt auf einen Berg/ Ein Mann opfert/ Ein Mann glaubt/ Ein Mann ist absurd/ Ein Mann wird ein Stamm/ Ein Mann ist der Anfang/ Ein Mann bringt einen Widder dar stattdessen/ Ein Mann wird berufen

 

Umherziehen

Sein Gesicht entwuchs einem Hals. Stummgewaschenes Feuer. Der Harz, das dichteste und höchste Gebirge im Norden Deutschlands, ein Herz, durch das man fährt von Ost nach West. Niemand schlug in diesen letzten Monaten eine andere Richtung ein. Seine Uniform, seine Stiefel im März 1945. Sein hageres Gesicht über Waldschneisen; nach dem Krieg würde er Jäger werden. Deutschland gleicht zu diesem Zeitpunkt einem Kessel, oder einem See, einem leeren Magen. Landkarten kollidieren, küssen Wangen und brennen dann an den Ohren.

Der Harz Ende März. Krokusse umstehen das Immergrün. Die Frontlinien verlaufen jetzt auf deutschem Boden. Kübelwagen, VW Typ 82, können auch langsame 4 km/h fahren, im Schritttempo marschierender Soldaten. Hitler rief zum Volkssturm auf, sein Vorbild der preußische Landsturm. Ein anhaltendes Tauen legt die Felder frei. Er soll sich in Neustadt seiner Einheit anschließen. Der Zweifel starrt ihn an, vermutlich in einer Scheune. Er stiehlt sich über Hügel hinweg in den Wald. Der Bauer wird ihm schon eine Jacke geben und einen Liter Milch. Er konzentriert sich ganz auf den unebenen Boden, die Sträucher, Wurzeln, Baumgerippe. Kein Tier fiept oder flötet. Der Winter, einer der strengsten Deutschlands in jenem Jahrzehnt, hatte alles verstummen oder verhungern lassen.

Auf einer Lichtung zieht er sich aus; die Orden pendeln, und kurz flackert Licht über seinen Strichmund, die Lippen dünn vom wochenlangen Schweigen. Ins Gras fallen Panzerjacke, Feldbluse, Stahlhelm und Lederhandschuhe. Das Kleinkaliber wirft er in den Rucksack. Ein schmaler Mond, schmal wie ein Eiszapfen, wandert zwischen spitzwinkligen Fichtenkronen. In diesen letzten Monaten des Krieges, oder in diesen letzten Monaten der Bedrohung, oder in diesen letzten Monaten der Wachsamkeit.

Er verscharrte seine Uniform oder er verbrannte seine Uniform. Er verbrennt seine Uniform im Wald und macht sich auf seinen langen Weg. Später würde er sich weigern, zu Fuß irgendwohin zu gehen, würde sagen, er sei genug marschiert, das reiche für ein ganzes Volk. Später würde er nicht viel sprechen über diese drei Wochen durchs Land. Fahnenfluechtig. Infanterist. Sturmgeschuetzfahrer. Er behält nur seine Stiefel.

In Harzungen trifft er eine Frau mit einem Koffer und fragt sie nach dem Weg gen Westen. Sie lässt den Koffer fallen und sagt: »Den kannst du tragen.« Sie hat eine Straßenkarte der Region, aber er sagt ihr, dass er Straßen meiden, stattdessen querfeldein laufen oder Chausseen nehmen wird. Später wird betont werden, dass ihre Beziehung nicht amourös war, nicht intim. Dass er über die nächsten paar Jahrzehnte ihren Namen vergessen würde. Zunächst aber war bekannt, dass er mit einer Frau namens Vera Hagel über Land zog.

Er trägt ihren Koffer. Sie sagen, sie hätten am sechsten Tag des Juni 1944 im Thueringer Wald geheiratet. Sie läuft ein paar Meter hinter ihm. Er weiß, dass er mit ihr an seiner Seite weniger verdächtig wirkt. Der Koffer ist schwer, bald wirft er ihn in einen Graben, ohne Blick zurück.

Eine Pfütze zittert an den Rändern. Moor und Heide. Dicker Morast und ein wortloses Geräusch der Sohlen, die versinken und sich heben. Sie brechen früh auf, mit dem Nebel. Zartdunstig drückt er sich am Boden entlang.

In den ersten Nächten schlafen sie in Fichtenwäldern, reich an Moosen, mit spärlichem Licht. Vera Hagel stellt nicht viele Fragen, und man wundert sich, dass sie einem Mann vertraute, dessen Mund oft mit dem Maul einer gähnenden Wildkatze verglichen wurde. Sie gehen mindestens 25 km am Tag durch das Bodetal. Vera Hagel beschließt, an Türen zu klopfen. Er hat Glück mit Fröschen und schafft es einmal fast, einen Schwarzstorch zu erlegen. Aber die Kugel trifft nur den großen gefingerten Flügel, und der im Tiefflug über die Ufer gleitende Storch stürzt ab, wird zügig vom Fluss fortgetragen.

Azur-Astern, Rotfichten, Torfmoose. Sonne flittert. Seen sterben. Geh. Beschreibe einen Gewitterguss. Grau kommt von einer zweiten Sonne. Es wird Regen geben, und Nordwestwind.

Kaum willens. Trost finden im Wasser. Das Wasser waescht die Magerkeiten. Irgendwie schafft er es, Briefmarken gegen Rüben einzutauschen. Denk an seinen Atem.

Gustav Mahler, Das Lied von der Erde. Deine höchste Angst und deine tiefste. Ein Hohlraum öffnet sich, und Fluten kehren ins Meer zurück. Du wirst auf ein Leben des Fremdseins blicken.

Er mochte es, still in einer Landschaft aus Kissen und Strömung zu liegen. Oder in Badewannen, mit einem Kriminalroman. Im Ehebett. Sich aus einer dunkleren Zeit ins Blumenmuster zu fliehen.

Sein Knie lässt ihn im Stich, als sie an die Helme kommen, Vera Hagel hat Fieberbläschen am Mund. Die Sonne ein Schmerz. Lebe mit gleißender Qual. Lebe mit ihrer Rückkehr. Die Helme ist ein Fluss, der die Zorge und die Thyra aufnimmt, an Nordhausen vorbeiführt, nahe dem damaligen Konzentrationslager Dora. Stromab wird die Helme durch die Talsperre Kelbra gestaut und fließt von dort südöstlich an Nikolausrieth vorbei, bis sich ihre Wasser in die Unstrut ergießen, einen Fluss, der das Weinbaugebiet Saale-Unstrut prägt. Heute ist es bekannt für den Rotkäppchensekt, hergestellt in den Kellern von Freyburg.

In einem Traum: seine Füße. Ein Zehennagel fehlt, ein anderer ist blau, dann dicke Adern über dem Berg, dann fort.

In Walkenried beschließen sie, die bergigere Südstraße zu nehmen, um Bad Sachsa zu umgehen, eine Hochburg der NSDAP-Führungskräfte. Die Kinder des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg sind hier im Borntal verwahrt, unter dem falschen Nachnamen Meister. Jahrzehnte später zog meine schwangere Mutter in eine Wohnung in der Stauffenbergstraße, im damaligen Westberlin. Die Wohnung befand sich im Bendlerblock, mit Blick auf jenen Innenhof, in dem Stauffenberg und drei weitere Hitlergegner kurz nach Anbruch des 21. Juli 1944 erschossen worden waren.

Es existiert. Vielleicht. Es existiere, sagtest du.

Die Südstraße führt nach Wieda hinauf, und sie müssen über 750 Meter klettern, bevor sie die Waldsiedlung erreichen. Kinder laufen ihnen hinterher auf den leeren Straßen; ein von zwei Pferden gezogener Wagen voller Soldaten fährt vorbei.

»Der erste tote Soldat, den ich sah, lag mit ausgestreckter Hand im Gras, das Gold des Eherings funkelte in der Sonne. Um seinen Mund herum Fliegen. Papiere wirbelten herum.«

Ein paar Briefwechsel im Januar und Februar. Er fragt nach Schnürsenkeln, bestätigt die Ankunft der Lebensmittelkarten, trauert um den Verlust eines Taschenmessers. Es besteht kein Zweifel: Er ging an eingestürzten Brücken vorbei, an Häusern ohne Dach, an Frauen, die den Bürgersteig fegten.

»Russische Soldaten öffneten Kondensmilchdosen mit ihren NR-40-Messern.«

Gewisse Dokumente sind nicht zu finden.

Sie erwachen von einem Geräusch, einem Knall wie aus einer Pistole, abgefeuert aus einem Aloe-Blütenstand, auf dessen Spitze eine prächtige Blume thront. Er schaut in die Blüte und sieht Ähren aus Gold, sieht die Geburt von Duft.

Oberharz. Unterharz.

Wir wollen ihnen ungemein gefallen, unseren unbekannten Toten.

Ich habe Angst vor ihm, so bezaubert er mich.

Drei Fakten: Viermal kam er raus aus dem Panzer, lebendig. Bakterielle Ruhr rettete ihn vor der russischen Front. Das ist viele Väter her.

Wer geht, wird wieder zum verlorenen Sohn. Ausziehen, versündigen, zurücklassen. Rückgewinnung des Abstands. Der Ankunft.

Marschland, Basalt, nistende Schwäne, Wäscheleinen. Millionen Deutsche werden im Januar 45 aus den Ostgebieten gen Westen getrieben. Jeder Treck ein Todesmarsch. Im Sommer vertreiben Tschechen die deutsche Minderheit aus dem Sudetenland nach Österreich, bekannt als der »Brünner Todesmarsch«. Noch später im Jahr ziehen viele Tausend zivile Flüchtlinge aus der russischen Besatzungszone fort.

Es scheint, als sei im Jahr 1945 eine der größten Fluchtbewegungen der europäischen Geschichte zu Fuß zu Tode gekommen.

Im Frühjahr Bomben, Spannung in geschlossenen Blüten, prall mit Spuren von Purpur. Fleckige Veilchen gehen auf; die kleinen »Stiefmütter« unter ihnen wirken immer giftig. Seine Lieblingsblumen, so stellt man sich vor und glaubt es dann, sind Felder von Margeriten.

Im Graben: Schlamm, himmelblaue Federn (oder etwas Himmelblaues), eine Langston-Hughes-Zeile (von all den möglichen Zeilen): »Can you love an eagle tame or wild?« In der Ferne ein Zittern, hartleibiges Lachen, das Geräusch von tieffliegenden Drohnen.

1944 begannen die Arbeiten an der Helmetalbahn, einer Bahnlinie zwischen Nordhausen und Walkenried. Von den Bauern war der nötige Grundbesitz beschlagnahmt worden. Für die Dammschüttungen und Rodungen erhielten die Häftlinge des Außenlagers Dora Schubkarren und Schaufeln.

Als sie Walkenried passieren, war das Projekt Helmetalbahn schon aufgegeben worden. Die meisten Häftlinge hatte man aus dem Lager Dora weg auf Todesmärsche geschickt.

Fachwerkhäuser brechen aus den sanften Hügeln hervor. Stundenlang sitzt er auf einem Stapel frisch geschlagener Hölzer; sein linkes Knie pocht heftiger als sein Herz. Ein trockener Husten hallt gegen den Bergrücken. Ein Augenblick Nichts. Was nun?

Der Brief ist in einem Umschlag verwahrt und dieser mehrfach gefaltet.

Noch Krieg hier

Warum ist er stark, wo nimmt er das her, was wird er damit machen?

Über dem nie entfachten Kamin sein Gesicht aus der Kriegszeit. Volle Uniform, Beine übereinandergeschlagen, Gesicht im Halbprofil vor einer Fensterfront. Auf dem Tisch neben ihm eine Pflanze, eine Untertasse und ein gebeugter Bronzeengel.

Der Monat April gähnt beim Erwachen. Frühjahrsmüdigkeit, so heißt es im Deutschen. Er überlebte im Frühjahr. Hatte Vera Hagel dunkles Haar?

Ein Mann in der Ecke. Rauch in der Ecke. Putzt eure Ecken.

Er sah fern, als es schließlich geschah, Sport und Filme mit Ava Gardner.

Was später als rapider Verfall seiner Gesundheit bezeichnet werden wird, war zunächst ein rascher Fortschritt im Überleben. Vera Hagel findet die Flusstemperaturen für die Morgenwäsche genau richtig, und er gibt ihr, was von seiner Kernseife übrig ist. Der Frauen am Fluss erinnert man sich lebhaft. Die Wasser um Berlin wurden zu Grabstätten während des Einmarschs. Hatte er sich seinen Bart wachsen lassen, um die Soldatensilhouette zu kaschieren?

Am 17. April trifft die 1ere Armée in Freudenstadt ein. Vera Hagel verschwindet zwischen zerbombten Gemäuern.

Er mochte Bitterschokolade und Dinge von dunkelblauer Farbe. Sein Frauengeschmack apart. Ich erinnere mich, dass sie hautfarbene Strumpfhosen über ihre geäderten Beine zog. An der Schlafzimmerwand eine Bleistiftskizze von seinem Gesicht als kleiner Junge.

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