Ich, Odysseus. Der Zerstörer Trojas.

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Was ich erlebt habe, reicht für mehrere Menschleben. Und doch möchte ich mein früheres Leben nicht missen. Es gehört zu mir wie ein Stück Haut. Wie mein Bogen und mein Schwert. Zum Ruhm gesellt sich aber als ständiger Begleiter immer der Neid. Man muss den Ruhm eines Helden somit nach dessen Taten messen, denen er sich bedient hat. Denn der Ruhm kann schnell verblassen, während die Vergessenheit ewig währt. Ich sehe für uns Griechen eine große Zukunft voraus, Errungenschaften, die vorbildhaft in die Geschichte eingehen. Und zwar nicht nur wegen noch zu gewinnender Schlachten, sondern wegen wissenschaftlicher und künstlerischer Ergebnisse, die griechischer Geist hervorbringen wird. Nennen wir es ruhig so: Ich sehe ein Goldenes Zeitalter auf uns zukommen, ich sehe blühende Landschaften, hohe Bildungsebenen für das Volk und erfolgreiche Handelsbeziehungen mit vielen Ländern Europas voraus. Das macht mir Freude und gibt mir neuen Mut.

Athene beschützt unser Haus

Die Göttin Pallas Athene, die mir und unserem Haus wohlgesonnen ist, möge mir verzeihen, dass ich mich durch meine Lebenserinnerungen und meine Gedanken vielleicht zu wichtig nehme. Es ist schließlich auch das Verdienst der Götter, dass wir so glücklich sind nach all dieser jahrelangen Tristesse. Athene verdanke ich, verdanken wir, dass wir noch so friedlich und wohlbehalten beisammen sind, nachdem, was geschehen ist, denn meine Heimkehr stand von Anfang an unter einem unglücklichen Stern. So beschützt sie eben nicht nur Athen, sondern auch Ithaka. Sie sprang einst in voller Rüstung aus dem Haupt des Zeus hervor, in Schönheit und Vollendung in die Runde der Götter des Olymps. Ihr Wohlwollen uns gegenüber hat uns die vergangenen Jahrzehnte überleben lassen. Ihr gebührt also Dank und Respekt. Mein Sohn, denke an meine Worte: Frauen bestimmen unser Leben, sie sind stärker als wir meinen, sie können Labsal und Horror in einer Person sein, denn ihre gefährlichen Waffen sind Schönheit und Eifersucht – mir ist durch Penelope, die mir Weib, Gefährtin und Freundin ist, das irdische Glück beschieden, im Olymp sind es sicher Hera, Athene, Leto, Aphrodite, Artemis, Demeter, Eos und andere, die sich ihr göttliches Dasein durch weibliche Intrigen erschweren. Und ein Weib ist auch Urheberin des großen Krieges gewesen: die schöne Spartanerin Helena. Ein Weib also Ursache für ein Furor an Leid, an Tod, an Verschwendung und Zerstörung?

Warum überlebte ich das Inferno, warum musste ich zehn Jahre als ein Verdammter mit unseren flachen, holzgeteerten Schiffen - die keinen Kiel hatten, aber bequem an jedem Stand landen konnten und über je 24 Ruderplätze verfügten - um das Mittelmeer und darüber hinaus irren, war das die Strafe für meine Vergehen? Wir alle hatten Schuld auf uns geladen, indem wir Troja, die blühende Metroplis, zerstörten. Keiner von den Helden kann sich freisprechen. Wir waren nicht nur Mitläufer eines Wahns, wir waren Akteure, aktive Brandstifter und Mörder.

Wir folgten dem Hilferuf des Menelaos

Ich erinnere mich an meine Rede vor meinen Soldaten, als wir uns entschlossen, an dem Feldzug gegen Troja teilzunehmen. Menelaos von Sparta hatte mehrere Versuche unternommen, die griechischen Herrscher davon zu überzeugen, seine Schmach zu rächen und gegen Troja in den Krieg zu ziehen. Es herrschte, das musst Du wissen, keine große Begeisterung, für eine Sache einzutreten, die nicht die unsere gewesen ist. Sein Bruder Agamemnon von Mykene und der Spartaner waren nicht sehr beliebt unter den Königen. Es gab einfach zu viele, unüberbrückbare Streitigkeiten seit Generationen.

Die zwölf Schiffe lagen - der kippbare Hauptmast festlich für die Ausfahrt geschmückt - im Hafen unserer Hauptstadt Vathy, meine Männer standen - schwer bewaffnet - auf der Kaimauer. Es war ein imposantes Bild, denn viele Inselbewohner - auch von der Nachbarinsel Kefalonia - gaben uns das Geleit. Sechs Fanfarenbläser hatten zuvor mein und Penelopes Erscheinen angekündigt. Ich selbst war bereits an Bord meines Schiffes, damit man mich gut sehen und hören konnte. Mein Blick streifte über die grünen Hügel zum Aetos und zu unserem Palast hinauf, dann über die breite Bucht, die wie ein See wirkte. Die grünen Hügel Ithakas leuchteten in der Frühlingssonne. Ich konnte die betörenden Düfte der wild wuchernden Vegetation und von Thymian, Lorbeer und Myrte wahrnehmen, die ein leichter Ostwind zu uns hinüber wehte. Das Meer leuchtete türkisfarben, in den einsamen sandigen Buchten sahen wir die Fischer ihre Netze richten. Ein paradiesisches Stück Erde. Es war ein sehr friedliches Bild, das den Abschied noch schwerer werden ließ. Manche Frauen weinten, sie winkten ihren Männern und Söhnen zu. In machen Gesichtern sah ich Angst und Kummer. Deine Mutter hatte Dich auf dem Arm, sie stand mit ihren Dienerinnen und einer Wache mitten unter den Bürgern. Stolz und stark und groß. Sie winkte mir zu, als ich begann:

„Männer von Ithaka,

ich spreche heute nicht nur als Euer König, sondern auch als Euer General. Das ist ein Unterschied. Tapferkeit kann man nicht befehlen. Sie kommt aus dem Herzen und dem Verstand. Mit zwölf Kriegs- und sechs weiteren Lastschiffen, mit 450 bestens ausgebildeten Soldaten und einhundert Handwerkern, Bauern und Dienern werden wir nun doch an dem großen Krieg gegen das stolze Troja teilnehmen. Ich gestehe, mir macht diese Reise keine Freude. Aber wir sind Griechen und haben uns verpflichtet, wie die anderen Königreiche ebenfalls, uns mit Schiffen und Soldaten zu beteiligen. Denn Meineid rächen wir! Ein Grieche bricht nie sein Wort. Also treffen wir uns in Aulis, der heiligen Hafenstadt der Artemis, wo der Griechen Flotte sich vereinen soll. Danach geht es weiter dicht unter den Küsten der Kykladen zu den Dardanellen, um das goldene Troja, das die Zufahrt zum Schwarzen Meer kontrolliert, zu erstürmen. Wir werden dort reiche Beute machen, Männer von Ithaka! Das verspreche ich Euch.

Troja ist eine sehr wohlhabende Stadt, die darauf wartet, von uns eingenommen zu werden. Die besten Helden Griechenlands werden dabei sein, wenn es heißt, Raub und Verrat zu bestrafen. Wenn wir Troja nicht bestrafen für Meineid und Missbrauch der Gastfreundschaft, dann haben wir keine Zukunft vor uns! Dann lacht die Welt über ein schwaches, feiges Griechenland. Über unsere Tapferkeit aber werden die Sänger noch in fernen Tagen berichten. Über Mut und Stolz und Kraft. Nur so werden wir kämpfen und siegen. Wir nehmen jetzt Abschied von unserer geliebten Heimat Ithaka und werden bald als Flotte vereint um das Kap Sounion durch die Inseln der Kykladen nach Kleinasien segeln. Unsere Familien lassen wir zurück in der Hoffnung, möglichst schnell in unsere Heimat zurückzukehren. Das schwöre ich!

Männer von Ithaka: Euer König ist sehr stolz auf Euch. Ich führe die besten Soldaten an, die Griechenland besitzt: Helden von Ithaka, auf nach Troja! Rudert tüchtig, kämpft tapfer, siegt und lebt. Die mächtige Athene möge uns beistehen!“

Die 540 Männer schlugen mit ihren Schwertern und Lanzen gegen die bronzenen Schilde und brüllten den martialischen Schlachtruf unserer Väter: „Alala, Ahoe, Alala, Ahou! O . . . Odys . . . seuuus!“ Es war ein eindrucksvolles Bild, als die Männer auf die Schiffe marschierten. Jeder mit seinen in der Sonne blinkenden Waffen und einen Korb mit Lebensmitteln für die ersten Tage. Dann legten wir mit halbem Wind ab. Drei zusätzliche große Lastkähne waren randvoll gepackt mit Proviant und Kleidungsstücken und Ersatzwaffen, darunter Pfeile, Bögen, Dolche, Lanzen. In einem der Kähne war auch mein prächtiger Streitwagen verstaut. Das alles war gut durchdacht, denn es dauerte lange, bis wir uns vor Troja selbst versorgen konnten: Bis die mitreisenden Fischer ihre Netze auswerfen, die Bauern ihre Herden hüten, die Bäcker ihr Brot backen konnten und die zentral angelieferten Pferde für uns ausgesucht und eingeritten waren. Eine große Armee frisst viel, es bedurfte daher weitreichender Anstrengungen und kluger Überlegungen, wie der Nachschub und die Herstellung von Speisen und Getränken reibungslos funktionierten. Wir mussten praktisch ein kleines Bauern-, Fischer- und Handwerkerdorf mit Ställen, Schmieden, Schlachträumen, Backöfen, mehreren Großküchen und Vorratskammern, aber auch ein Lazarett für die Verwundeten, errichten. Ebenso ein Bereich für unsere anbetungswürdigen Götter, kleine Tempelzelte, in denen wir beten konnten. So entstand ein wichtiger Bereich innerhalb unseres riesigen Heerlagers, das durch tiefe Ringgräben und Palisaden gesichert wurde. Denn die Trojaner waren wegen ihrer mutigen plötzlichen Attacken mit kleinen Reitertrupps bekannt, die uns in der ersten Zeit der Belagerung in Atem hielten und uns kaum Ruhe gönnten. Wir sollten auf diese Weise mürbe gemacht werden. Uns blieb nichts anderes übrig, als Wachen in Nähe der großen Tore zu postieren, die uns frühzeitig vor einem Ausfall warnten.

Es gehörte zu meinem Aufgabenbereich, mich um die reibungslose Versorgung der unterschiedlichen Truppenteile zu kümmern. Agamemnon und Menelaos vertrauten meinem Organisationstalent. So saß ich natürlich - was die Verpflegung betraf - an der Quelle. Doch war es nicht so problemlos, wie sich das jetzt anhört. Besonders die Zucht von Rindern, Schafen, Ziegen und Geflügel auf Dauer war nicht einfach. Es bedurfte zwei Jahre, bis sich zufriedene Ergebnisse bei der Zucht einstellten, zumal es immer wieder Probleme bei der Beschaffung von Tierfutter gab. Ich musste Trupps organisieren, die ständig unterwegs waren, um Futter zu besorgen. Das war nicht ungefährlich. Oft gab es Tote bei solchen Ausflügen, denn die Trojaner hatten schnell herausgefunden, wie ich unsere Versorgung organisierte. Sie störten unsere Abläufe, indem sie uns überfielen. Also mussten wir die Beschaffungstrupps bewachen lassen. Dies alles war eine zeitraubende, zermürbende Aufgabe für meine Männer. Die Arbeit dieser „Kriegs-Helden“ wird niemals gewürdigt, sondern nur die Siege der kämpfenden Heroen. Ich finde das höchst ungerecht, lieber Telemachos. Also frage ich Dich: Kann jemand ein erfolgreicher, gefeierter Held mit leerem Bauch sein? Ein großes Problem war der ausgehandelte Nachschub aus Griechenland: Die Warenschiffe blieben oft aus, von Piraten überfallen oder im Stürmen gekentert. Wir mussten uns, um sicher zu sein, selbst um unsere Verpflegung kümmern. Oft gelang es uns anfangs, umliegende Dörfer zu besetzen und dort Lebensmittel zu erbeuten, doch mit der Zeit war diese Versorgungsquelle zerstört. Trojas Bauern flüchteten entweder in die sichere Stadt oder wurden von dummen und wenig vorausschauenden Kriegern erschlagen, die blühenden Dörfer und Höfe angezündet. Da halfen auch keine Befehle.

 

Gefallsucht ist auch Helden nicht fremd

Odysseus macht eine längere Pause. Als er in den Thronsaal zurückkehrt, fragt Telemachos begeistert: „Ich lerne viel aus Deinen Worten, Vater. Dein Bericht sollte niedergeschrieben werden – von einem kundigen Sänger. Ich bin begeistert von dem, was ich durch Dich erfahre.“ Er habe sich, meinte er mehrfach, natürlich viele Gedanken über meine lange Abwesenheit gemacht und den Vater vermisst.

Bist Du da sicher? Ich frage mich, warum erzähle ich Dir jetzt mit einem Mal aus meinem Leben - ich, Odysseus, der von den lieblichen Musen geküsste Held, von vielen Menschen bewundert, von vielen ebenso beneidet? Ich denke, mein Ruhm macht mich eitel. Gefallsucht ist auch Helden nicht fremd! Ich hoffe, dass ich nicht in ein jugendliches Schwärmen über mich selbst gerate, was man vielen älteren Männern nachsagt. Männer, die ihre beginnenden Schwächen mit ihren fantasiebegabten Erzählungen verheimlichen wollen. Männer, die merken, dass sie mit ihrem Alter nicht mehr klarkommen. Männer, die früher strahlende Helden gewesen sind und nun bereits einige faule Zähne verloren haben und ihre Glatze unter einem prächtigen Hut verdecken. Denn wer glücklich ist, sollte nicht noch glücklicher sein! Mich plagen Zweifel: Soll ich tatsächlich alles berichten, was mir widerfuhr?

Eigentlich hatte ich mich auf ein heiteres Leben auf Ithaka eingerichtet, nach Krieg stand mir nicht der Sinn: Unser ländlich, eher schlichtes Leben auf unseren Inseln im Ionischen Meer. Ich liebe die Jagd, den Fischfang und die Pferdezucht. Und natürlich Deine Mutter Penelope und Dich, mein Sohn. Auf einen Rachefeldzug gegen Troja war ich, waren alle nicht wirklich vorbereitet. Das muss unbedingt deutlich werden, wenn wir über den Beginn des Krieges reden! Und Du musst wissen, wie Deine Mutter über ihre Kusine Helena dachte.

Die Nachricht über den Raub der Helena lief wie ein Lauffeuer durch die griechischen Königreiche und empörte die Herrscher. Deine Mutter war ebenfalls aufgebracht, obwohl sie kein gutes Verhältnis hatten. Helena, so sagte sie mir damals, sei freiwillig dem trojanischen Prinzen gefolgt - wohl auch, um aus den Händen des brutalen Menelaos befreit zu werden. Ihre neunjährige Tochter Hermione ließ Helena zurück, was für ihre egoistische Haltung sprach. Nach dem Krieg vergab Menelaos ihr die Untreue und führte sie zurück auf den Thron nach Sparta. Du selbst, mein Sohn, hast sie ja in Sparta während Deiner Suche nach mir, kennengelernt. Als Menelaos von der Entführung erfuhr, bat er mich und den klugen Palamedes, nach Troja zu segeln, um seine Frau zurückzufordern. Paris, der in ein Unwetter geraten war, war noch nicht zurückgekehrt. Wir reisten daher unverrichteter Dinge zurück. Nun erinnerte Menelaos alle Herrscher Griechenlands an ihren Treueid, sammelte mit seinem Bruder aus Mykene ein großes Heer und begab sich nach Troja. Er selbst führte insgesamt 80 Schiffe mit über 2500 Soldaten an.

Deine Mutter ließ kein gutes Haar an ihrer Kusine: „Sie ist eine Mischung aus Gut und Böse. Egoismus und Empathie, Liebe und Lüge, Mitgefühl und Misstrauen - Helena ist ein gutes Beispiel für die helle und dunkle Seite des Menschen, die auch uns Frauen nicht fremd ist. Wobei das Unanständige bei ihr überwog. Besonders ihre Rachsucht, die sie offen zugab, entwickelte sich bei ihr zu einem Lustgefühl. Menschen können eigentlich nur in der Gruppe überleben, doch sie war eine Egozentrikerin, die die Gutwilligen ausnutze und sich mit Jasagern und devoten Dienerinnen umgab. Helena war immer darauf bedacht, ihre eigene Rolle in Sparta zu erhöhen. Wir mochten uns als Kusinen nie, lieber Odysseus. Wir sind zu verschieden. Dennoch bedauere ich ihr Schicksal. Du hast sie in Sparta kennengelernt, als Du um meine Hand anhieltest. Helena war eine Intrigantin, die es verstand, am Hofe zu Sparta die Menschen gegeneinander aufzubringen, indem sie Gerüchte in die Welt setzte. Dich hielt sie für einen eingebildeten Inselfürst, Ithaka sei ohne Bedeutung innerhalb der griechischen Königreiche, verkündete sie in ihrer überheblichen Art. Sie hat Deine Qualitäten nie erkannt, Ich hatte den Eindruck, sie war eifersüchtig, als sie Dich kennenlernte. Ihre Eitelkeit machte sie hartherzig, doch ihre Schönheit überspielte ihre negativen Charaktereigenschaften. Sinnlichkeit spielt bei ihr eine große Rolle. Helena ist verführerisch und verführbar. Menelaos war ihren Reizen verfallen und verwöhnte sie dermaßen, dass er zum Gespött seiner Untertanen wurde, die ihn insgeheim verlachten. Wie sein Bruder Agamemnon war Menelaos ein wüster, hartherziger und untreuer Mann, der nur an seinen Vorteil dachte. Gold war für beide Brüder von großer Bedeutung: Sie trugen viel Goldschmuck und umgaben sich mit Gegenständen aller Art aus dem edlen Metall. Wir nannten sie deshalb „Goldesel“. Ich war daher sehr froh, als Du mich aus Sparta nach Ithaka brachtest: Als Deine Frau und Königin.“

Ein Pferd macht Karriere

Inzwischen gibt es wundersame Geschichten über den berühmten Mann und das riesige Holzpferd. Selbst Kinder spielen mit meinem Troja-Pferd, geschnitzt von stolzen Großvätern für ihre begeisterten Enkel. Das Pferd hat eine ungewöhnliche Karriere gemacht: Oft, so ist mein Eindruck, verblassen daneben die Taten der großen, unsterblichen Helden. Ein Pferd sorgte dafür, dass Troja fiel. Nicht durch Lanzen und Schwerter, durch Kriegskunst, Mut und Schlachtenstrategie - nein, durch ein hohlbauchiges, hölzernes Pferd wurde das stolze Troja vernichtet. Wer kann solche Mär glauben? Doch es ist die Wahrheit, denn das Pferd war meine Idee, lieber Telemachos.

Diejenigen, die davon erzählen, sagen auch, dass früher alles besser, dass die Welt ehrlicher und anständiger gewesen sei. Alter Männer Sprüche! Sie vergessen, dass im Laufe der Jahre sich die Realität verklärt, das Böse schwindet und nur noch das Gute übrigbleibt. Die Schrecken des Krieges verblassen vor der Gloriole der Helden. Verdrängt werden Blut und Hunger, Flöhe und Gestank, Schreie der Sterbenden und Trauer um den Verlust eines erschlagenen Freundes. Der Mütter Klagen um die verlorenen Söhne und Ehemänner will niemand hören! In unseren Mythen wird das Dasein der Menschen mit der Welt der Götter verknüpft. Wir glauben, wir seien wie sie, wie die Unsterblichen. Welch ein Irrtum!

Ja, früher! Ich kenne solche Erzählungen. Früher war die Welt noch in Ordnung! Früher? Lass es mich deutlich sagen, früher war nichts besser, mein Sohn. Das Gegenteil behaupten immer nur die, die nichts erlebt haben! Früher - das waren Krieg und Tod und Leid. Früher, das waren zehn Jahre Krieg in Troja. . . Und die alten Männer berichten mit funkelnden Augen wie träumende Kinder von ihrer Vergangenheit. Vieles von dem ist erdichtet und gelogen. Glaube ihnen nicht. Wer gibt schon gerne seine Schwächen, sein Leid, seine Angst und seine Fehler zu?

Du musst schnell leben, mein Sohn, denn der Tod kann früh kommen. Ich lebe nicht in der Vergangenheit wie so viele berühmte Männer. Ich möchte im Moment leben, verstehst Du das? Im Hier und im Jetzt. Die Helden träumen sich hinweg in alte Zeiten und verpassen dadurch das einzig Wichtige - den Augenblick. Denn was geschehen ist, ist geschehen - wir sollten also nach vorne blicken. Wir alle müssen die Vergangenheit akzeptieren, lieber Telemachos. Mich daher für meine Vergangenheit zu verurteilen, ist sinnlos, denn sie ist nicht mehr rückgängig zu machen. Ich kann nur versuchen, die Zukunft besser zu gestalten. Die Zukunft in einem neuen Europa - durch Hellenismus geprägt. Diese Chance müsst ihr mir geben. Mehr nicht. . . Vielleicht wird meine Erzählung auch eine Art Nachlass. Könige sorgen sich um ihren Ruf und ihre Nachfolge. Das Volk möchte wissen, wohin die Reise geht. Dafür dankt es dem König mit treuer Gefolgschaft. Denn klar ist auch: Ich habe mein Versprechen nicht gehalten und meine 500 Männer zurück nach Ithaka bringen können. Niemand - außer mir - hat Krieg und Irrfahrt überlebt! Das wird die Nachwelt mir übelnehmen. . . auch wenn ich die Familien der Toten inzwischen großzügig unterstützt habe.

Athene schenkte mir mein Leben zurück und meine Rückkehr zu meiner Familie. Diese Jahre sind meine Lebensmarken. Über sie berichten die reisenden Sänger in ihren Heldenliedern. Mich interessiert jedoch ein Thema besonders: Was ist das Leben? Wie konnte ich überleben und wie leben wir in den kommenden einhundert Jahren? Was wird aus meinem Königreich? Die Orakel verkünden bereits einen großen Krieg gegen Persien und den Aufstieg Roms zu einem neuen Großreich. Die Priester sollen, so hörte ich, von den Persern und den Römern bestochen worden sein, um Zwietracht und Hass zu säen unter uns Griechen. Wer kümmert sich also um die Sache Griechenlands? Wer wird der neue Herrscher Griechenlands, der die Perser besiegt und Rom in die Schranken verweist? Der neue Held muss eine Mischung aus Erlöser, General, Tyrann und Philosoph sein. Das sind die vier Säulen des Erfolgs, mein Sohn: Erlöser, weil er die Welt nach dem Krieg gestalten und wieder aufbauen muss. General, weil er seine Soldaten begeistern muss. Tyrann, weil nur mit Respekt und Disziplin sich der Erfolg einstellt. Philosoph, weil er die vielen Fragen nach dem Sinn des Lebens beantworten muss, die ihm gestellt werden. Jemand, der all diese Eigenschaften in sich vereint, der wird es schaffen. Wer nicht, nicht! Und er muss einen Blick entwickeln für das Miteinander von Menschen und Göttern!

Der Mensch lebt gerne in seinen vertrauten Verhältnissen, er übertreibt gerne, er möchte mehr sein, mehr besitzen, mehr Anerkennung und mehr Macht. Auch im Kleinen. Nicht nur der Herrscher denkt so, auch der Bäcker, der Winzer, der Schumacher und der Metzger. Helden, auch diese Alltagshelden, buhlen geradezu um Anerkennung, indem sie ihre Ruhmessucht auf die Spitze treiben. Prahlhänse und Narzissten werden sie gerufen. Wer viel Ruhm besitzt, der sonnt sich gerne im Licht seiner Bewunderer. Er glaubt, ein Funken der Göttlichkeit habe auch ihn berührt. Das kann böse enden! Alle großen Helden spüren irgendwann diese Hybris. Meine Gegenwart ist alles, was ich noch habe. Sie möchte ich ausleben, gestalten und genießen - mit Euch! Meine eigene Zukunft möchte ich nicht wissen, das Heute ist meine Welt, deshalb habe ich die Vergangenheit bisher gemieden. Tyche schweigt mir gegenüber, so oft ich sie auch bat, mir meine Zukunft zu beschreiben. Ich möchte es nun nicht mehr wissen! Ich lebe, also bin ich. . .

Lieber Telemachos, eine Bitte habe ich: Wir wollen den ungeheuerlichen Vorfall, der vor Monaten mein Inselreich und unsere Familie erschütterte, nicht erwähnen. Ich hoffe, wir können es irgendwie geheim halten, denn nur eine Handvoll, uns treu ergebe Freunde des Hauses, wissen davon, was wirklich geschah. Es war ein Mordversuch, den Du verhindert hast. Die Person des Mörders muss unser Geheimnis bleiben. Das Attentat auf mich und die glückliche Fügung, indem Du eine wichtige Rolle spieltest, passt nicht in meine, in unsere neue Welt. Lass uns das schreckliche Ereignis ausklammern, solange es geht. Irgendein Philosoph sagte: „Niemand ist vor dem Tode glücklich zu preisen!“ Das sehe ich anders. Ich habe dem Tod ins Gesicht gesehen, sicher Hundert Mal. Was ich sah, ließ mich für das Leben kämpfen, für das Überleben.

Ich genieße das Heute

Weißt Du, dass ich im Grunde gar keine Lust verspüre, in die Vergangenheit zurückzukehren. Das Gestern ist bereits Geschichte. Vergangenes erneut zu beleuchten, ist etwas für Historiker und Philosophen. Beides bin ich nicht. Ich genieße das Heute mit Deiner Mutter und mit Dir. Vor allem: Ich lebe, ich fühle, ich bin zufrieden. Vom Mythos Troja halte ich wenig – das überlasse ich den fantasiebegabten Dichtern! Sie erfinden zu allen Zeiten Geschichten, die nicht der Wahrheit entsprechen. Das ist das Schlimme an den Autoren: Sie halten sich für unwiderstehlich, wissen alles besser als die Akteure. Sie verbreiten eine ihnen genehme, eine gefühlte Wahrheit, die nicht stimmt. Sie denken sich Geschichten über Helden und Heldenverehrung aus. Sie stellen uns in ein strahlendes Licht, als wären wir Halbgötter. Dabei waren wir leidvoll geplagte Soldaten, die wie unter einem Zwang, einem göttlichen Befehl standen und die Strapazen als etwas Kühnes, ja, Herausragendes empfanden.

 

Agamemnon war eines Tages nicht mehr unser Führer, wir spürten, dass die Götter uns manipulierten. Wir kamen als siegessichere Herrenmenschen, als wir an der Meerenge der Dardanellen landeten, um den strategisch wichtigen Hügel am Hellespont, der Einfahrt zum Marmarameer und der bedeutenden Grenzstadt zwischen Europa und Asien - und damit letztendlich zum Schwarzen Meer - zu stürmen. Was sind das nur für Männer, die so etwas unternehmen? Männer, die nicht fragen, was ihnen widerfährt, die ihre Waffen rüsten, die lossegeln und landen - dort, wo es von diesem Zeitpunkt an sehr gefährlich wird. Männer, die das Ende nicht wissen und nicht wissen wollen. Die einfach marschieren, kämpfen, siegen und sterben. Was treibt sie an, in einen Krieg zu ziehen, der nicht ihr Krieg ist? Diese Fragen werden wir wohl nie beantwortet bekommen, denn diese Soldaten gibt es in jedem Krieg. Treu, mutig, voller Hoffnung auf einen raschen Sieg. Niemand kann Dir das genau erklären, mein Sohn. Wenn Du solche Männer triffst, achte sie, mache sie zu Deinen Freunden. Sie sind echte Kerle, denen die Freiheit alles bedeutet, auch wenn sie ihre Abenteuerlust mit dem Leben bezahlen müssen. Solche Helden und Patrioten wird es immer wieder geben, in jeder neuen Generation und in jedem neuen Krieg. Aber zehn Jahre lang?

So oder so ähnlich - mit diesen Worten machte man uns die zehn langen Jahre schmackhaft. Ich frage Dich, Telemachos, wer möchte zehn Jahre lang freiwillig an der Front sein? Vielleicht Banditen und Verzweifelte, aber kein wahrer Krieger. Wir alle wollten den Feldzug schnell beenden und wohlbehalten nach Haus zurückkehren. Das verhieß uns Agamemnon. Mich erstaunt heute, wie ein so lang andauernder Krieg, wie die vielen Toten und Verletzten, die Trauer, die Strapazen und das Leid auf diese Weise verherrlicht werden können? Die Schilderungen können wie eine Droge wirken, falsches Heldentum produzieren, Gefühle vertuschen und den Verstand ausschalten.

Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen, er vergisst die Not und den Schrecken, weil er sich nach dem Schönen sehnt, weil er das Schlimme verheimlichen möchte und es einfach verdrängt. Ist das richtig, frage ich Dich? Ich sage: vielleicht. Ich glaube vielmehr, was die Philosophen sagen: Wenn die Guten nicht kämpfen, siegen die Schlechten und solange es Vaterländer gibt, wird es Kriege, Gier und Lust am Töten geben! Doch ich frage Dich auch: Werden unsere Taten die Zeiten überdauern? Werden Fremde unsere Namen hören, lange nachdem wir tot sind und sich fragen, wer wir waren? Wie tapfer wir kämpften und starben, wie leidenschaftlich wir liebten? Kein Lebewesen ist so eitel wie der Mensch! Ich werde daher versuchen, meine Eitelkeit zu unterdrücken. Ob es mir gelingt, meinen Geist über das Sinnliche zu erheben, weiß ich nicht. In meinem bisherigen abenteuerlichen Leben standen nicht Frieden, Harmonie und Schönheit im Zentrum meines Interesses. Im Kampf zwischen Apollon und Dionysos gewann die Rauschhaftigkeit Oberhand gegenüber der Ordnung und der Harmonie. Ich bin in diesen Jahren ein Abenteurer, ein Draufgänger und ein das bunte Leben genießender Krieger gewesen, der neben seiner Leidenschaft und Vitalität immer auch die Klugheit einsetzte. Das war für mich nie ein Widerspruch. Vielleicht halfen mir beide Eigenschaften, um zu überleben. . . denn ich glaube, dass es für mich besser gewesen ist, Menschen zu studieren als Bücher.

Als wir vor Troja lagen und unseren Frust besiegten, hörte ich von einem lykischen Gefangenen folgende kleine Episode: Ein Mann wollte von einem Weisen lernen, wie man Drachen tötet. Als er schließlich das Handwerk des Drachentötens beherrschte, musste er feststellen, dass es in unserer Welt keine Drachen mehr gab. Ich muss heute feststellen, dass es keine Helden mehr gibt in Griechenland.

Was ich Dir berichte, ist also auch ein Versuch, das Heldentum zu retten und die Heldenverehrung. Es muss ja nicht immer ein weiterer Krieg begonnen werden, um neue Helden zu gebären. Die Frage ist, ob es künftig Menschen gibt, die ihrer Überzeugung wegen bereit sind, ihr Leben für eine gute Sache zu opfern. Denn wahre Helden folgen nicht Befehlen, sondern ihrem Verstand und ihrem Mut. Sie suchen das Abenteuer! So wird die Schilderung des trojanischen Krieges aus meiner Sicht entstehen, den Geist des Odysseus atmen. Wer, außer mir, wagt sich an dieses Thema? Mir, Odysseus, dem Zerstörer Trojas, kommt es zu, die Wahrheit zu erzählen. Also werde ich Dir nur Fragmente berichten, die ich für wichtig halte. Und auch diese nicht chronologisch, sondern spontan und wild durcheinander.

Gastmahl in meinem Zelt

In der letzten Nacht hatte ich einen Traum: Ich sah mich in meinem großen Zelt vor Troja, dem Ort, an dem ich zehn Jahre lang mit den anderen Helden versucht hatte, die stolze Festung zu stürmen. Vergeblich und unter vielen Opfern. Es war einer dieser friedlichen Abende, als die Dämmerung nahte und sich der Himmel goldgelb in seiner schönsten Pracht entfaltete - als würden die Götter uns von Westen her anlächeln. In solchen Momenten vergaßen wir, dass wir uns im Krieg befanden. Ich sah die Helden, auch die bereits erschlagenen, an meinem Tisch sitzen. Plaudernd. Trinkend. Laut durcheinander diskutierend. Ich genoss den Anblick der Unsterblichen. Bis Achilles plötzlich das Wort ergriff, sich erhob, seinen Becher in einem Zug leerte und eine Ansprache hielt, was er oft tat, denn er hörte sich gerne reden:

„Freunde“, so begann er, „Freunde: Wir kämpfen nun im zehnten Jahr hier an diesem uns mittlerweile gut vertrauten, vom Blut der Griechen getränkten Strand. Ich betone: Zehn Jahre! Die Fremde ist uns Heimat und Grab geworden. Troja ist, wie wir bitter erfahren müssen, eine der sichersten Festungen und offenbar uneinnehmbar. Ich frage Euch deshalb: Sind wir immer noch wir selbst? Mächtige und bewunderte Könige, Fürsten, Helden? Oder sind wir nur verführte, dumme Männer, die aus Eitelkeit einem Wahnsinnigen auf den Leim gegangen sind? Welcher Soldat tut so etwas freiwillig? Ich frage Euch: Was ist mit uns geschehen, denn einen solch langen, verlustreichern und teuren Krieg hat es bisher nicht gegeben. Nein: Wir sind keine stolzen Patrioten mehr, das waren wir vielleicht zu Beginn des Krieges, wir sind inzwischen Idioten. Troja lacht über unsere vergeblichen Versuche, die Mauern zu stürmen. Die Menschen sagen bereits: Die Götter haben die Griechen verlassen und beschützen Troja. Es muss etwas geschehen, Freunde, wir müssen diesen Unsinn beenden und die Blamage abwenden. Auch die einst schöne Helena ist zehn Jahre älter geworden. Ihr Reiz ist sicher verblasst. Was, wenn Paris sie längst verstoßen hat? Wir wissen es nicht. Wir glaubten in unserer Überheblichkeit, wir könnten die Trojaner aushungern, nun sind wir es, die Hunger leiden, denn wir haben die Gegenden um Troja verwüstet, haben die reichen Dörfer geschleift, die Bauern sind geflüchtet, es gibt für uns nichts mehr zu holen. Die Trojaner müssen über riesige Vorräte verfügen, über Brunnen und Herden oder sie bekommen über dunkle Kanäle Nachschub. Wir wissen es nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie Hunger leiden. Die vielen Toten, die beide Seiten zu beklagen haben, mahnen uns zur baldigen Rückkehr. Wir müssen das hier endlich beenden. Inzwischen sind wir zum Gespött der anderen Reiche geworden. Unser Ansehen selbst in unserer Heimat ist gesunken. Man nennt uns inzwischen „die von allen Göttern verlassenen Griechen“. Der Ruhm, den wir erhofften, verblasst. Ich sage daher: Es muss etwas geschehen, um diesen Ort der Schande endlich erhobenen Hauptes verlassen zu können. Wir laufen einem Wahn hinterher und einem Wahnsinnigen, der glaubt, wir könnten Troja immer noch besiegen. Selbst wir können es nicht, weil die Götter Troja beschützen.“

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