Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?

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Sehr deutlich macht Elena Elisowas Beitrag die intergenerationale Spaltung der russischen Gesellschaft hinsichtlich des Weltbildes und der Moral. Der Beitrag von Elisowa richtet sein Augenmerk auf die Wertorientierungen der russischen Jugend heute, auf ihre Entstehungsbedingungen vor dem Hintergrund des Zerfalls der Sowjetunion und der Anomie der Gesellschaft wie auch als Folge der 1991 neu eröffneten Möglichkeiten in der transformativen Gesellschaft. Die neue Freiheit bot zum einen ungewohnte Möglichkeiten, sich selbst für das zu engagieren, was den Jugendlichen interessant und wertvoll erschien, sie brachte aber auch Anomie, Perspektivlosigkeit, den Verlust von Lebenssinn und den Zerfall einer Vision für die russische Gesellschaft hervor und nicht zuletzt auch die berufliche Überlastung der Eltern beförderte unter Jugendlichen die Verbreitung von Drogenkonsum, Kriminalität und moralischer Indifferenz. Das Schwinden der nationalen Wertschätzung der Bildungsgüter hatte auch zur Folge, dass die Bildungsmotivation der Jugendlichen sich verringerte, ihr Sprachvermögen und ihre Ausdrucksfähigkeit geschwächt und überhaupt die Verbindlichkeit kultureller Normen geschmälert wurde. Diese Phänomene können gedeutet werden als ein Verlust an kultureller, gesellschaftlicher und moralischer Kompetenz, dem, wie Elisowa es nennt, eine „Pragmatisierung der Lebenswerte“ (процесс прагматизации жизненных ценностей) gegenübersteht. Sie drückt sich aus im Erstarken materieller Werte, insbesondere im Gewinnstreben, im Wohlstand und Konsum, in der Sicherheit der eigenen Familie und der Gesundheit. Diese Werte bilden sich auch in den Einstellungen ab, die die junge Generation den verschiedenen Berufen gegenüber zeigen; die Berufe des Business-Bereiches (Unternehmertum, Managment, Unternehmensberatung, Handel, Marketing, Werbung, PR und Bankenwesen) rangieren hier an oberster Stelle in der Wertschätzung. Andererseits engagieren sich nicht wenige Jugendliche auch ehrenamtlich in der Unterstützung sozial schwacher Gruppen und streben sichtlich danach, durch ein moralisch wertvolles Handeln ihrem Leben einen Sinn zu verleihen, den sie im Wertevakuum des Zynismus der 90erjahre nicht finden konnten. Elena Elisowa berichtet von einer soziologischen Studie mit dem Titel «Das Labor von Kryschtanovskaja» 2012-2013 und von Untersuchungen des Zentrums von Sulakschin 2015-2016, die zum einen das Fehlen einer sozialen Verortung der Jugend hinsichtlich ihrer Identität aufzeigen, in dem sich der Mangel an gesellschaftlichen Visionen und an der Entwicklung eines neuen postsowjetischen Weltbildes durch Politik, Wissenschaft und Medien in Russland widerspiegelt, zum anderen die gravierende Differenz zwischen Wertbegriffen der Jugend und jenen ihrer Eltern und Großeltern von immateriellen zu materiellen Werten hin, vom kulturellen Wissen hin zum technischen Wissen, von der Liebe zur Heimat hin zum egozentrischen Vorteilsdenken, in welches zwar noch die Familie, nicht mehr aber die eigene Gesellschaft einbezogen wird. Daher erreichen auch die nationalistischen Propagandabemühungen der Politik letztlich nicht mehr das Selbstbild der russischen Jugendlichen, auch wenn sie bei offiziellen Gelegenheiten dem Scheine nach noch nationalen Konformismus demonstrieren. Ihr Blick auf die politische Vergangenheit und auf den erlebten Legitimationsschwund von Staat und Politik überwindet zuweilen auch den Zynismus und etablierten Pragmatismus ihrer Eltern und ruft Werte der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit, der Chancengleichheit und des kulturellen Dialogs auf den Plan, die den Werten des westlichen Demokratiedenkens doch sehr ähnlich geworden sind.

Nomeda Sindaravičienė befasst sich in ihrem Artikel mit den Unterschieden zwischen den Generationen hinsichtlich der Wertorientierung und der Identifikationen mit der Sowjetzeit. Mit Beginn der Transformation existierten in Litauen (und wohl nicht nur dort) drei verschiedene Orientierungen nebeneinander, ein sowjetische, eine national und eine westlich ausgerichtete. Diese Orientierungen korrespondierten in gewissem Umfang mit den Generationen; quer zu den Generationen spielte aber das persönliche Schicksal und die eigene Rolle im sowjetischen System eine mindestens ebenso maßgebliche Rolle. Sindaravičienė unterscheidet zwischen der „alten Generation“ der noch vor dem Ende des zweiten Weltkrieges Geborenen, die zwischen ihren vorigen, oft westlich oder religiös geprägten Wertvorstellungen und den sozialistischen Werten einen Konflikt erlebte, der „jüngeren Generation“, die während des Krieges und bald danach geboren wurde und entweder im Aufbau der Sowjetgesellschaft wesentlich engagiert und ideologisch von ihr geprägt waren oder auch alles verloren hatten, sich immer bedroht fühlten und unaufällig bleiben mussten, der „verlorenen Generation“, die nach den Sechzigerjahren geborgen wurde, die große Rezession erlebte und mit ihr den Glauben an den sozialistischen Lebenssinn und die bisherigen Wertorientierungen verlor, und die heutige „unabhängige Generation“ der nach den Neunzigerjahren Geborenen, die im Wertevakuum der verlorenen Generation aufgewachsen ist und, ausgestattet mir mehr Freiheit als irgendeine Generation vor ihnen, eher verlegen vor der Aufgabe steht, sich neu zu orientieren. So bilden sich neue Typen von Orientierungen heraus mit neuen Prioritäten in Hinsicht auf Bildungsideale, soziales Engagement, Prestiges und sozialen Status und andere materialistische Werte. Auch eine Rückbesinnung auf vorsowjetische Traditionen, Religiosität, Familienkultur und nationale Größen auf der einen Seite und westliche politische, soziale, ökologische und demokratische Werte, Individualismus und eine ausgeprägte Konsumhaltung auf der anderen Seite kennzeichnen die neuen Orientierungen der jungen Generation.

Mit der Entwicklung einer staatsbürgerlichen Identität und ihren Rahmenbedingungen im nachrevolutionären Armenien befasst sich Sona Manusyan. Sie erläutert zunächst vor dem Hintergrund der Historie des Landes den Dominanzanspruch der ethnisch ausgerichteten Selbstwahrnehmung innerhalb der nationalen Identität der Armenier, dem gegenüber das staatsbürgerliche Fundament vergleichsweise schwach ausgeprägt ist. Ob die ethnische Identifikation ein Garant für sozialen Zusammenhalt ist, wenn ein staatsbürgerliches Selbstverständlich kaum ausgeprägt ist, erscheint jedoch fraglich, zumal wenn zwischen den Generationen und sozialen Schichten doch erhebliche Differenzen hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen und Lebensziele zu finden sind, die nun durch die Revolution noch verstärkt worden sind. Es war diese Erfahrung einer erfolgreichen Revolution gegen das alte, von Korruption, Vetternwirtschaft und Bürgerferne gekennzeichnete Regime, die nicht nur den Menschen, die die Revolution getragen haben, ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein vermittelt hat, sondern allen Bürger*innen gezeigt hat, dass sie Regierungen selbst bestimmen und den Staat mitgestalten können. Dennoch müssen viele Dimensionen einen staatsbürgerlichen Selbstverständnisses, die in der armenischen Vergangenheit nie entstehen konnten, erst noch aus der Taufe gehoben werden – ein neues Verständnis bürgerlicher Verantwortung, von Solidarität und Teilhabe – und ein neues, von wechselseitigem Vertrauen getragenes Verhältnis zwischen Staat und Bürger*innen muss sich mit der Zeit etablieren.

Manusyan untersucht die konkurrierenden Selbstverständnisse verschiedener Gruppen entlang von sieben Gegensatzdimensionen, nämlich den Spannungsverhältnissen zwischen dem ethnischen und dem bürgerlichen Selbstverständnis, dem Traditionellen vs. Progressiven, dem Persönlichen vs. Öffentlichen, dem Institutionellen vs. dem Agenten, der Vergangenheit vs. der Zukunft, dem Diskurs vs. der Praxis und dem Selbstverständlichen vs. der Selbstreflexiven. Zum einen Seite führt die ethnische Fundierung des Nationalen immer wieder dazu, dass die Normen der nationalen Identität mit Intoleranz und hohem Konformitätsdruck verteidigt werden, auf der anderen Seite scheint das bürgerliche Selbstbewusstsein noch zu wenig ausgeprägt, um den nationalistischen Vereinfachungen die Ansprüche einer freiheitlichen, demokratischen und pluralen Solidarität entgegenzusetzen. Auch zwischen den Polen des Konservativen und des Progressiven wandeln – mit starken genera-tionellen Bindungen – die Identitätsentwürfe der Bürger*innen, eingespannt zwischen dem Wunsch nach einer freieren Lebensführung und einer diese einschränkenden traditionellen Familienorientierung. Solche Widersprüche spiegeln sich auch in der Doppelmoral zwischen der nach außen gezeigten und privatim tatsächlich gelebten Praxis. Das ehemals durch Tradition wie auch durch die sowjetische Gesellschaftsmoral kontrollierte Individuum hat sich seit geraumer Zeit als trotzigen Widersacher gegenüber der Gesellschaft entworfen, der der gesellschaftlichen Realität, insbesondere den Institutionen mit sozialem Zynismus entgegentritt und jenseits dieser Realität sein Glück sucht. Es rächt sich heute durch einen rücksichtlosen Egoismus, blinden Konsumismus und uneingeschränkten sozialen Wettbewerb, dem offenbar jegliche Wahrnehmung öffentlicher Interessen fremd ist. Dieser Entwicklung kann, wenn die Druckmittel der Tradition und des Kollektivismus nicht mehr ausreichen, nur ein bürgerliches Bewusstsein entgegenwirken, das die Individuen nicht nur als Träger von Freiheitsrechten, sondern auch von Pflichten und Rücksichten sieht und hierauf eine neue Solidarität gründet. Ihm steht der Staat als Garant der Rechte, aber auch als Forderer der Rücksichten gegenüber.

Edina Vejo und Elma Begagić beleuchten die Situation der postsozialistischen Länder des Balkans nach dem Zerfall Yugoslawiens am Beispiel der Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina. Wie in den anderen Staaten auch war die Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Menschen und ihrer Gesellschaft vor allem geprägt von Tendenzen der Kontrastierung zur sozialistischen Vergangenheit. Auch hier boten die vorsozialistischen Traditionen, das ethnisch profilierte Kulturverständnis und nicht zuletzt auch die Religionen die naheliegendsten Ansätze zur Gewinnung eines neuen Identitätsrahmens, der genug Eigenes versprach, um sich von den zahlreichen anderen Balkangesellschaften zu unterscheiden. Die Identifizierung einer nationalen Identität mit diesen Bezugsgrößen erhöhte einerseits den Druck auf die Gesellschaft, maximale Homogenität herzustellen – was vor allem auf die Verteilung der Religionsgemeinschaften zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina eine hoch selektive Dynamik hervorbrachte –, sie konnte allerdings in Bosnien-Herzegowina andererseits keine Einheitlichkeit hervorbringen, da die Gesellschaft zwischen westlicher Modernisierung und einer zunehmenden Islamisierung hin- und hergerissen ist. Ein Versuch, zwischen beiden Tendenzen eine Brücke zu schlagen, bildet das Bemühen um einen zwar traditonell begründeten, aber historisch angepassten Islam. Dieses Bemühen soll – so die „moderne” Auffassung – als dialogischer Prozess, insbesondere mit der Jugend, seine Erfüllung finden.

 

In diesen verschiedenen Bestrebungen besteht zurzeit in jedem Falle ein Primat des Kollektivismus, sei er auf der Seite der Religion oder auf der Seite der westlichen Modernisierung. Wie schon einmal zur Zeit des jugoslavischen Sozialismus wird der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft in den laufenden Diskursen zur nationalen Identität eine „uniforme Kollektivität” aufgedrängt – Vejo und Begagić sprechen gar von der „Erstickung von Individualität” –, die der Entwicklung verantwortungsvoller Identität und Religiosität keinen Raum lässt. Vor allem die Suche nach einer nationalen Identität verhindert die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft. Künftige Lösungen müssen im Raum dreier Kontinuen entwickelt werden, in der Bestimmung der Relation zwischen der Religion und der kollektiven Identifikation überhaupt, in der Bestimmung der Relation zwischen einem fundamentalistischen oder dialogischen Islam insbesondere und in der Bestimmung der funktionalen Indienstnahme der Religion als nationalistisches Symbol oder als Instrument eines intellektuellen Fortschritts in der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft.

Der soziale Wandel der Wertvorstellungen kennzeichnet auch den postsozialistischen Weg Albaniens und beeinflusst auf unterschiedliche Weise die neue Identität der Landsleute, so erklärt Arlinda Ymeraj in ihrem Artikel über soziale Werte im Übergang – im Falle Albaniens – und ihre Bedeutung für die Ausbildung einer staatsbürgerlichen Identität. Sie sieht diesen Wandel als eine Folge der Abwendung von den Werten der sozialistischen Verfassungen „gesellschaftliche Solidarität” und „Gleichheit” – ein in heutiger Bilanz unerfülltes Versprechen – hin zu demokratischen Werten, zum Schutz der Menschenrechte, zum Wohlstand für alle und zu sozialer Gerechtigkeit. Dass in den Jahren des Sozialismus das anfangs so begeisterungserfüllte Wertesystem vollständig zusammenbrechen konnte, hat seine Gründe u. a. im politischen Dogmatismus in den verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen, in der politischen Kontrolle von Programmen und in den Einschränkungen individueller Spielräume bei ihrer Durchführung, aber auch in der Unterdrückung und in der Angst vor dem kontrollierenden System, die die persönliche Identifikation mit den Werten unterhöhlten. Hinzu kam die bevorzugende und somit keineswegs gleichheitsorientierte Belohnung jener Bürger*innen und Einrichtungen, die sich besonders konform mit der politischen Führung erwiesen – vice versa die Benachteiligung eigenständig gestaltender Personen.

Vor dem Hintergrund der wandlungsreichen Geschichte des Landes in den letzten dreißig Jahren und der höchst autoritären Staatsführung bis 1991 werden die komplexen Wertkonflikte der albanischen Gesellschaft verständlich. Die – trotz wirtschaftlichen Wachstums – noch immer steigende Armut und soziale Ungleichheit, das geringe durchschnittliche Bildungsniveau, die in sozialen Normen begründete Diskriminierung und Exklusion von Bevölkerungsgruppen, verbreitete Korruption und anhaltend hohe Arbeitslosigkeit beeinflussen den Wertediskurs in der Gesellschaft und das Wertebewusstsein der Bevölkerung. Falsche Erwartungen an die Einführung der freien Marktwirtschaft bezüglich einer schnellen Verbesserung der eigenen Lebenslage und die seit bald 30 Jahren nahezu stagnierende Entwicklung des Landes bewirken zudem eine von Frustration genährte Skepsis gegenüber dem liberalen und demokratischen Wertesystem und – erneut – ein wachsendes Misstrauen in die Rentabilität persönlichen Engagements für diese Gesellschaft.

Ymeraj glaubt, in der albanischen Gesellschaft derzeit hinsichtlich ihres dominierenden Selbstverständnisses drei soziale Gruppen zu erkennen, die „Heimatlosen”, welche ohne hoffnungsvolle Aussichten in schlecht bezahlten Jobs oder in der illegalen Arbeit kaum mehr als ein Existenzminimum erarbeiten, die „Regelbrecher”, welche die kapitalistischen Wohlstandziele mit illegalen oder kriminellen Mitteln zu erreichen trachten und in Albanien ein nicht geringen Teil der Staatsmacht tragen, und die „Träumer”, loyale Staatsbürger*innen, die nicht aufhören, an ein neues demokratisches Albanien zu glauben, ihren Pflichten nachkommen und die eigentlich tragenden Kräfte einer Transformation in spe darstellen. Es liegt auf der Hand, dass – wenn schon nicht alle Werte – so doch die Normen der Lebensführung zwischen diesen drei Typen stark differieren. Kontrovers wird in Albanien diskutiert, ob die im Wechsel von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft veränderten Wertorientierungen die alten Werte der “Solidarität” und “Gleichheit” ersetzen müssten oder es möglich sei, sie beizubehalten und mit den neuen Werten auf bessere Weise zu erfüllen. Damit soziale Werte tatsächlich die Politik und das gesellschaftliche Leben in Albanien bestimmen können, ist es zunächst einmal notwendig, auf breiter Basis die soziale und staatsbürgerliche Bildung der Bürger*innen zu entwickeln.

In seinem zweiten Beitrag zur Bedeutung von Wertorientierungen für den kulturellen Wandel wendet sich Wolfgang Krieger der Frage zu, welche Werthaltungen in der medialen Selbstdarstellung junger Menschen in postsowjetischen Ländern in den social media zum Ausdruck kommen. In diesen Medien offenbaren junge Menschen heute mehr als anderer Stelle, wie sie sich selbst sehen, was ich ihnen wichtig ist, wie sie zu sich stehen und wer sie gerne sein möchten, womit sie sich identifizieren und welchen Kohorten und Kulturen sie sich zugehörig fühlen. Sie zeigen also in ihrer „Medien-Identität“ zum einen ihre individuelle Besonderheit, zum anderen plurale Formen einer kollektiven Identität und bieten diese Selbstdarstellungen an auf einem quasi-öffentlichen „Markt“ der sozialen Anerkennung, der über Akzeptanz oder Ablehnung der Identitätsformationen entscheidet. Sie unterwerfen sich in der Konstituierung ihrer Identität, zumindest sobald sie „ihre Leute“ gefunden haben, nicht nur hinsichtlich des Symbolrepertoires, sondern auch hinsichtlich ihrer Identifikation mit Rollen, Einstellungen und Werten einem mehr oder minder heteronom konditionierenden Sanktionsmechanismus. Dieser erklärt womöglich, warum in stark konformistisch geprägten Gesellschaften auch in den Medien-Identitäten vor allem kollektivistische Selbstinszenierungen wahrscheinlich werden.

Stärker als in der westlichen Medienkultur fällt zum Ersten auf, dass junge Menschen in postsowjetischen Ländern hochgradig stereotyp „in einen kulturell sanktionierten Raum“ von Konventionen eingebunden sind, dem ein je spezifischer Wertehorizont entspricht und der geteilt werden muss, wenn soziale Anerkennung erreicht werden soll, zugleich ein wenig überschritten, um aufzufallen. Der Autor stellt dar, dass der Umgang mit diesen Konventionen ein ambivalent riskantes Manövrieren zwischen konformer Erwartungserfüllung und individuellem Über-raschungsgebaren darstellt, auch wenn man in der postsowjetischen Medienkultur hinsichtlich des Überraschungsmomentes meist eher von einem „Thema mit Variationen“ sprechen muss. Zum Zweiten fällt auf, dass die Selbstdarstellung durch die eigene Repräsentation meist zusammen mit Statusymbolen erfolgt und damit eine Selbstüberhöhung verfolgt, die oft die Grenzen der Glaubwürdigkeit auch überschreitet und im Vagen lässt, ob die Inszenierung Reelles repräsentieren oder mit Fiktivem spielen soll. Dieses „Spiel“ geht im Feld der Statussymbolik sehr weit und riskiert auch den Übergang zum Lächerlichen, in welchem erneut offen bleibt, ob das Gezeigte ernsthafter Angeberei oder der Selbstironie zu verdanken ist. Am Beispiel einiger „Präsentationsformen der Selbstkategorisierung“ (Neue Körperlichkeit, Status-Identität, politische Identität und soziales Engagement, „Normalo“-Identitäten und Authentizität) illustriert Krieger, wie kollektive Normen Stil und Inhalt der Selbstdarstellungen prägen und welche Werthorizonte hinter der Selbstsymbolisierung zu vermuten sind. In der Wahl der Statussymbole bildet sich ein weiteres Mal die Dominanz materialistischer Wertorientierungen ab.

Am Beispiel der Ingenieursstudent*innen in Tomsk/Sibirien beschreiben Igor Ardashkin, Marina Makienko und Alexander Umykhalo die Veränderungen der beruflichen Identität von Ingenieuren der neuen Generation in Russland. Die Ergebnisse der zugrunde liegenden empirischen Studie lassen aber wohl auch Schlussfolgerungen zu, die allgemein zur Vision des neuen Berufslebens in Russland gehören. Die an drei Universitäten und 480 Personen durchgeführte Befragung befasst sich neben Fragen zur Berufswahl und zum Studium mit dem Bild des zukünftigen Ingenieurs und den Zukunftsvorstellungen zu diesem Beruf aus Sicht der Studierenden. Schon die Untersuchung der Motive zur Berufswahl lässt soziale Wertvorstellungen erkennen wie etwa das Hilfemotiv, die Gewährleistung der menschlichen Sicherheit oder die Lösung wirtschaftlicher Probleme. Geschätzt wird auch die berufliche Selbstbestimmung im Ingenieursberuf. Hauptmotive für die Berufswahl sind aber materielle Werte und das Prestige des Berufs. Die Erwartung, dass die Verantwortung des Ingenieurberufs gegenüber der Gesellschaft zunehmen wird und der künftige Ingenieur mehr Kreativität zeigen müsse, wird von vielen geteilt. In der prospektiven Sicht des Berufs treten Merkmale wie Verantwortungsbewusstsein, Fleiß, Zielgerichtetheit und lebenslange Lernbereitschaft in den Vordergrund. Dieses Bild eines durchaus anspruchsvollen Berufs tritt dann aber in Kontrast zu den Visionen der beruflichen Zukunft: Die Mehrheit der Studierenden sieht die Zukunft als negativ oder gar bedrohlich und erwartet niedrige Gehälter. Die Hälfte der Studierenden zweifelt daran, ob sie je in diesem Beruf arbeiten werden. Optimistische und pessimistische Erwartungen zeigen sich als hoch abhängig von der sozialen Herkunft der Studierenden. Das Maß an beruflicher Unsicherheit wird aus Sicht der Befragten auch begründet durch das mangelnde Vertrauen in die sozioökonomische Situation, das Fehlen von gesellschaftlichen Entwicklungsstrategien und den mangelnden Dialog zwischen Politik und Gesellschaft über neue Herausforderungen im Beruf.

Der Artikel von Yana Chaplinskya befasst sich mit den aktuellen Problemen des Arbeitslebens in Russland und der Zerrissenheit der Lebensführung unter den Bedingungen einer zugemuteten „Patchwork-Identität“. War es zuerst der Zerfall des Sowjetischen Kultur, des zugrunde liegenden Menschenbildes und der sie tragenden Wertvorstellungen, der die Menschen in Unsicherheit und Orientierungslosigkeit stürzte, so ist es heute die Dynamik der modernen russischen Gesellschaft, die perspektivischen Risiken der eigenen Lebensentscheidungen und die durch die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Informationen überfordernde Globalisierung, die bei den Menschen nicht nur ein hohes Maß an Unsicherheit und Stressbelastung hinterlassen, sondern auch den individuellen Sinnverlust und die Ungewissheit der eigenen Personalität weiter fortsetzen. Die modernen beruflichen und soziokulturellen Anforderungen zwingen den postsowjetischen Menschen in eine Patchwork-Identität hinein, die zu bewältigen er schlecht gerüstet ist. Mehr denn je stellt die Arbeit für die postsowjetischen Menschen hohe und vor allem unüberschaubare Anforderungen, während zugleich die Wahl des Berufes auf einem sehr schwankenden Grund der Vorkenntnisse, der Kompetenzerwartungen und der Zukunfts-prognosen zu treffen ist. In der neuen Arbeitsgesellschaft ist jeder auf sich alleine gestellt und muss selbst die Wege finden, für sich und die Seinen eine Lebensbasis, ein Einkommen und eine gewissen existenzielle Sicherheit zu erwerben. Die Instabilität der Verhältnisse macht diese Bemühungen besonders anstrengend: Das Tempo der Veränderungen am Arbeitsmarkt, die Notwendigkeit, für das eigene Fortkommen zahlreiche und vor allem die richtigen Beziehungen zu pflegen und stets aufmerksam zu sein, um berufliche Chancen nicht zu verpassen, sich möglichst viele Qualifikationsnachweise zu erwerben, um für jede zu erwartende Situation des beruflichen Wandels gerüstet zu sein, stellen den Menschen fortlaufend unter Stress. Sie verlangen ihm ferner eine Rollenvielfalt ab, die es zu balancieren gilt – eine nicht minder schwierige Aufgabe.

 

Als eine „natürliche Art der Selbstverwirklichung“ ist Arbeit von hoher Bedeutung für die Zufriedenheit des Menschen, sie darf aber nicht seinen gesamten Alltag einnehmen und bestimmen. Burnout und seelische Erkrankungen sind in Russland neue Phänomene, die vor allem auf eine überfordernde Arbeitssituation zurückgehen. Daher gilt es zum einen, die Arbeitsbelastung zu begrenzen und die Arbeit mit den eigenen Interessen, Stärken und dem individuellen Lebenssinn zu verbinden, zum anderen die Menschen mit einem reflexiven Vermögen auszustatten, das ihm erlaubt, sich selbst in seinem körperlichen und seelischen Wohlbefinden wie auch in den Belastungen aufmerksam zu beobachten und zu lernen, in und außerhalb der Arbeit im Dienste seines Wohlergehens für sich selbst zu sorgen. Chaplinskayas Artikel zeigt nicht nur den Einfluss eines humanistisch-individualistischen Denkens auf die jungen Menschen in Russland, sondern auch ihre Hoffnung, dass es durch aufmerksame Selbstbeobachtung und eine gelingende Sinnsuche möglich wird, wieder seine Mitte zu finden, die neuen beruflichen und soziokulturellen Anforderungen der postsowjetischen Gesellschaft zu bewältigen und „im Chaos eine Ordnung zu finden“.

So schwierig es ist, am Ende eines Buches mit solch thematisch und perspektivisch unterschiedlichen Beiträgen eine Summe zu bilden, so versucht der Herausgeber doch die anfangs grundlegend gestellte Frage nach der Existenz und Fassbarkeit einer „postsowjetischen Identität“ bilanzierend aufzugreifen und wenn schon nicht einheitliche Merkmale einer solchen Identität, so doch gemeinsame Rahmenbedingungen für die Erfüllung jener Aufgabe zu benennen, die die Erarbeitung einer neuen Identität für die postsowjetischen Länder darstellt. In vielfacher Bezugnahme auf die Autoren und Autorinnen dieses Buches beschreitet Wolfgang Krieger dabei in Folge zwei getrennte Wege:

Er rekapituliert zunächst die für die Länder der Sowjetunion gemeinsame Geschichte, deren politische und soziale Bedingungen durch den universellen Anspruch der Ideologie die kollektive kulturelle Identität der „Sowjetmenschen“ , nicht nur im Gelingen des ideologischen Programms, sondern auch in seinen Zerwürfnissen und seinem Scheitern, geprägt haben. Im Dreischritt von der sowjetischen Identität über die „transformatorische Identität“ zur postsowjetischen Identität werden die zentralen sozialen und politischen Strukturen und kulturpsychologischen Wirkungen der verschiedenen Stadien in der sowjetisch-postsowje-tischen Entwicklung nachgezeichnet und setzen sich wie ein Puzzle allmählich zusammen zu einem Gesamtbild der Chancen und Lasten der Vergangenheit bei der Bewältigung der heute bestehenden Aufgaben der postsowjetischen Gesellschaften. Dabei zeigt sich: Der „neue Mensch“ als Entwurf einer allgleichen kollektiven Identität des Sowjetmenschen war Fakt und unhinterfragte Selbstverständlichkeit und ist bis heute ein wirksames Fundament auch in der postsowjetischen Identitätsbildung, auch wenn es nicht geliebt, oft bestritten und als überwunden bezeichnet wird. Derlei Befangenheit widersetzt sich der Transformation und nur in ihrer Aufarbeitung können neue Positionen evolvieren.

Der zweite Weg verfolgt den Versuch einer Beantwortung der Frage nach den Wurzeln und Problemen einer möglichen postsowjetischen Identität über die Belichtung einzelner identitätsbildender Sektoren wie der „ethnischen und nationalen Identität“, der „religiösen Identität“, der „Genderidentität“, der „beruflichen Identität“ und der Konstruktion sogenannter „einfacher kollektiver Identitäten“. Dies ist nicht möglich, ohne ein paar Aspekte gründlich zu vertiefen und sie so der Oberflächlichkeit purer Erwähnung zu entreißen. Krieger legt in allen Sektoren dar, dass vor allem die in Russland vorangetriebene Gegenreform, aber auch der in einigen Staaten erstarkende Totalitarismus die Öffnung zu neuen Identitätshorizonten vereitelt und ängstliche Tendenzen zur Selbstverschließung und damit Stagnation hingegen angetrieben werden. Die gleichen Kräfte verhindern das Wachstum von Toleranz und individueller Autonomie und die Etablierung demokratischer Strukturen in den Institutionen, ganz zu schweigen von der Entwicklung eines staatsbürger-schaftlichen Bewusstseins in der Bevölkerung. So bleiben die meisten Menschen auch dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zurückgeworfen auf die bescheidenen Chancen, im Privaten, in der Familie, im Freundeskreis und allenfalls im Beruf ein erfülltes Leben führen zu können, während ihr Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft sich den Schäden der spätsowjetischen Ära noch immer kaum entziehen kann. Staatsbürgerlich vereint ist man nur in der „negativen Identität“ (Gudkov), im Wissen, wer man nicht sein will, zu wem man nicht gehören will, was man zu beschimpfen und wogegen man sich zu wehren hat; an positiven zukunftsgerichteten Visionen, die die Bürger*innen zur Mitgestaltung des Staates und der Gesellschaft motivieren könnten und sich nicht darin genügen, die Vergangenheit zu verherrlichen, fehlt es aber eklatant. Dass es an solchen Visionen mangelt, hat eine Vielzahl von Gründen, hinsichtlich derer wohl alle postsowjetischen Staaten weitgehend unterschiedslos vereint sind, insofern sich diese Gründe aus der gemeinsamen Geschichte der ideologischen Bevormundungen, der Unterwerfung und Entpersönlichung der Sowjetzeit und all der sich hieraus ergebenden Deprivationen in menschlicher, sozial-kommunikativer, moralischer und auch lebens-praktischer Hinsicht, ableiten. Diese verlorenen Terrains wieder zu erobern, stellt die eigentliche Aufgabe der postsowjetischen Identität dar, ungeachtet der Frage, zu welchem Ergebnis diese Prozesse kommen werden.

Ludwigshafen am Rhein, im September 2020

Prof. Dr. Wolfgang Krieger