Mords-Stünzel

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

„Wann war das?“, wollte Corinna wissen.

„Na, gestern Abend. Sag’ ich doch.“

„Nein, um wie viel Uhr? Wie spät es war, will ich wissen.“

Sven schaute in die Kopfleiste des Fotos. „Hier, kannste selbst ablesen. 20.58 Uhr.“

Corinna glaubte ihm zwar, kontrollierte aber sicherheitshalber noch mal die Angaben des Kollegen. „Warum bist Du denn so früh weg, wenn Du Dich so unheimlich verknallt hast?“

Sven Lukas lief rot an. „Das ist es ja, was mich so anfrisst, Himmelherrgott! Weil ich Sonntagsdienst habe. Ich hatte meinen Wagen ganz vorne, vor Stünzel, da in der Nähe des Denkmals geparkt. Das ist ’ne ganz schöne Latscherei bis dahin. Vor allem, wenn man unterwegs zig Bierleichen übersteigen oder umlaufen muss. Und für den Fall der Fälle, hatte ich mir vorgenommen, spätestens um elf, also um 23 Uhr zu Hause zu sein. Kathrin wollte partout noch eine Weile bleiben und dann mit Bekannten zusammen nach Laasphe laufen. Hier oben durch den Wald. ‚Machen wir immer so’, hat sie mir gesagt. Wir wollten uns morgen Abend wieder zusammentelefonieren.“

„Hast Du die Bekannten irgendwo gesehen? Gab’s die dort überhaupt?“

„Natürlich“, kam es messerscharf von Sven Lukas zurück. „Für wie blöde hältst Du mich denn eigentlich?“

„Hey, hey“, fuhr Born dazwischen, „jetzt iss’ aber gut hier. Wie redest Du denn mit Deiner Kollegin?“

„Nix is’ gut!“, trumpfte der ‚Freak‘ auf. „Glaubt Ihr etwa, ich würde eine Frau, in die ich mich gerade unsterblich verliebt habe und die ich lieber mit heim genommen als hier gelassen hätte, einfach sich selbst und einem kilometerlangen Fußmarsch durch einen dunklen Wald überlassen? Hier, das sind sie! Zumindest drei von ihnen“, zeigte er abermals sein Smartphone-Display vor. „Holger, heißt der hier, das ist Vivien und das hier ist …, Moment, ich komme gleich drauf, das ist Bastian. Mit denen und noch ein paar anderen wollte Kathrin zurücklaufen.“

Die drei vorgezeigten jungen Leute, alle offenbar in gleichem oder ähnlichem Alter wie die Getötete, saßen eindeutig im selben Festzelt und hatten scheinbar richtig Spaß. Zwei Bilder weiter vorne in dem Archiv saß Kathrin Kögel sogar mit in der Runde.

„Hier, in der Lücke da, zwischen ihr und Holger, habe ich gesessen. Bin aber aufgestanden, um das Foto zu machen. Und danach ist sie zu mir rübergekommen und wir haben uns eine Weile abgesetzt und draußen ein bisschen rumgeknutscht. … Wie die Pennäler, Mensch.“ Sven schniefte wieder und wandte sich ab. „Ich hab’ mich dermaßen verknallt, ey. So was gibt’s normalerweise gar nicht. Ich hab’ geschwebt. Ich war wie in Trance. Wisst Ihr überhaupt, wie das ist?“

Ein tiefer, gequälter Seufzer entfuhr seiner Kehle. „Und jetzt liegt sie da vorne. Tot. Diese schöne, tolle Frau. Totgemacht. So eine verfluchte, unmenschliche Schweinerei!“

Die beiden Kollegen schauderte es. Sie wussten nicht so genau, wie sie mit dem von einer Schluchz-Attacke übermannten Sven umgehen sollten. Aber sie brauchten noch mehr Informationen. Wie waren zum Beispiel die Nachnamen der drei Bekannten, wo genau wohnten sie und in welcher Beziehung standen sie zu Kathrin?

Es dauerte eine Weile, bis sich der Kollege wieder erholt hatte und vermutlich weitere Fragen ertragen konnte. Dass er der Mörder dieser jungen Frau sein sollte, diese Frage stellte sich den beiden Kriminalbeamten ohnehin nicht. Oder besser: nicht mehr. Denn Corinna hatte sich seit Svens Outing die ganze Zeit über gefragt, warum er ihr von seinem neuen Glück nicht schon während der Fahrt von Bad Berleburg hinauf zum Stünzel erzählt hatte.

Aber mittlerweile war ihr klar, dass er dieses zarte Pflänzchen der Liebe und des Glücks wohl noch eine Weile für sich bewahren wollte. Sie erinnerte sich, wie unglücklich der Kollege im vergangenen Jahr war, nachdem ihm seine damalige Freundin eröffnet hatte, sie würde dann doch ein Leben mit ihrem Ex am Bodensee vorziehen. ‚Und jetzt war seine demolierte Seele wieder versöhnt’, dachte sie. ‚Aber leider nur für einen Augenblick. Der arme Kerl.’

„Sag mal, wie geht denn das jetzt hier weiter?“ Rüdiger Mertz war es, der kurz angeklopft und dann einfach die Schiebetür des Bullis aufgerissen hatte. „Die Leute von der Rechtsmedizin sind fertig und wollen fahren. Sie werden die Leiche mit nach Siegen nehmen. Zur Obduktion.“

Erst in diesem Moment begriff er, dass Sven mit im Wagen saß und ob der letzten Worte wieder heftig zu schlucken begann. ‚Scheiße’, dachte Mertz. ‚Das hätte jetzt nicht passieren dürfen. Dieser arme Hund.’ „Sorry, Sven“, sagte er und hob eine Hand zu Entschuldigung. „Du weißt, unser Geschäft …“ Mehr fiel ihm augenblicklich nicht ein. Aber der junge Kollege hatte verstanden und nickte nur stumm.

Corinna stieg aus und begleitete Rüdiger rüber zum Fundort. „Ist schon okay“, klopfte sie ihm auf die Schulter, „konntest Du ja nicht ahnen. Sven ist ganz schön angezählt. Der wird eine Weile brauchen“, legte sie nach. „Wie ist denn eigentlich die Personenbefragung gelaufen? Gab’s was Auffälliges?“

„Nee, sonst hätten wir uns schon gerührt. Die Leute waren alle mehr oder weniger geschockt. Obwohl der eine oder andere das nicht zum ersten Mal erlebt zu haben scheint. Tote auf Rummelplätzen sind dann wohl doch nicht ganz so selten. Und Mordopfer sollen dabei nicht unbedingt die Ausnahme sein.“

Nur gesehen hatte sie wohl keiner von ihnen. Oder man konnte sich schlicht nicht erinnern. Die Aussagen der Leute inklusive ihrer Wohnadressen und Erreichbarkeiten unterwegs seien von den Kollegen aufgezeichnet werdenund würden nach Rückkehr ins Revier protokolliert.

Es war ein ergreifendes Bild, das sich Corinna und Rüdiger am Fundort der ermordeten Studentin bot. Und das die Oberkommissarin noch intensiver daran glauben ließ, dass die meisten Menschen, vor allem auch Polizeibeamte, Anstand und Seele besitzen. Ihre Kollegen und Winfried Stremmel standen Spalier, als der Zinksarg zum Leichenwagen gebracht wurde. Ihre Kopfbedeckungen in der Hand neigten sie ihr Haupt, als die beiden Männer von der Gerichtsmedizin die traurige Last vorübertrugen. Sie hätte weinen können. Aber sie blieb einfach nur tapfer stehen und schaute versonnen dem Sarg nach. ‚Ein vernichtetes Leben. Was für ein Wahnsinn.’

„Gab es noch Besonderheiten, auf die Sie gestoßen sind, Doc?“, empfing sie den Leiter der Rechtsmedizin.

„Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich glaube, wir haben es hier mit einem Fall einer abgewehrten Vergewaltigung zu tun.“

Die Kriminalistin wurde hellhörig. „Abgewehrte Vergewaltigung? Wie muss ich das verstehen?“

„Die Frau hat Einblutungen in Form von blauen Striemen um die Hüfte herum. Das zeigt, dass irgendjemand versucht hat, ihr die Hose vom Leibe zu reißen. Dazu sind einige ihrer Fingernägel abgebrochen. Was bedeuten könnte, dass sie sich massiv gewehrt und eventuell gewaltsam ihre Hose am Bund oder an den Gürtelschlaufen oben gehalten hat.“

„Und Sie können wirklich ausschließen, dass sie vergewaltigt wurde?“ Corinna insistierte, um für den Verlauf ihrer Ermittlungen mehr in der Hand zu haben.

„Also verzeihen Sie mir meine inkomplette Diagnose. Doch ich wollte, vor allem aus Gründen der Pietät, darauf verzichten, diesen jungen Körper in dem Viehanhänger komplett zu entkleiden. Aber ich bin zumindest zu der Erkenntnis gekommen, dass es weder Verletzungen im vorderen Genitalbereich noch austretendes Sperma gab. Dafür habe ich aber kleine Kratzer und einige Hämatome an ihren Brüsten gefunden. Alles weitere wie üblich nach der Obduktion.“

„Todesursache?“

„Ziemlich sicher Tod durch Erwürgen.“

„Todeszeitpunkt?“

„Wie der Kollege Notarzt bereits festgestellt hat. Zwischen 21 und 23 Uhr plus, minus eine halbe Stunde.“

„Danke Doktor. Wann werden Sie mit der Obduktion beginnen?“

„Ich werde heute noch öffnen. Lassen Sie doch vielleicht einen der Kollegen aus Siegen kommen. Die Fahrt von Berleburg rüber nimmt halt viel Zeit.“

„Mal sehen, was geht. Mir wäre auf alle Fälle recht, wenn wir schnell zu den Ergebnissen kämen.“

„Okay, dann bis später. Egal wie. Wir fahren dann mal. Tschüss.“

Schlagartig wurde es leer auf dem Stünzelplatz. Die Budenbesitzer waren längst weg. Und auch die wenigen Schaulustigen, die das Polizeiaufgebot aus dem kleinen Ort angelockt hatte, verdünnisierten sich langsam wieder. Lediglich die Monteure am Fliegerkarussell waren noch bei den Abbauarbeiten. Aber auch sie würden im Laufe des frühen Nachmittags fertig sein.

Nachdem auch die SpuSi-Leute ihre Fundbeutel und Werkzeuge eingepackt und sich verabschiedet hatten, gab Oberkommissarin Lauber, in Abstimmung mit ihrem Kollegen von der Schutzpolizei, das Zeichen zum Abrücken der uniformierten Kollegen. Zwei Teams waren ohnehin schon vorher verschwunden. Irgendwo hatte es Stress gegeben bei einer Frühschoppen-Fete.

„Okay, Kolleginnen und Kollegen. Das war’s erstmal. Ich danke Euch für Euren Einsatz und bitte um zügige Protokolle über die Personenbefragungen. Tschüss, wir sehen uns auf der Wache.“

Born, Winter und der bedauernswerte Lukas waren ‚übrig’ geblieben. Corinna hatte sie gebeten zu bleiben. Weil es jetzt galt, so schnell wie möglich die drei Bekannten ausfindig zu machen, mit denen die später Getötete zu Fuß nach Bad Laasphe laufen wollte. Holger, Vivien und Bastian. Drei junge Leute, die, so meinte sich der ‚Freak’ zu erinnern, allesamt in Laasphe wohnten. Aber Nachnamen … „Nee, ich kann mich nicht erinnern, auch nur einen genannt bekommen zu haben.“

Nur wegen Vivien habe es einen Lacher gegeben, der eventuell weiterhelfen könnte. Ein an ihrer Bierbank vorbeikommender Mann habe erst der wenig erfreuten Kathrin, dann aber der jubelnden Vivien seinen Hut mit Gamsbart aufgesetzt und „Halali – habe die Ehre“ gerufen. Daraufhin habe die gemeint: „Aha, ein Jäger. Das trifft sich gut. Ich wohn’ nämlich im Hubertusweg.“ Alle hätten gebrüllt vor Lachen. Und dann sei der Mann wieder abgezogen.

 

„Hubertusweg in Bad Laasphe?“, wollte Corinna wissen.

„Ja, demzufolge wohl. Sie wohnen ja alle dort in Laasphe.“

Die Lauber setzte sich in ihren Wagen und machte per Mobilfunk Kontakt mit der Polizeiwache in Laasphe. In kurzen Zügen legte sie dem Kollegen auf der anderen Seite ihr Problem dar. Natürlich hatte der längst vom Mord auf dem Stünzel gehört und war sofort elektrisiert, als Corinna ihn bat, eventuell ein paar Kollegen loszuschicken, die nach einer ‚Vivien im Hubertusweg’ suchen sollten.

„Kollegin, dafür werden wir nicht viele Leute brauchen. Wenn die Wohnstraße stimmt, dann haben wir die Frau schnell gefunden. Der Hubertusweg ist nur eine ganz kurze Querstraße mit wenigen Häusern. Verläuft ‚Zwischen Landwehr’ und ‚Puderbacher Weg’. Ich denke, das hat ein Team in Kürze abgeklopft. Wobei, Du weißt ja, Hausbesuche durch die Polizei sind, besonders an Sonntagen, ungefähr so beliebt wie der berühmte Pickel am Hintern. Aber wir machen das natürlich. So schnell wie möglich.“

Corinna lachte kurz auf, ob des Vergleichs. „Prima, danke Euch. Sagt Ihr bitte Bescheid, ob Ihr fündig geworden seid. Wir würden gerne mit der jungen Frau reden. Sagt Ihr aber bitte noch nichts von dem Mord. Okay!?“

„Selbstverständlich“, beendete Polizeikommissar Jost Gmeiner das Gespräch.

„So, Kollegen, passt bitte auf. Du, Sven, fährst bitte mit Pattrick Born zur Wache und nimmst dann für den Rest des Tages frei. Du musst erstmal zur Ruhe kommen. Schick mir bloß bitte vorher die Fotos von gestern auf mein Smartphone. Damit wir Vergleichsbilder haben.

Und Du, Pattrick, hältst bitte die Stellung in Berleburg und sichtest schon mal, soweit vorhanden, die Personenbefragungen. Okay?“

„Geht klar, natürlich“, antwortete Pattrick, der schon mal die Wagenschlüssel aus der Tasche gepult und sich mit Blick in die Sonne an seinen Wagen gelehnt hatte. „Und was habt Ihr vor? Fahrt Ihr gleich nach Laasphe?“

„Werden wir, sobald wir mit dem Besitzer des Pferdeanhängers gesprochen haben. Der Mann sitzt noch immer da vorne in seinem Auto und weiß nicht so recht, was er machen soll.“

„Alles klar. Dann dampfen wir mal ab. Ciao“, rief Born den beiden Kollegen zu und bedeutete Sven einzusteigen. ‚Der Junge ist ganz schön fertig’, dachte er, als auch er in seinen Sitz gerutscht war. ‚Hoffentlich verkraftet er den Dienst, wenn ständig über den Tod seiner frischen Liebe geredet wird. Vielleicht wären ein paar Tage Urlaub besser für ihn.’ Aber das konnte er natürlich nur vorschlagen. Entscheiden müsste das der Kripo-Chef, Klaus Klaiser, wenn der am Montag aus seinem Kurzurlaub zurückkommen würde. Und so verbot er es sich auch, gegenüber Sven eine solche Möglichkeit anzusprechen.

Sie fuhren raus aus dem Laubwald mit seiner ganzen Pracht der frischen Tausend Grüntöne, auf die schmale Straße hinüber zum Ort und rauf auf die Höhe, von der aus man das halbe Wittgensteiner Land überblicken konnte. ‚Was für ein geiles Panorama’, dachte er für einen Moment. Und dann ging es schon wieder runter in diese lange Linkskurve, die schon Abschleppunternehmer an manchen Wintertagen dazu gebracht haben soll, hier abwartend auf der Lauer zu liegen.

Links im Hang blühte der Ginster in herrlichem Gelb. Und unterhalb der Kurve lagen schwarz-bunte Kühe wiederkäuend in der Sonne. Doch für all das hatte der Kollege auf dem Beifahrersitz keinen Kopf. Er schaute nur immer geradeaus. Mit rot geränderten Augen und leerem Blick. Pattrick hätte wer weiß was dafür gegeben, wenn er ihn mit irgendetwas hätte aufmuntern können. Aber es fiel ihm partout nichts ein. An der Kreuzung mit der B 480 Leimstruth – Bad Berleburg bogen sie rechts ab.

Geradeaus hinter dem Baldenberg, im nur wenige Hundert Meter entfernten Rinthe, hatte die Nachricht vom Tod der Studentin auf ‚Kienhewersch Winnie sei’m Hänger’ Entsetzen ausgelöst. „Das gibt’s doch gar net“, war Helmut Dreisbachs schockierter Kommentar, als sein Nachbar sich bei ihm per Handy meldete. Winnie hatte in der langen Wartezeit auf dem Stünzel schon mal moralische Unterstützung in der Heimat gesucht und sich bei „Mannes“ nebenan gemeldet, um Bescheid zu geben, dass es wohl mit dem gemeinsamen Nachmittag mit Helmut und Ulla nichts werden würde. Aus besagtem Grund.

Helmut wollte nicht begreifen, dass es auf ‚seinem’ geliebten Stünzel ein solches Verbrechen geben konnte. Jahrelang war er als Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Kreisvereins maßgeblich verantwortlich für dieses Großereignis gewesen, das in diesem Jahr zum 184. Mal stattgefunden hatte. Niemals hatte es dort ein schwereres Vergehen gegeben, geschweige denn ein Verbrechen. Der letzte Mord, vielleicht war es sogar der erste, der je hier oben stattgefunden hatte, geschah vor fast 340 Jahren. Am 3. März 1678 war das. Zumindest besagte das der ‚Mordstein’ am Rande des Dorfes, das es zu dieser Zeit offiziell noch gar nicht gab.

Und jetzt das! Und ausgerechnet Winfried Stremmel musste das widerfahren. Dem Mann, dem der Krebs vor vier Jahren seine geliebte Frau Brigitte hinweggerafft hatte. Sie hatte ihr Schicksal klaglos ertragen und ihn ermutigt, sein Leben zu leben. Doch für Winnie war eine Welt zusammengebrochen.

Mehr als zwei Jahre hatte er sich förmlich eingegraben, seinen Job aufgegeben und sich nur noch auf seinem Hof und in dessen engerer Umgebung bewegt. Ein Eigenbrötler, wie er im Buche stand. Und der nur noch eines liebte: seine Pferde.

In unendlich mühseliger nachbarschaftlicher Freundschaftsarbeit war es Ulla und Helmut gelungen, ihn wieder aufzurichten. Und ihn davon zu überzeugen, dass das Leben mehr zu bieten hat als Trauer und Abgeschiedenheit. So hatte sich Winnie langsam erholt und wieder Mut gefasst. Und nur so war es möglich, dass er jetzt auch wieder ‚raus’ ging. Auf Feste zum Beispiel. Und zum Stünzel, wo er seinen schönsten Wallach hatte auf der Tierschau prämiieren lassen. Und wo er das tolle Tier letztlich auch verkauft hatte.

„Noch immer en bisselchen mit weichen Knien“ hatte er seinen Zustand beschrieben, als Corinna und Jürgen zu ihm gekommen und ihn um ein paar Antworten gebeten hatten. „Das muss ma doch auch erst ma kapieren. Wenn ma de Hängatür aufmacht un da ’ne Tote findet. Ich dacht’, mich trifft da Schlag.“

Obwohl er das heute schon mehrfach machen musste, zeigte Winnie Stremmel auch Corinna, wie und wo er die Tote gefunden und was er dann getan hatte.

Lauber war sehr daran interessiert, warum er die Frau denn nicht schon am Morgen gefunden hätte, bevor er den Wagen im Dreck festgefahren habe.

„Ja, wie denn?“

„Sie hätten doch nur mal in den Hänger schauen müssen.“

„Ha, Sie sin’ gut. Wofür denn? Ich wusste doch, dass es da drin nix zu holen gibt. Der Luego war doch verkauft.“

„Ja, aber Sie wussten, dass die Seitentür unverschlossen ist.“

„Ach so. Un dann hätte ich nachgucken müssen, ob da net ne Tote drin licht, oder was? So was macht doch keina. … Normalerweise.“

„Nein, natürlich nicht, um nach einer Leiche zu schauen. Aber Sie hätten immerhin nachsehen können, ob alles in Ordnung ist.“

„Mag sein, dass Se Recht haben. Awwa wissen Se, ich schließ’ die Seitentür von dem Hänga nie ab, wenn nix drin is. Damit mir keina das Schloss knackt, falls er da drin was Klaubares sucht.“

„Und wenn da drin einer ein Schäferstündchen hätte halten wollen?“, hatte Corinna Lauber noch gefragt.

Dann wären die zwei nicht lange da drin geblieben und am Morgen mit Sicherheit nicht mehr da gewesen. Bei den Pferdeäpfeln. „Das hält ma so ohne weiteres nämlich net aus. Auch Pferdedung hat ein ganz besonderes Aroma.“ Mittlerweile grinste Winnie sogar. Er hatte seine Souveränität zurückgewonnen. Zum Glück. Weil er sich schon fast ein wenig schuldig vorgekommen war in dieser Sache.

Aber Corinna nahm ihm diese Zuversicht wieder. Weil sie ihm unverhohlen zu verstehen gab, dass ihr das alles zu obskur vorkomme.

„Vergiss es“, flüsterte Jürgen Corinna ins Ohr. „Der Mann ist nie und immer der, den wir suchen. Er hat vor Jahren den qualvollen Tod seiner Frau miterlebt. Niemals würde der jemanden umbringen.“

„Jaaa, jaaa, ist ja schon guuut“, motzte sie genervt zurück und ging mit ihm etwas beiseite, weg von Stremmel. „Ist mir eigentlich auch klar, dass wir’s da nicht mit einem echten Killer zu tun haben.“

„Und uneigentlich?“

Die Oberkommissarin schaukelte bedächtig den Kopf hin und her. „Naja, das ist halt ziemlich doof alles. Da karrt er hier auf dem Festplatz ’ne Leiche hin und her. Und er merkt’s nicht.“

„Hin- und herkarren ist stark übertrieben. Das waren beim Rangieren höchstens mal 15 Meter. Die Gründe hat er Dir genannt. Und außerdem saß die Dame ja nicht auf seinem Rücksitz im PKW. Sie lag im Anhänger.

„Und trotzdem!“, fuhr sie Winter an. So, als wollte sie sagen: ‚Wer führt denn hier die Ermittlungen? Du oder ich?’ „War doch in Ordnung, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Verdächtig ist nun mal verdächtig“, glimmte sie nach.

Jürgen schaute konsterniert drein. „Aber wieso ist der Mann denn verdächtig? Weil er uns gemeldet hat, dass in seinem Pferdeanhänger eine tote Frau liegt? Wenn er der Täter wäre, hätte er mit dem Leichnam längst abhauen können. Kein Hahn hätte nach dem Mädel gekräht, das er längst irgendwo hätte einbuddeln können, bevor es überhaupt vermisst gemeldet worden wäre.“

Keine Reaktion mehr von der Kollegin. Er sah nur ihre Halsschlagadern immer weiter hervortreten. ‚Au weia, das kann heiter werden’, dachte er sich.

„In Ordnung Herr Stremmel, Sie können dann nach Hause fahren. Danke“, hatte sie noch knapp nachgelegt und dann abgedreht.

„Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben und sorry, dass Sie warten mussten“, schob Jürgen Winter hinterher. „Machen Sie’s gut.“ Er reichte Winnie die Hand und ging dann auch zum Mondeo rüber, in dem die Kollegin gerade mit hochrotem Kopf Platz genommen hatte.

„Was ist los? Wolltest Du mir die Schau stehlen? Oder was sollte das jetzt?“, empfing sie ihn spitz.

„Was sollte WAS jetzt?“

„Na, die große Verabschiedung mit Entschuldigung und so.“

„Äääh …, verstehe ich jetzt nicht. Ein wenig Höflichkeit schadet doch wirklich nicht. Uns, der Polizei, schon mal gar nicht.“ Winter war angefressen. Was war bloß los mit dieser Kollegin, fragte er sich, während er sich setzte und anschnallte.

„Und Du entscheidest, was und wer höflich ist? Ja?! Du sagst mir, wie ich mich zu verhalten habe. Das ist ja stark. Danke für die Belehrung, Herr Polizeikommissar.“

„Gerne, Frau Kollegin. Kannst ab sofort alles selbst entscheiden. Auf mich wirst Du verzichten müssen. Ich habe nämlich keine Lust, in brennender Luft zu arbeiten.“ Stinksauer stieg Jürgen Winter wieder aus und knallte die Beifahrertür von Corinnas Wagen zu.

Drinnen tobt eine Furie, hatte er den Eindruck. So war ihm die Kollegin noch nie begegnet. Was sie da drinnen schrie und warum sie ständig mit dem Finger auf ihn zeigte, wurde ihm nicht klar. Schließlich startete sie mit wutverzerrtem Gesicht ihren Mondeo und ließ ihn mit einem Riesensatz nach vorne anfahren. Dann raste sie los, dass die Steine auf dem Weg nur so spritzten. In Nullkommanix war sie um die nächste Wegbiegung verschwunden.

„Na klasse!“, brüllte Winter in den Wald hinein. „Das haben wir ja prima hingekriegt!“ Wie ein kleiner Junge, allerdings mit wesentlich mehr Schmackes, schoss er Steine auf dem Weg vor sich her, während er sich langsam per pedes in Richtung des Dorfes aufmachte. Was sollte er jetzt machen? Fußstreife laufen bis Berleburg, oder was? Er war nämlich ohne Auto. Er hatte vor einiger Zeit zwei Kollegen losgeschickt, um bei einem Frühschoppen zu schlichten. War per Funk gekommen.

„Suuuuuper gemacht, du Pfeife!“, schalt er sich. „Sieht gewiss klasse für die Leute aus, wenn ich so in Uniform durch die Gegend latsche. Das suggeriert Sicherheit.“

Er war gerade am Rand des Festplatzes an einer Dreiwegegabelung vorbei gekommen, da hörte er, wie ihm ein Wagen entgegen kam. Mit Vollgas. Dem Motorengeräusch nach konnte das nur Corinna sein. Der wollte er jetzt nicht noch mal begegnen. Daher verschwand er nach links hinter einer Art hoher Hecke in einem kleinen Wiesengelände und stolperte derart, dass es ihn fast hingehauen hätte. Zum Glück konnte er sich an einem Ast festhalten und durch das Gesträuch nach draußen Ausschau halten. Der Wagen war jetzt bedeutend langsamer und blieb fast stehen. Und dann konnte er sie sehen. Corinna, die mit verheulten Augen aus dem offenen Beifahrerfenster schaute und rief: „Ich habe gehört, hier rennen versprengte Polizisten herum, die nicht heim kommen!“

 

‚Das sollte jetzt wohl lustig sein’, dachte Winter. ‚Klang es aber nicht.’ Was sollte denn dieser Blödsinn? War die Frau nun total übergeschnappt? Er rührte sich nicht und blieb mucksmäuschenstill.

„Nun komm, Jürgen, mach’s mir nicht so schwer“, schniefte sie. „Ich will mich entschuldigen.“ Wieder Schniefen. „Ich hab’ Mist gebaut, großen Mist. Tut mir leid.“

Er rührte sich nicht. ‚Nix da. Jetzt sollst Du braten, Du Miststück.’

„Jürgen, bitte, komm da raus. Ich hab’ Dich doch um die Ecke verschwinden sehen. Ich will mich in aller Form bei Dir entschuldigen. Das war Riesenbockmist, den ich da gebaut habe. Ich glaub’, das geht mir immer so, wenn ich einen Fall mit einem Toten habe. ‚Mein Fall’, überkommt es mich dann immer. ‚Da rührt mir keiner drin rum. Da hab’ nur ich zu sagen.’ Das ist irgendwie …, ich kann’s nicht erklären. Das …, das ist irgendwie manisch.“

„Da wirst Du noch reichlich dazu … lernen müssen“, wollte er noch sagen. Aber da lag er schon auf dem Bauch. Denn als er mit Schwung hinter der Hecke vor und um die Ecke wollte, war er wieder an etwas hängen geblieben, das da am Boden lag. „Scheißast!“, motzte er, als er wieder aufstand und das Teil in der Hand hielt. Doch beim näheren Hinsehen bemerkte er, dass unter dem belaubten Ast noch etwas lag. Sah aus wie ein Männerbein in Jeans und Sportschuhen.

„Hallo!“, rief er, während er weitere Äste von dem Mann herunterzog, „meinen Sie nicht auch, dass es sich daheim zig Mal besser schlafen lässt?“ Doch der Angesprochene konnte ihn nicht mehr hören. Sein Schädel war zerschmettert, sein Mund stand weit offen und war mit Blut gefüllt. Auch aus Nase und Ohren quoll es heraus.

„Scheiße!“, brüllte Jürgen Winter. „Scheiße, Scheiße, Scheiße! Corinna, komm’ her! Ganz schnell! Komm bitte, komm’, komm’, komm’!“ Sein Geschrei hatte etwas Panisches und versetzte die Kollegin in pures Entsetzen. Schnell sprang sie aus dem Wagen, kam herum und stand, die rechte Hand auf der Waffe am Gürtel, direkt vor der aufgedeckten Männerleiche.

Corinna Lauber brachte keinen Ton heraus, schüttelte nur den Kopf. Fassungslos stierte sie auf den Toten. Zunächst unfähig, irgendetwas zu sagen. Aber dann fing sie sich und verstieg sich in ganz eigentümliche Formulierungen: „Wer, um alles in der Welt, tobt sich denn hier auf diesem wunderschönen Fleckchen Erde in so widerwärtiger Weise aus? Warum bringt er denn auf einem so tollen Fest wahllos Menschen um?“

Jürgen war traurig und wütend. Kleine Spuckefetzen flogen durch die Luft, als er rief: „Diese miese Kreatur kriegen wir, verdammt noch mal! Das schwör’ ich Dir!“

Als sie wieder halbwegs klar denken konnte, war die Kollegin zum Wagen rübergelaufen und hatte per Funk alle notwendigen Dienststellen über den neuerlichen Leichenfund informiert. Spurensicherung, Rechtsmedizin und natürlich alle verfügbaren Kräfte aus Berleburg. „Und bitte, lasst jemanden ein paar Pizzas und was zu trinken mitbringen. Das wird Überstunden geben hier.“

Kurz darauf stand sie wieder neben Jürgen Winter, vor der Leiche. Sie hatte ihr Smartphone in der Hand.

„Das ist kein schönes Souvenier“, schaltete sich Jürgen ein. „Lass doch die SpuSi die Fotos machen. Die haben sowieso immer die besseren Bilder.“

„Ich will gar net fotografieren“, wehrte sie sich. „Ich will Svens Fotos von den Bekannten mit unserem Mann vergleichen. Ich habe nämlich einen bösen Verdacht.“ Und dann riss sie die Augen auf und rief: „Tatsächlich! Hier, guck, das ist der Junge, der von vorne gesehen links von der Kathrin gesessen hat. Den erkennt man sofort. Obwohl sein Gesicht so entstellt ist. Außerdem hat er dieselben Klamotten an.“

Corinna stierte auf das Smartphone.

„Nicht zu fassen, einfach nicht zu fassen“, wiederholte sich der Kommissar ständig, während er wie ein Löwe in dem von Hecken umgebenen Geviert herumwanderte. Lediglich zum Dorf hin stand da noch eine Hütte, deren Funktion ihm nicht klar wurde. Jedenfalls waren alle Läden und die Tür sperrangelweit offen. Drinnen konnte niemand sein.

Sven Lukas dreht fast durch, als er in Berleburg von dem zweiten Stünzel-Mord erfuhr. Und wer das Opfer war. Es war Holger, dessen Nachnamen er leider nicht kannte.

Natürlich war der ‚Freak‘ nicht heimgegangen, wie Corinna gefordert hatte. Er war auf der Wache geblieben. Um eventuell über die drei Laaspher Bekannten von Kathrin etwas im Internet zu finden. Jetzt sprang er wie ein Irrer von seinem Bürostuhl auf, brüllte Flüche in den Raum und schmiss seinen kleinen ledernen ‚Wutball’ gegen die Wand. Immer wieder. Wie in Trance. Drum herum flogen Pokale von Regalbrettern und Urkunden lösten sich aus ihren Rahmen. Das Trümmerfeld war beträchtlich. Aber Sven bemerkte das alles nicht. Er war in diesem Moment im wahrsten Sinne des Wortes ‚außer sich’.

„Hey, Sven!“, rief Pattrick Born, der die Bürotür nur einen Spaltbreit aufgemacht hatte. „Sveeeeheeeen! Hör’ doch mal’n Moment auf damit. Bitte!“

Der ‚Freak‘ zuckte zusammen, folgte der Aufforderung und knetete jetzt den kleinen Ball. „Gehen wir das Schwein suchen, das sich da oben ausgetobt hat?“

„Du nicht. Aber wir“, kam’s von Pattrick zurück. „Du bist heute schon genug malträtiert worden. Halt mal den Ball nicht nur ’n bisschen flach, halt ihn lieber fest und räum’ am besten hier auf. Wenn Klaus gleich kommt, gibt’s sonst was zu hören. Da kannste einen drauf lassen.“

Der andere schaute ihn entsetzt an. „Klaus? Der hat doch noch Urlaub. Was will der denn heute hier?“

„Naja, hör mal“, Pattrick kam jetzt ganz in des ‚Freaks‘ ‚Laboratorium‘ hinein, „uns gehen die Leute aus. Und zwei Morde, mein Lieber, die stemmen wir nicht mit links. Ich habe ihn eben angerufen und über die Lage informiert. Da hat er sofort zugesagt zu kommen. Und das ist auch gut so. Weil Corinna da oben auf dem Stünzel am Rad dreht.“

„Wie kommste denn da drauf?“ Sven war ein ausgemachter Fan dieser Kollegin, nach der er sich eigentlich jeden Tag mal die Augen ausguckte. Aber das Mädel war ja nicht zu haben. „Corinna dreht am Rad. Wer hat das denn behauptet?“

„Sag’ ich nicht.“

„Jetzt komm, stell Dich nicht so an.“

„Nee, kann ich nicht.“

„Mann, jetzt mach’ mal Butter bei die Fische. Der Chef kommt aus dem Urlaub zum Dienst. Und ich darf den Grund nicht erfahren?“

„Okay. Aber behalt’s für Dich. Jürgen erzählte mir vorhin am Handy, dass die Kollegin ausgetickt wäre und ihn angeschissen hätte für nix und wieder nix. Und dann wäre sie eine Weile darauf wieder angekrochen gekommen, um sich zu entschuldigen. Sie sei manchmal einfach nicht teamfähig, habe sie eingestanden und wolle alle Entscheidungen für sich treffen.“

Der Andere begleitete diese Schilderungen mit Kopfschütteln, während er den einen oder anderen Pokal wieder vom Boden aufsammelte.

„Aber ich sag’ Dir Alter, halt bloß die Schnauze. Wenn Corinna nur ein Sterbenswörtchen davon erfährt, kriegen wir obersten Krach. Ich mag sie nämlich auch. … Jetzt nicht so auf die Art wie Du. Aber sehr.“

„Kein Thema“, antwortete der nachdenkliche Sven Lukas. „Aber was ist denn bloß los mit Corinna? Das gibt’s doch gar nicht, so was.“

Erst jetzt begriff der ‚Freak‘, was Pattrick ihm da eben mehr oder weniger ‚verbal subkutan’ untergejubelt hatte. „Was soll denn das bedeuten: ‚… nicht so auf die Art wie Du’?“

„Na, hör mal. Meinst Du, hier hätte noch niemand mitbekommen, wie sehr Du Corinna nicht nur als Kollegin, sondern auch als Frau verehrst? So blind kann man doch gar nicht sein, um das nicht mitzubekommen.“