Alltagsrassismus

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From the series: Politisches Fachbuch
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Die Justizbehörden erhielten erst im Sommer 1940 durch Hinweise aus der Bevölkerung Kenntnis von den Vorgängen. Reichsjustizminister Gürtner, den sowohl die Vorgänge selbst als auch das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage beunruhigten, drängte auf die sofortige Einstellung der heimlichen Tötung Geisteskranker. Nach seinem Tod im Januar 1941 warb sein kommissarischer Nachfolger Schlegelberger, der den Typ des reaktionären Bürokraten, keineswegs den des fanatischen Nationalsozialisten verkörperte, jedoch bei den nachgeordneten Stellen seines Ressorts ausdrücklich um Verständnis und Unterstützung für die „Euthanasie“.

Proteste aus der Bevölkerung wurden von den Kirchen aufgenommen. Der katholische Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, machte am 3. August 1941 den Krankenmord zum Thema einer Predigt. Daraufhin wurden die Tötungen erwachsener Behinderter eingestellt, die Kinder-„Euthanasie“ mit unauffälligeren Methoden wie Injektionen oder durch verhungern lassen dauerte an, ebenso die planmäßige Tötung kranker KZ-Häftlinge mit Giftgas in der „Aktion 14 f 13“ (so genannt nach ihrem Aktenzeichen). Bis zum offiziellen Stopp der „Euthanasie“ im Sommer 1941 sind 70.000 Kranke getötet worden, danach noch einmal bis zu 200.000.

Die „Aktion Gnadentod“ war der Auftakt zum systematischen Massenmord im Zeichen rassistischer Ideologie. Die Erfahrungen und das Personal der Aktion T 4 wurden wenig später, 1942, unmittelbar in den Vernichtungslagern in Polen bei der „Endlösung der Judenfrage“ eingesetzt. Der Krankenmord ab 1939 aus rassistischen Motiven gegenüber der „arischen“ Bevölkerung war ein Experimentierfeld des Judenmords, der 1941 begann.

Zu den „positiven“ Mythen des NS-Rassismus gehört die Geschichte des „Lebensborn“. Die Vorstellung, in „Begattungsheimen“ des SS-Vereins „Lebensborn“ würden blonde deutsche Mädchen mit schneidigen jungen Männern der SS zur Erzeugung rassereinen „arischen“ Nachwuchses zusammengeführt, regte die Phantasie nicht nur der Autoren von Illustrierten-Serien nach 1945 an, auch Thomas Mann hat, wie sein Tagebuch verrät, über die literarische Verarbeitung des Stoffes der „flüchtigen Stundenehe“ zur Förderung der nordischen Rasse nachgedacht. Zeitgenossen wie Nachgeborene sind zwar einem Gerücht erlegen, Rassismus war aber doch dessen Ursache.

Der Verein „Lebensborn e.V.“, vom Reichsführer SS Heinrich Himmler 1935 gegründet, folgte zwar tatsächlich bevölkerungspolitischen und „rassehygienischen“ Intentionen wie dem Kampf gegen die Abtreibung und der Erhöhung der Geburtenrate, aber Menschenzüchtung wurde im „Lebensborn“ nicht betrieben. Himmler rief zwar 1936 alle SS-Führer und drei Jahre später sämtliche Angehörige der SS (einschließlich der Polizei) dazu auf, fleißig Nachkommen zu erzeugen (vier Kinder je Familie waren erwünscht), aber die Heime des „Lebensborns“ hatten nicht die Aufgabe der operativen Umsetzung dieser Forderung. Nach der Satzung hatte der Verein, der sich durch die Zwangsmitgliedschaft aller hauptamtlichen SS-Führer finanzierte, den Zweck „den Kinderreichtum in der SS zu unterstützen, jede Mutter guten Blutes zu schützen und zu betreuen und für hilfsbedürftige Mütter und Kinder guten Blutes zu sorgen“. Die Entbindungsheime ermöglichten es unverheirateten Müttern, diskret Kinder zur Welt zu bringen. Voraussetzung war die erbbiologische Untersuchung durch SS-Ärzte. Eigene Standesämter registrierten die ca. 8000 Geburten in „Lebensborn“-Heimen. 1940 existieren neun Heime in Deutschland, elf weitere wurden in Norwegen, Belgien und Frankreich errichtet. Ab 1941 wurde vom Verein „Lebensborn“ auch die „Eindeutschung“ von „rassisch wertvollen“ Kindern aus den besetzten Gebieten vorgenommen, deren Eltern z.B. deutschen Kriegsverbrechen zum Opfer gefallen waren wie bei der Vernichtung des Dorfes Lidice als Rache für das Attentat auf Reinhard Heydrich 1942.

Die verhängnisvollste Rechtsnorm, die in der Praxis nationalsozialistischer Rassenpolitik gesetzt wurde, bildeten die „Nürnberger Gesetze“. Im September 1935 wurden vom NS-Regime auf dem „Reichsparteitag der Freiheit“ in Nürnberg die beiden „Nürnberger Gesetze“ erlassen, mit denen die deutschen Juden zu Einwohnern minderen Rechts degradiert wurden. Das „Reichsbürgergesetz“ unterschied jetzt „arische“ Vollbürger mit politischen Rechten und „Nichtarier“ als „Staatsangehörige“ ohne politische Rechte. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden und stellte sexuelle Beziehungen zwischen „Deutschblütigen“ und Juden nach dem neu im Strafgesetzbuch eingeführten Delikt „Rassenschande“ unter drakonische Strafe.

Mit den Nürnberger Gesetzen war die Emanzipation, die 1871 Juden als gleichberechtigte Bürger des Deutschen Reiches anerkannt hatte, rückgängig gemacht und der Weg zur physischen Vernichtung der Minderheit bereitet worden. Die mörderischen Konsequenz der Nürnberger Gesetze war freilich noch nicht zu erkennen, auch nicht von den Betroffenen, die jetzt ausschließlich nach rassistischen Kategorien behandelt wurden, unabhängig davon, ob sie sich selbst als Juden verstanden, einer jüdischen Kultusgemeinde angehörten oder überhaupt von ihrer jüdischen Abstammung wussten. Komplizierte Definitionen, wer Jude im Sinne der neuen Gesetze war, wer als „Mischling“ ersten oder zweiten Grades eingestuft, wer zum „Geltungsjuden“ deklariert wurde, wer den Makel „jüdisch versippt“ zu tragen hatte, wer in „privilegierter Mischehe“ (ein nichtjüdischer Ehepartner und Kinder, die getauft waren) vor Verfolgungen (nicht vor Diskriminierung) geschützt war, bestimmten den Alltag der Minderheit bis 1938, als mit dem Novemberpogrom („Reichskristallnacht“) die Entrechtung und Verfolgung bis zur Vernichtung im Holocaust einsetzte. Die nach den Nürnberger Gesetzen definierten „Mischlinge“ waren nur vorläufig vom Schicksal der Juden ausgenommen. Ebenso die jüdischen Partner in „privilegierten Mischehen“. Der Tod des christlichen Ehepartners oder Scheidung beendete den „privilegierten“ Status. Die „Nürnberger Gesetze“ sind Manifeste von staatlich verordnetem Rassismus in extremer Form. Sie trassierten den Weg nach Auschwitz: Die Ermordung der Juden begann mit ihrer Degradierung von Reichsbürgern zu Staatsangehörigen minderen Rechts.

Nationalsozialistische „Volkstumspolitik“

Die Chiffre „Lebensraum“, dem Arsenal völkischer und alldeutscher Phrasen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entnommen, wurde in der nationalsozialistischen Ideologie zur Motivierung des Expansionsdranges benutzt. Der Begriff taucht 1901 als Titel eines Essays des Geographen Friedrich Ratzel auf, wurde dann verdichtet in den sozialdarwinistischen Überlegungen der geopolitischen Schule Karl Haushofers und wurde populär durch den in den 1920er Jahren viel gelesenen Roman „Volk ohne Raum“ von Hans Grimm. Der Roman gab Hitler das Motto für das imperialistische Projekt, im Osten Europas Territorium durch koloniale Aneignung zu gewinnen. Eingebettet in die Ideologie von Blut und Boden und das „Recht des Stärkeren“ sowie die rassistische Überzeugung von der Höherwertigkeit der Germanen gegenüber slawischen Völkern, war die Vorstellung, „Lebensraum“ für das deutsche Volk erkämpfen zu müssen, eine zentrale Forderung nationalsozialistischer Außenpolitik, die durch kriegerische Auseinandersetzung eingelöst werden sollte. Die rassistische Komponente und die Richtung unterschieden die nationalsozialistische Konzeption vom traditionellen deutschen Nationalismus, der „Lebensraum“ durch Kolonien in Übersee erstrebte und nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen von 1914 wiederherstellen wollte. Die nationalsozialistische Vorstellung von „Lebensraum“ war untrennbar verbunden mit der Idee des Herrenmenschentums und dem daraus abgeleiteten Anspruch der Eroberung, Unterdrückung und Vernichtung von Menschen, die aufgrund ihrer „Rasse“ als minderwertig galten.

Der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler war seit 7. Oktober 1939 auch „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“. Damit hatte er den größten Teil der Kompetenzen zur ethnischen Neuordnung Europas nach den Vorstellungen nationalsozialistischer Ideologie, und er verfügte mit der SS über den Apparat zur Durchsetzung der „Volkstumspolitik“. Anknüpfend an seine Ende 1939 verfassten Gedanken „über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten“ gab Himmler den Befehl zur Ausarbeitung einer Gesamtkonzeption der Germanisierungspolitik in den besetzten und noch zu erobernden Gebieten Osteuropas. Das Ergebnis wurde Himmler Ende Mai 1942 vorgelegt, eine erste Fassung war Mitte 1941 entstanden. Die Denkschrift war unter Federführung des SS-Standarten-führers Konrad Meyer im Reichssicherheitshauptamt und im Stabshauptamt/Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums ausgearbeitet worden. Der Verfasser Konrad Meyer war im Zivilberuf Professor der Agrarwissenschaft. Die Denkschrift mit dem Titel „Generalplan Ost“ trug den Untertitel „Rechtliche, wirtschaftliche und räumliche Grundlagen des Ostaufbaus“ und sah als Voraussetzung ein neues Bodenrecht mit einem Bodenmonopol der SS im Osten, der „Belehnung“ germanischer Siedler auf „Siedlungsmarken“ und in 36 „Siedlungsstützpunkten“ vor.

Das Programm des „Generalplans Ost“ sollte in fünf Jahresabschnitten realisiert werden. Vier Millionen „Germanen“ sollten die Hegemonie über die verbleibende autochthone Bevölkerung in den Siedlungsmarken „Ingermanland“ (das Gebiet um Petersburg), dem „Gotengau“ (Krim und Chersongebiet) sowie in der Memel-Narev-Region ausüben. Der „Generalplan Ost“, der auf eine Umsiedlung unerwünschter Völker nach Sibirien bzw. auf deren Versklavung oder Vernichtung zielte, hatte nie eine Chance der Realisierung, bestimmte aber die Intentionen der deutschen Besatzungspolitik und war Ausdruck der rassistischen Herrenmenschen-Ideologie des Nationalsozialismus, die die Deportation und Vernichtung ethnischer Gruppen und ganzer Völker kalkulierte und ansatzweise praktizierte.

 

Der Begriff „Volksgemeinschaft“ der im Dritten Reich idealisiert war, spielt als rassistisches Politikangebot in der Werbung rechter Parteien auch heute eine Rolle. Im nationalsozialistischen Parteiprogramm von 1920 hieß es: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ Damit war das Ideal einer „völkischen“, das heißt auf rassistischer Definition beruhenden, Gesellschaft – der „Volksgemeinschaft“ – propagiert. Aus der Volksgemeinschaft waren damit von vorne herein „fremdvölkische“ Menschen ausgeschlossen, nach Willkür konnten auch „Asoziale“, Behinderte, Homosexuelle, politisch Unerwünschte und andere zu Gegnern der nationalsozialistischen Weltanschauung Erklärte aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen und als „Volksschädlinge“ verfolgt werden. Mit Parolen wie „Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“ oder „Gemeinnutz geht vor Eigennutz!“ wurde die Idee einer Staats- und Gesellschaftsordnung beschworen, die den angeblichen germanischen Ständestaat wiederbeleben sollte, in dem es keine Klassen und sozialen Schranken gegeben habe, „im Blute fundiert, durch ein 1000jähriges Leben zusammengefügt, durch das Schicksal auf Gedeih und Verderb verbunden.“

Das waren inhaltsleere Phrasen, denn auch in der NS-Gesellschaft gab es erhebliche soziale Unterschiede. Durch die „Blut und Boden“-Ideologie, die Verklärung bäuerlichen Lebens und die Darstellung deutschtümelnder Folklore bei Festen, Aufmärschen, Kundgebungen mit dem Ziel, die Menschen zu einem willenlosen und gefügigen Block zusammenzuschweißen, wurde die „Volksgemeinschaft“ inszeniert. Als Gefühlsgemeinschaft sollten die Deutschen zusammenstehen, nach außen durch Feindbilder abgegrenzt, innerlich stabilisiert in der Wahnvorstellung „arteigener“ Tradition, in einer pseudogermanischen, rassistischen Lebenswelt von „gesundem Volkstum“, im Bewusstsein, „Herrenmenschen“ zu sein. Die Ideologie der „Volksgemeinschaft“ stand zu allen Anforderungen der modernen Industriegesellschaft in krassem Gegensatz.

Flucht aus Nazideutschland

In einer ersten Emigrationswelle entzogen sich ab Frühjahr und Sommer 1933 Gegner des Nationalsozialismus, die durch parteipolitische, publizistische oder sonstige Aktivitäten exponiert waren, durch Massenflucht der Verfolgung. Es waren vor allem Funktionäre der Arbeiterbewegung, Kommunisten, Sozialdemokraten, Angehörige sozialistischer Parteien links der SPD, Journalisten und Literaten, Künstler und Intellektuelle, die den zur Macht gekommenen Nationalsozialismus fürchten mussten. Ende 1935 waren nach Angaben des Flüchtlingskommissars des Völkerbunds 6 – 8000 Kommunisten, 5 – 6000 Sozialdemokraten und etwa 5000 andere aus politischen Gründen emigriert. Insgesamt waren es etwa 30.000 Personen, die zwischen 1933 und 1939 das Deutsche Reich (einschließlich des 1938 angeschlossenen Österreich und der annektierten Sudetengebiete) verlassen hatten.

Die politische Emigration verlief in mehreren Wellen. Die erste setzte mit dem Terror der „Machtergreifungs“-Zeit ein, und zu ihr gehörten auch die Errichtung von Stützpunkten und Auslandsvertretungen bzw. des Exilvorstandes der Sozialdemokratie in Prag (Mai 1933), die Verlegung der KPD-Zentrale nach Paris und dann nach Moskau. Eine zweite politische Emigrationswelle erfolgte 1934, als einige tausend Protagonisten der österreichischen Arbeiterbewegung vor allem in die Tschechoslowakei flohen. Die dritte Welle brachte die Saar-Abstimmung 1935, als wiederum in erster Linie Angehörige der Arbeiterbewegung aus dem Saargebiet u.a. nach Frankreich fliehen mussten, weil das Territorium ihres Exils nach dem Plebiszit an das Deutsche Reich fiel. Unter diesen ca. 4000 politischen Flüchtlingen befanden sich viele, die bereits in der ersten Emigrationswelle das Deutsche Reich verlassen hatten. Nach dem Anschluss Österreichs im Frühjahr 1938 flohen nicht nur die Reste der Sozialdemokraten und Kommunisten, sondern auch christlich-soziale Anhänger des Ständestaats, bürgerliche Konservative vor Hitler vor allem in die Tschechoslowakei. Die letzte Emigrantenwelle folgte der Annexion der Sudetengebiete, 4 – 5000 Sozialdemokraten und etwa 1500 Kommunisten begaben sich im Herbst 1938 ins Exil, Aufnahmeländer dieser Gruppen waren namentlich Großbritannien und Schweden.

Die Emigration war sowohl Flucht vor Verfolgung als auch Vertreibung. Traf das erste vor allem für die Gegner des Nationalsozialismus zu, die sich im politischen Exil „mit dem Gesicht nach Deutschland“ mindestens bis zum Krieg als Kämpfer und Widerstandleistende verstanden und dann in den Exilländern in aller Welt versuchten, „das andere Deutschland“ zu verkörpern und Pläne für eine Gesellschafts- und Staatsordnung Deutschlands nach Hitler schmiedeten, so war die Emigration der deutschen Juden, die aus rassistischen Gründen diskriminiert und entrechtet wurden, immer Vertreibung. Auch wenn die Auswanderung in den ersten Jahren des Regimes freiwillig erfolgte, so geschah sie unter dem Druck des NS-Regimes.

Bis in die Kriegsjahre hinein war es erklärtes Ziel nationalsozialistischer Ideologie, die Juden aus dem Land zu treiben, dazu diente die gesetzliche und soziale Diffamierung der Minderheit. Die nationalsozialistische Politik gegenüber den Juden war indes widersprüchlich, sie forcierte deren Auswanderung durch Diskriminierung, und sie behinderte die Ausreise durch systematische Ausplünderung in Gestalt von Kontributionen, Sondersteuern, ruinösen Bestimmungen des Vermögenstransfers. Die jüdische Emigration stand unter ganz anderen Vorzeichen als der Exodus der Politiker, Wissenschaftler, Literaten und Künstler. An deren Exil hatten die Nationalsozialisten kein Interesse, im Gegenteil. Die Eingliederung „bekehrter“ Sozialisten und anderer Regimegegner in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ war erklärtes Ziel des Staats, und ebenso hätte man sich mit den Schriftstellern, Schauspielern und Musikern und anderer exilierter Prominenz (sofern sie nicht jüdisch war) gerne vor der Welt geschmückt.

Das politische Exil, und das gleiche galt in hohem Maße für Künstler und Wissenschaftler, lebte auf Zeit in der neuen Umgebung des Aufnahmelandes. Die Juden aus Deutschland überschritten die Grenzen jedoch im Gefühl der Endgültigkeit ihrer Ausreise. Sie erhofften, mit Gefühlen der Bitterkeit über die erfahrenen Demütigungen und Kränkungen, den Heimatverlust, die Verweigerung des gesellschaftlichen Status’ und politischer Rechte, neue und endgültige Existenzmöglichkeiten in der Fremde. Natürlich gab es, zumal in der ersten Emigrationswelle aus NS-Deutschland, Überschneidungen; nicht wenige Emigranten waren sowohl aus politischen Gründen wie als Juden auf der Flucht. (Und nicht wenige kehrten nach enttäuschender Emigrationszeit nach ein oder zwei Jahren sogar nach Deutschland zurück.) Die unterschiedliche Ausgangslage der politischen und der jüdischen Emigration, der konträre Erwartungshorizont änderte freilich nichts an der Gemeinsamkeit der elenden materiellen Lebensumstände. Alle Emigranten – die dünne Schicht der begehrten Prominenz ausgenommen, die wie Albert Einstein oder Thomas Mann Deutschland früh verlassen hatte und internationales Prestige genoss – waren überall nur geduldete Asylanten oder Einwanderer auf den unteren Rängen der sozialen Skala des Gastlandes, und die meisten Juden unter ihnen hatten nicht einmal die Illusion der späteren Heimkehr.

Flucht und Vertreibung der Juden aus Deutschland spiegeln in ihrer Intensität die nationalsozialistische Politik wider. 1933 verließen als Reflex auf die terroristischen Begleiterscheinungen des „Machterhalts“ 37–38.000 Juden Deutschland. Ihnen folgten 1934, in dem Jahr, in dem die Konsolidierung der NS-Herrschaft abgeschlossen war, 22 – 23.000. 1935 emigrierten 20–21.000 Juden. Das einschneidende Ereignis dieses Jahres, die Nürnberger Gesetzgebung, die Juden zu Staatsangehörigen minderen Rechts herabstufte, wirkte sich erst in der Statistik des Jahrs 1936 mit 24 – 25.000 jüdischen Emigranten aus. Die scheinbare Beruhigung der Situation im Olympiajahr 1936, als nach dem Eindruck vieler Juden der antisemitische Aktionismus des Regimes sich gemäßigt zu haben schien, zeigte sich in nur 23.000 Emigranten im folgenden Jahr 1937. Die Verschärfung der judenfeindlichen Politik, ihr Umschlagen von Diskriminierung und Verfolgung durch legislatorische Akte in brachiale Gewalt, demonstriert durch die Austreibung der polnischen Juden im Oktober 1938 und durch die Pogrome der „Reichskristallnacht“ im November 1938, führte zur größten Auswanderungswelle mit 33 – 40.000 Menschen bis Ende 1938 und 75 – 80.000 im Jahre 1939. Es war die Zeit des stärksten Auswanderungsdrucks, der durch die Inhaftierung von ca. 30.000 jüdischen Männern in Konzentrationslagern unmittelbar nach dem 9. November 1938 und durch die „Arisierung“ noch vorhandener jüdischer Unternehmen, durch die 1933 beginnenden Berufsverbote und durch die fortschreitende Entrechtung im öffentlichen und privaten Leben forciert wurde.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bedeutete das Ende der meisten Auswanderungsmöglichkeiten durch Schließung der diplomatischen Vertretungen und durch den Wegfall von Schiffspassagen und anderen Reisemöglichkeiten. 1940 konnten nur noch 15.000 Juden Deutschland verlassen, 1941 waren es noch 8.000. Trotz des Auswanderungsverbots, das am 23. Oktober 1941 erging – sechs Wochen. nach der Polizeiverordnung, die den deutschen Juden das Tragen des Judensterns befahl –, entkamen in den Jahren 1942 bis 1945 noch etwa 8.500 Juden aus Deutschland. Die Zahl der jüdischen Emigranten aus Deutschland wird auf insgesamt 278.500 geschätzt, die Zahl der Ermordeten auf 160.000.

Wegen ihrer Sozialstruktur waren die deutschen Juden in der Mehrzahl kaum auswanderungsfähig; für Akademiker und Intellektuelle bestand in den Immigrationsländern wenig Bedarf, auch kaufmännische Fähigkeiten waren nicht gefragt (wenn sie nicht mit Kapitalbesitz verbunden waren), die handwerklichen oder landwirtschaftlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, die man in Palästina brauchte und die auch in südamerikanischen Einwanderungsgebieten verlangt wurden, waren unter deutschen Juden aber selten. Der „Hilfsverein der deutschen Juden“ organisierte als zentraler Wohlfahrtsverband Kurse zur „Umschichtung“ der Berufsstruktur, d.h. im Eilverfahren wurden handwerkliche Grundkenntnisse vermittelt und die (vor allem jugendlichen) Zionisten gingen auf Hach’schara („Ertüchtigung“), um das für das Siedlerleben in Palästina erforderliche landwirtschaftliche Rüstzeug, aber auch Sprachkenntnisse in Hebräisch zu erwerben.

Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde Österreich Experimentierfeld für die durch die nationalsozialistischen Behörden forcierte Auswanderung der jüdischen Minderheit Nach der Volkszählung vom März 1934 lebten in Österreich 191.481 Personen israelitischer Konfession. Nach der rassenideologischen Definition der Nürnberger Gesetze gab es einige Tausend Juden mehr; ihre Gesamtzahl wurde auf 206.000 geschätzt Die Volkszählung vom 17. Mai 1939 wies noch 94.601 Juden im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie und 84.214 „Glaubensjuden“ aus. Es waren also rund 130.000 österreichische Juden zwischen dem „Anschluss“ und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs emigriert (65.459 österreichische Juden wurden ermordet).

Bis 1939 forcierte und bremste der NS-Staat gleichermaßen die Auswanderung der deutschen Juden. Die Verdrängung aus der Wirtschaft förderte den Emigrationswillen, aber die Ausplünderung durch Vermögenskonfiskation und ruinöse Abgaben hemmte die Auswanderungsmöglichkeiten. Kein Immigrationsland war an verarmten Einwanderern interessiert, und eine besondere Heimtücke des Regimes bestand darin, dass es den Antisemitismus zu exportieren hoffte, wenn die aus Deutschland vertriebenen Juden zum sozialen Problem in den Aufnahmeländern würden.

Die Welt verhielt sich gleichgültig gegenüber der Not der Juden. Im Juli 1938 fand in Evian am französischen Ufer des Genfer Sees eine Internationale Konferenz statt, die den Problemen der jüdischen Auswanderung aus Deutschland gewidmet war. Eingeladen hatte der amerikanische Präsident Roosevelt, gekommen waren Vertreter von 32 Staaten und vieler jüdischer Organisationen. Außer der Etablierung eines „Intergovernmental Committee on Political Refugees (IGC)“ mit Sitz in London und der vagen Zusicherung einiger Staaten, die bestehenden Einwanderungsquoten könnten in Zukunft voll ausgeschöpft werden, geschah jedoch nichts, was die Emigrationsmöglichkeiten der Juden aus Hitlers Machtbereich verbessert hätte.

 
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