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Herz und Wissen

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»Darf ich Sie bei Ihrem Vornamen nennen?« fragte sie.

»Gewiß!«

»Hören Sie. Ich möchte Sie vor meiner Abreise nicht wiedersehen – mein letztes Wort; vergessen Sie es nicht. Selbst Carmina kann Feinde haben.«

»Feinde – im Hause meiner Mutter!« rief Ovid. »Was können Sie damit meinen?«

Teresa ging wieder zu der Thür und antwortete, als sie dieselbe bereits geöffnet hatte: »Warten Sie es ab; Sie werden schon sehen.«

Capitel X

Mrs. Gallilee war gerade auf dem Wege zum Frühstückszimmer, als ihr Sohn ihr bei seiner Ankunft im Hause in der Halle begegnete.

»Bist Du mit dem Einpacken fertig?« fragte sie.

»Noch nicht«, antwortete er kurz, da er nicht in der Laune war zu warten und sein Geständniß in diesem Augenblicke zu machen.

Mrs. Gallilee ging ihm in das Zimmer voran und kündigte hier an. »Ovid’s Sachen sind noch nicht gepackt; ich glaube, er wird den Zug verpassen.«

Als Ovid in das Zimmer trat, wo die ganze Familie, die Gouvernante und die Kinder mit eingeschlossen, anwesend war, heiterte sich das abgespannte Gesicht Carmina’s, das von einer durchwachten Nacht zeugte, wieder auf, geradeso wie gestern, als sie ihn von ihrem Fenster aus erblickt hatte. Freimüthig nahm sie seine Hand und ging leicht über ihr abgespanntes Aussehen hinweg. »Nein, Cousin«, sagte sie scherzend; »ich denke, mich heute Abend meines reizenden Bettes würdiger zu machen; ich will noch nicht Ihr Patient werden.«

Obgleich der Hausherr, Mr. Gallilee, in diesem Augenblicke gerade den Mund voll hatte, konnte derselbe sich nicht enthalten, mit gutem Rathe zur Hand zu gehen. »Iß und trink’ wie ich, mein Kind«, sagte er zu Carmina, »dann wirst Du ebenso gut schlafen. Sowie die Lichter ausgelöscht sind, bin ich weg – frage meine Frau nur – und wenn ich erst einmal flach auf dem Rücken liege, dann versucht, mich vor Aufstehenszeit zu wecken. Nimm Dir einige Eier, Ovid. Sie sind gut, nicht wahr, Zo?«

Zo blickte von ihrem Teller auf und stimmte ihrem Vater durch das eine emphatische Wort bei: »Famos!« Sofort aber waltete Miß Minerva ihres Amtes. »Zoe! wie oft soll ich Dir sagen, daß Du Dich nicht so gewöhnlich ausdrücken sollst? Hast Du das Wort »famos!« je von Deiner Schwester gehört?« Dieses hochgebildete, in bewußter Tugend starke Kind, Maria, unterstützte den Protest mit ihrer Autorität: »Keine junge Dame, die sich selbst achtet, Zoe, wird sich je gewöhnlich ausdrücken.«

Mr. Gallilee war wirklich einer solchen Tochter ganz unwürdig, wie hätte er sonst, »dummes Zeug!« vor sich hin brummen können. Als Zo ihm indeß ihren Teller nach mehr hinhielt, rief er vergnügt:

»Das ist ganz mein Kind! Wir beide sind gute Esser; Zo wird ein hübsches Mädchen werden. Das ist Deine Meinung als Arzt auch, nicht wahr, Ovid?« wandte er sich an seinen Stiefsohn.

Ueber Carmina’s Gesicht zog wie ein zitternder Sonnenstrahl ein reizendes Lächeln: bei ihrer kurzen Erfahrung in England war ihr Mr. Gallilee das eine erheiternde Element im Familienleben. Mrs. Gallilee aber dachte noch an das Gepäck ihres Sohnes und an die rigorose Pünktlichkeit der Eisenbahn.

»Was macht denn Dein Diener?« fragte sie Ovid. »Er hat doch dafür zu sorgen, daß Alles rechtzeitig fertig ist.«

Da es nutzlos war, sie noch länger unter dem obwaltenden falschen Eindrücke zu lassen, so antwortete Ovid: »Meinen Diener trifft kein Vorwurf. Ich habe mich bei meinem Freunde entschuldigt – da ich nicht fortgehe.«

Für den Augenblick empfing ein zagendes Schweigen diese erstaunliche Mittheilung; nur das jüngste Mitglied der Gesellschaft, Zo, in deren sonderbarem Herzchen nach ihrem Vater nur noch Ovid einen Platz inne hatte, gab ihren Gefühlen ohne Zögern und Rückhalt Ausdruck, indem sie den Löffel hinlegte und ein »Hurrah!« ertönen ließ. Diesmal war aber selbst Miß Minerva zu sehr von der eben gehörten Offenbarung überwältigt, um für den vulgären Ausruf die nöthige Rüge zu ertheilen. Wie festgenagelt hafteten die harten schwarzen Augen auf dem Doctor. Was Mr. Gallilee anbetraf so hielt derselbe das Butterbrod, das er gerade hatte zum Munde führen wollen, vor sich in der Luft und starrte seinen Stiefsohn mit offenem Munde völlig konsterniert an.

Die erste, welche eine Erklärung forderte, war Mrs. Gallilee, die ja immer das richtige Beispiel gab. »Was hat diese außerordentliche Handlungsweise zu bedeuten?« fragte sie.

Ovid aber war für den Ton, in welchem diese Frage gestellt war, unzugänglich; er hatte bei der vorhin abgegebenen Erklärung seine Cousine angesehen, und wandte auch jetzt den Blick nicht von ihr ab. Was Carmina auch immer momentan fühlen mochte, ihr sensitives Gesicht drückte es lebhaft aus. War das schwache Durchbrechen von Farbe auf ihren Wangen, war das schnelle Aufleuchten in ihren Augen, als sie Ovid’s Blicke begegneten mißzuverstehen? Ohne noch eine Ahnung von dem Gefühle zu haben, das sie in ihm erweckt hatte, nahm sie das ihr von Ovid entgegengebrachte Interesse mit dem Stolze auf, der ein junges Mädchen unschuldig kühn macht. Mochten die Anderen über seine gebrochene Verabredung denken, was sie wollten, ihre Augen sagten offen, daß sie nur glücklich überrascht sei.

Auch Mrs. Gallilee hatte Carmina angesehen und sich das Resultat ihrer Beobachtung privatim gemerkt. Nicht gerade mit freundlicher Stimme forderte sie jetzt die Aufmerksamkeit ihres Sohnes, indem sie fragte: »Sollen wir nicht Deine Gründe hören?«

Ovid aber hatte die eine Entdeckung gemacht, an der jetzt sein ganzes Herz hing, und war so glücklich, daß er mit einer Selbstbeherrschung die seiner Mutter würdig gewesen unsre, das Geheimniß vor ihr verborgen hielt.

»Ich glaube nicht, daß gerade eine Seereise mir zuträglich sein würde«, antwortete er.

»Da hast Du Deine Ansicht ziemlich plötzlich geändert«, bemerkte Mrs. Gallilee, und Ovid gab kühl zu, daß das allerdings ziemlich plötzlich geschehen sei.

Wenn Miß Minerva die bescheiden zuhörte, einen Ausbruch erwartet hatte, so wurde sie enttäuscht, denn Mrs. Gallilee zeigte nach einer kleinen Pause der kurzen Antwort ihres Sohnes gegenüber eine Nachgiebigkeit, die ihre besondere Bedeutung haben mußte. Sie bot ihm noch eine Tasse Thee an und – was noch auffallender war – änderte das Thema, indem sie sich an ihre älteste Tochter wandte und mit mildem mütterlichen Interesse nach deren heutigen Stunden fragte.

Die Gouvernante, welche nach einem fragenden Blicke auf Ovid auf ihren Teller sah, dachte bei sich: »Ob er wohl klug genug ist zu erkennen, daß seine Mutter Unheil brütet?«

Ein Glücklicher ist indessen selten im Stande, subtile Schlüsse zu ziehen, und außerdem war Ovid ein viel zu guter Sohn, um seine Mutter zu beargwöhnen.

Mr. Gallilee, der sich mittlerweile erholt und sein Butterbrod aufgegessen hatte, bemerkte gegen seine Frau heiter: »Treib Ovid nur nicht an, meine Liebe«, worauf ihm diese aber einen Blick zuwarf, der ihn hätte vom Erdboden verschwinden lassen müssen, wenn Blicken überhaupt eine Zerstörungskraft innewohnte. So aber fuhr er, Zo noch einen Löffel voll Marmelade gebend, fort: »Als Ovid zuerst von dieser Reise sprach, warnte ich gleich vor der Seekrankheit. Ein schreckliches Gefühl das, Miß Minerva, nicht wahr? Erst scheint man in den Boden zu versinken und dann kommt auf einmal alles herauf. Sie werden nicht seekrank? Nun, dann gratuliere ich – gratuliere wirklich aufrichtig! Höre, Ovid, komm’ und diniere heute Abend mit mir im Club.« Bei diesem Vorschlage sah er seine Frau ungewiß an. »Hast Du wieder Dein Kopfweh? Ich werde Dich mit Vergnügen auf einem Spaziergange begleiten. Was ist mit ihr, Miß Minerva? Ah, ich sehe. Still! Maria will das Tischgebet sprechen. Amen! Amen!«

Alle erhoben sich und Mr. Gallilee war der Erste an der Thür. Da seine Frau das Rauchen im Hause nicht litt, so genoß er seine Morgencigarre gewöhnlich in den Anlagen draußen. Er sah sich nach Carmina und Ovid um, als ob er gern einen von ihnen zur Gesellschaft mitgenommen hätte; da er dieselben aber vor dem Vogelhause ganz in ihre Unterhaltung vertieft sah, so ergab er sich resigniert in sein Schicksal. »Nun«, seufzte er leicht, »die Cigarre leistet einem ja auch Gesellschaft.« Und da er immer jemanden haben mußte, der ihm zustimmte, so wandte er sich an Miß Minerva, die sich mit den beiden Mädchen zum Schulzimmer begeben wollte. »Sie würden das auch finden, Miß Minerva – das heißt, wenn Sie rauchten, was Sie natürlich nicht thun. Sei hübsch artig, Zo, und gieb hübsch Acht.«

»Ach, Papa, gieb uns heute frei«, flüsterte die Kleine – und sie sollte ihren Feiertag erhalten.

Mrs. Gallilee, liebenswürdig wie immer, hatte sich ihrem Sohne und ihrer Nichte vor dem Vogelhause angeschlossen und Ovid sagte zu ihr: »Carmina hat Vögel sehr gern. Ich habe ihr gesagt, daß sie im zoologischen Garten alle Vogelarten beieinander sehen kann. Es ist ein prachtvoller Tag und wir könnten hingehen.«

Die einfältigste Frau würde verstanden haben, was dieser Vorschlag wirklich bedeutete, und doch sanktionierte Mrs. Gallilee denselben so gelassen, als ob Ovid und Carmina Bruder und Schwester gewesen wären. »Ich wünschte, daß ich Euch begleiten könnte«, sagte sie, »aber ich habe den ganzen Morgen mit dem Haushalte zu thun, und heute Nachmittag findet eine Vorlesung statt, die ich unmöglich versäumen kann. Ich weiß nicht, Carmina, ob Du Dich für diese Sache interessierst. Es soll uns der Apparat vorgeführt werden, welcher die Verwandlung der leuchtenden Kraft in tönende Vibrationen zur Anschauung bringt.«

Carmina sah sie an, wie Zo sie vielleicht angesehen haben würde; die Gelehrtheit ihrer Tante schien ihr Angst einzuflößen »Ich möchte Teresa vor ihrer Abreise noch ein kleines Vergnügen machen«, sagte sie schüchtern; »darf sie uns begleiten?«

»Natürlich!« rief Mrs. Gallilee »Und da fällt mir ein – weshalb sollten die Kinder nicht auch ein kleines Vergnügen haben? Ich will denselben einen Feiertag geben. Beruhige Dich, Ovid; Miß Minerva wird auf sie achten. Sage also Deiner guten alten Freundin, daß sie sich bereit machen soll, Carmina.«

 

Carmina eilte hinweg und verhalf ihrer Tante so zu der von derselben beabsichtigten Privatunterredung mit ihrem Sohne.

Ovid erwartete, daß seine Mutter die Beweggründe herauszubringen suchen würde, die ihn zum Aufgeben der Seereise bewogen hätten, Mrs. Gallilee aber war eine viel zu kluge Frau, um auf solche Weise die Zeit zu verschwenden, und ihre ersten Worte bewiesen ihm, daß sie sein Motiv ebenso klar sah wie die durch das Fenster fallenden Sonnenstrahlen.

»Ein reizendes Mädchen«, sagte sie, als Carmina die Thür hinter sich geschlossen hatte. »Bescheiden und natürlich – ganz das Mädchen danach, Ovid, einen klugen Mann wie Dich anzuziehen.«

Ovid war vollständig überrascht und bekundete das durch sein Schweigen, während Mrs. Gallilee im Tone unschuldiger mütterlicher Neckerei fortfuhr:

»Du hast jung angefangen, weißt Du; Deine erste Liebe war das arme welke »kleine Ding Lady Northlake’s, das dann gestorben ist. Kindische Spielerei wirst Du sagen, weiter nichts. Aber, lieber Ovid, ich fürchte, es wird einiger Ueberlegung bedürfen, ehe ich mit dieser neuen – wie soll ich es nennen? – Thorheit ist ein zu hartes Wort – ganz sympathisiere. Ueber Heirathen zwischen Cousins und Cousinen läßt sich streiten, um das Mindeste zu sagen; und Mischehen zwischen protestantischen Vätern und katholischen Müttern bringen in der Regel Schwierigkeiten wegen der Kinder mit sich. Damit ist nicht gesagt, daß ich nein sage – durchaus nicht. Wenn das aber so weiter geht, nehme ich wirklich Anstand.«

Etwas im Tone seiner Mutter verletzte Ovid’s Empfindlichkeit und er erwiderte deshalb ziemlich scharf: »Ich folge Dir durchaus nicht; Du siehst etwas allzu weit in die Zukunft.«

»Dann laß uns zur Gegenwart zurückkehren« antwortete Mrs. Gallilee mit größter Nachgiebigkeit gegen die Laune ihres Sohnes.

Bei früheren Gelegenheiten hatte sie ihre Meinung dahin ausgesprochen, daß Ovid bei seiner Jugend und seinen Aussichten klug thun würde, noch einige Jahre zu warten, ehe er an’s Heirathen dächte, und nachdem sie nun, ohne irgendwie vermuthen zu lassen, daß sie sich bei Modifizierung ihrer Ansicht durch die Geldfrage beeinflussen lasse, soviel gesagt hatte, um ihn wegen ihrer Nichte zu beruhigen, war ihr nächster Zweck, ihn zu bewegen, seiner Gesundheit halber England sofort zu verlassen. War Ovid fort und Carmina allein unter ihrer Aufsicht, so konnte sie ungestört ihre Pläne verfolgen.

»Du solltest wirklich«, fuhr sie fort, »ernstlich an eine Veränderung der Luft und der Szene denken. Einem Patienten in Deinem gegenwärtigen Gesundheitszustand würdest Du nicht gestatten, die Sache mit sich so leicht zu nehmen, wie Du es jetzt mit Dir thust. Wenn Du von der See nichts hältst, so versuche es mit dem Continente; aber geh’ fort Deines eigenen Besten wegen.«

Es war hierauf nur eine Antwort möglich; Ovid gab zu, daß seine Mutter Recht hatte, bat aber um Zeit zum Nachdenken. Zu seinem Troste wurde er durch ein Klopfen an der Thür unterbrochen, durch welche gleich darauf Miß Minerva – nach ihrem Aussehen zu urtheilen, gerade nicht in liebenswürdiger Stimmung – in’s Zimmer trat.

»Ich fürchte, daß ich Sie störe«, begann sie, Mrs. Gallilee ansehend.

Ovid benutzte die Gelegenheit, sich zurückzuziehen, indem er vorgab, daß er noch einige Briefe zu schreiben habe, und darauf nach der Bibliothek ging.

»Waltet ein Irrthum ob? « fragte die Gouvernante, als sie mit Mrs. Gallilee allein war.

»In welcher Hinsicht, Miß Minerva?«

»Ihr Fräulein Nichte begegnete mir auf der Treppe und sagte mir, daß Sie, Madame, wünschten, daß die Kinder heute Feiertag haben sollten.«

»Jawohl, um mit meinem Sohne und Miß Carmina nach dem zoologischen Garten zu gehen.«

»Miß Carmina sagte, ich sollte auch mitgehen.«

da hatte Miß Carmina vollständig Recht.«

Die Gouvernante heftete ihre forschenden Augen aus Mrs. Gallilee. »Sie wünschen, daß ich mitgehe?«

»Ja.«

»Ich weiß warum.«

Mrs. Gallilee und Miß Minerva hatten sich einmal heftig gezankt, wobei erstere den Kürzeren gezogen hatte. Sie hatte sich die Lehre gemerkt und wußte für die Zukunft, wie sie ihre Gouvernante zu behandeln hatte. Sie fragte jetzt einfach: »So?«

»Reden wir offen, Madame«, fuhr Miß Minerva fort. »Ich soll Mr. Ovid«, – sie legte einen bitteren Nachdruck auf den Namen und erröthete unzufrieden – »und Miß Carmina nicht allein lassen.«

»Sie sind ein guter Rather«, äußerte Mrs. Gallilee ruhig.

»Nein«, entgegnete Miß Minerva noch ruhiger; »ich habe nur gesehen, was Sie auch gesehen haben.«

»Habe ich Ihnen gesagt, was ich gesehen habe?«

»Das ist ganz unnöthig, Madame. Ihr Herr Sohn hat sich in seine Cousine verliebt. Wann soll ich bereit sein?«

Die sanfte Hausherrin bezeichnete mild die Stunde und die heftige Gouvernante verließ das Zimmer.

Erstere sah mit eigenthümlichem Lächeln nach der geschlossenen Thür; sie hatte schon früher vermuthet, daß Minerva unglücklich liebte, jetzt hatte sie Gewißheit darüber.

»Sie ist durch eine hoffnungslose Leidenschaft verbittert«, sagte sie zu sich. »Und der Gegenstand derselben ist – mein Sohn.«

Capitel XI

Bei der Ankunft im zoologischen Garten führte Ovid seine Cousine sofort zu den Vogelhäusern. Miß Minerva, pflichtschuldigst von Maria begleitet, folgte ihnen; Teresa hielt sich etwas zurück und Zo schloß sich bald diesem, bald jenem der Gesellschaft an.

Vor den Vogelhäusern löste sich diese Ordnung auf, da die verschiedenen Vögel dem Geschmacke der Einzelnen verschieden zusagten. Die unersättlich nach nützlichen Kenntnissen strebende Musterschülerin Maria hielt ihre Gouvernante vor dem einen Käfige fest, während Zo auf einen anderen, außerhalb des Bereiches der Disciplin, zuschoß und die gute Teresa es freiwillig unternahm, sie zurückzuholen. So war Ovid auf eine Minute mit Carmina allein. Er hätte diese, wenn auch noch so kleine Gelegenheit benutzen können, aber Carmina hatte ihm etwas zu sagen und sprach zuerst.

»Ist Miß Minerva schon lange Gouvernante bei Ihrer Mutter?« fragte sie.

»Schon einige Jahre«, entgegnete Ovid. »Gestatten Sie mir auch eine Frage? Warum fragen Sie danach?«

Carmina zögerte einen Augenblick und antwortete dann im Flüstertone: »Sie sieht übellaunig aus.«

»Das ist sie auch«, gab Ovid zu. »Ich vermuthe«, setzte er mit einem Lächeln hinzu, »Sie mögen dieselbe nicht leiden.«

Carmina versuchte nicht, es zu leugnen; ihre Entschuldigung sah ganz und gar dem schönen Geschlechte ähnlich: »Sie mag mich nicht leiden.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe es ihr angesehen. Schlägt sie die Kinder?«

»Beste Carmina! glauben Sie, daß sie bei meiner Mutter Gouvernante sein würde, wenn sie die Kinder in solcher Weise behandeln? Nebenbei gesagt, ist Miß Minerva eine viel zu gut erzogene Dame, um sich durch Gewaltacte zu erniedrigen. Unglück in der Familie hat sie zu einer bedeutend niedrigeren Stellung in der Welt gezwungen.«

Er erinnerte sich dabei der Zeit, als Miß Minerva ihre jetzige Stellung angetreten hatte und der Gegenstand einer gewissen Neugier von seiner Seite gewesen war. Die Antwort, welche ihm Mrs. Gallilee gegeben hatte, als er sie einmal gefragt, weshalb sie eine so reizbare Person im Hause behalte, war gewesen: »Miß Minerva ist außerordentlich unterrichtet und ich habe sie billig bekommen.« Das sah seiner Mutter ganz ähnlich, ließ aber Miß Minerva’s Motive ganz im Dunkeln. Warum hatte sich diese hochgebildete Frau Jahre lang mit einem ihren Diensten durchaus nicht entsprechenden Lohne begnügt? Warum – um den Vorgang an diesem Morgen als anderes Beispiel zu nehmen – hatte sie, nachdem sie der Hausherrin offen ihr Mißvergnügen gezeigt, sich doch so bereitwillig und nachgiebig in die plötzliche Anordnung des Feiertages gefügt, der doch den ganzen Unterrichtsgang der Woche störte? Ovid ahnte nicht, daß der eine versöhnende Einfluß, der diese Widersprüche ausglich und jeden daraus entstehenden Zweifel beseitigte, in ihm selbst zu finden war. Für das eine unschätzbare Privilegium, in Ovid’s Gesellschaft zu sein, konnte Miß Minerva selbst das Opfer bringen, ihn im Interesse seiner Mutter zu beobachten und Zeuge der Huldigung zu sein, die er einer Anderen darbrachte.

Ehe Carmina noch weitere Fragen stellen konnte, rief sie die schrille, in den höchsten Tönen der Aufregung erklingende Stimme der kleinen Zo, die eben den interessantesten Vogel im ganzen Garten, den herabgekommenen Comödianten der Vogelwelt, die sogenannte Pfeifkrähe, entdeckt hatte, zu dem Käfige desselben; und als ob sie selbst noch ein Kind gewesen wäre, eilte sie dahin. Als die Gouvernante Ovid allein sah, ergriff sie die günstige Gelegenheit, um mit ihm zu sprechen, und die ersten Worte, welche jetzt über ihre Lippen kamen, erzählten ihre eigene Geschichte. Während Carmina die Gouvernante studiert hatte, hatte diese wiederum das junge Mädchen studiert, und das gleiche instinktive Bewußtsein der Nebenbuhlerschaft hatte bereits diese sich so ganz und vollständig unähnlichen beiden Frauen auf dem Boden eines gemeinsamen Gefühls zusammengebracht.

»Weiß Ihr Fräulein Cousine viel über Vögel?« begann Miß Minerva.

Wäre Ovid nicht im Punkte der Eitelkeit eine der Ausnahmen von der allgemeinen Regel gewesen, oder selbst, wäre seine Erfahrung von der Natur der Frauen etwas weniger dürftig gewesen, so hätte auch er Miß Minervas Geheimniß entdecken können. Denn in dem Augenblicke, als sie Carmina’s Platz einnahm, verließ sie alle Selbstbeherrschung; die steinernen schwarzen Augen, so hart und kalt, wenn sie jemand anders ansahen, flammten einen Moment in dem Alles verschlingenden Bewußtsein des Besitzes auf, als sie jetzt auf Ovid ruhten. »Er ist mein, mein für einen köstlichen Augenblick!« sprachen sie – und dann fiel der gewöhnliche Vorhang plötzlich wieder herab, und es blieb nur die Frau von Erziehung, die mit zart bekundeter Achtung mit einem distinguierten Manne sprach.

»Bis soweit haben wir noch nicht von den Vögeln gesprochen«, war Ovid’s unschuldige Antwort.

»Und doch schienen Sie sich beide dieselben anzusehen!« Dieser unbedachte Ausbruch von Eifersucht wurde aber sofort unter die undurchdringliche Oberfläche eines Complimentes zurückgedrängt: »Miß Carmina ist vielleicht, streng genommen, nicht hübsch, aber ein eigen interessantes Mädchen.«

Ovid stimmte der Gouvernante die ihm ihr besseres Ich in einem sehr angenehmen Lichte gezeigt hatte, herzlich – zu herzlich – bei, so daß ihr trotz des verzweifelten Ringens mit sich selbst, den Anschein zu bewahren, der Dämon wieder die Herrschaft über ihre Zunge entriß. »Finden Sie die junge Dame geistreich?« fragte sie.

»Gewiß!«

Es war nur ein Wort – vielleicht ein wenig zu scharf gesprochen, denn die Gouvernante zuckte unter ihm zusammen. »Es war nur eine müßige Frage meinerseits«, sagte sie mit jener pathetischen Unterwürfigkeit, die heiter und unbefangen erscheinen will; »und das ist wieder eine Warnung, Mr.Vere, nie nach dem Aeußeren zu urtheilen.« Damit sah sie ihn an und wandte sich wieder den Kindern zu.

»Arme Unglückliche!« dachte Ovid, ihr mitleidig mit den Augen folgend. »Welche Mühe sie sich giebt, ihr häßliches Temperament zu beherrschen!« Dann ging er wieder zu Carmina, von neuem Entzücken erfüllt, wieder in ihrer Nähe zu sein.

Zo war über die Pfeifkrähe noch ganz in Extase. »O, wie lustig sie ist! Sieh’ nur, wie sie den Kopf wirft! Sie macht es mir nach, wenn ich ihr etwas vorpfeife! Kaufe sie!« rief sie, Ovid in der Aufregung an den Rockschößen ziehend; »kaufe sie, und laß mich sie mit nach Hause nehmen!«

Einige Besucher, die sie hörten, fingen an zu lachen und Miß Minerva und Maria öffneten schon die Lippen, um ihr einen Verweis zu geben, als mit Zo plötzlich eine bei ihr ganz unbekannte Veränderung vorging: sie wurde auf einmal still und artig, so daß jeder Verweis überflüssig wurde – und dies Wunder hatte Ovid bewirkt, ohne es selbst zu wissen. Zum ersten Male im Leben hatte er sich an den Rockschößen ziehen lassen, ohne sofort auf sie zu achten. Nach wem sah er? Es war nur zu leicht zu sehen, daß Carmina ihn ganz für sich in Anspruch genommen hatte. Der Kleinen schwoll das eifersüchtige kleine Herz im Busen an; in perplexem Schweigen starrte sie den Freund an, der sie bis jetzt noch nie enttäuscht hatte, und allmählich begann sie sich mit ihrer langsamen Fassungskraft die Entdeckung eines Etwas in seinem Gesichte zu verwirklichen, das ihn schöner als je erscheinen ließ und das sie noch nie darin gesehen hatte. Als sie sich von den Vogelhäusern ab den Gehegen zuwandten, welche die größeren Vögel enthielten, folgte Zo ihnen so ruhig, daß ihre ältere Schwester (die Gefahr lief, eine Rivalin in der guten Aufführung zu bekommen) sie voll unverhüllter Unruhe ansah.

 

Von Maria (welche die Nothwendigkeit einer Behauptung ihres Charakters fühlte) angeregt, begann Miß Minerva eine Vorlesung über Kraniche, welchen Stoff ihr die in Erwartung eines Leckerbissens an sie heran hüpfenden Vögel mit den zerbrechlich aussehenden Beinen eingaben. Ovid war ganz von der Aufmerksamkeit gegen seine Cousine in Anspruch genommen, der er beim Füttern der Vögel beistand, da er sich mit etwas Brod versehen hatte; Eine Person aber beobachtete Zo noch jetzt, nachdem deren sonderbares Verfallen in gutes Benehmen den Reiz der Neuheit verloren hatte – das war die alte Teresa. Das Kind wurde ganz offenbar im Geheimen durch etwas beunruhigt, und sie glaubte zu wissen, was das war.

Die Kleine näherte sich Ovid wieder, entschlossen, der Veränderung in ihm auf den Grund zu kommen, wenn dies durch Beharrlichkeit erreicht werden konnte. Er sprach so vertraulich mit Carmina, daß er ihr beinahe in’s Ohr flüsterte, und Zo beobachtete ihn, ohne es zu wagen, seine Schöße wieder anzufassen. Miß Minerva bot Alles auf, um in ihrem Vortrage über Kraniche gelassen fortzufahren. »In Flügen ziehen diese Vögel periodisch über die südlichen und mittleren Länder Europa’s« – Sie sah Ovid an, und der Athem verjagte ihr: sie konnte nicht weiter sprechen. Da unterbrach Zo diese wahnsinnig machenden Vertraulichkeiten, indem sie in verzweifeltem Verlangen nach Aufschluß diesmal Carmina kühn an den Taillenschößen zupfte.

»Was hast Du, liebe Zo?« fragte. diese, sich sofort umwendend.

»Höre!« flüsterte die Kleine, mit großen Thränen der Entrüstung in den Augen auf Ovid zeigend, »will er Dir die Pfeifkrähe kaufen?«

Zu Zo’s Verwirrung fingen beide an zu lachen. Sie trocknete sich die Augen mit den geballten Händen und wartete mürrisch auf Antwort. Dann beruhigte Carmina der Kleinen Gemüth in liebevollster und liebenswürdigster Weise und Ovid unterstützte sie dabei, indem er das Schwesterchen auf die Wange klopfte. Nachdem sie so endlich beachtet wurde und zu ihrer Befriedigung vernahm, daß der Vogel für Niemanden gekauft werden sollte, war Zo’s Empfindlichkeit besänftigt und damit schwand dann auch gleich darauf ihre Eifersucht, und nach einem geistige Anstrengung andeutenden, viel verkündenden Zusammenziehen der Augenbrauen zog sie plötzlich Carmina in ihr Vertrauen.

»Sage Ovid nichts davon«, begann sie. »Ich habe Jemanden gesehen, der gerade so aussah wie er.«

»Wann, liebe Zo?«

»Alls sein Gesicht dicht an dem Deinigen war«, antwortete die Kleine, die Frage auf die gegenwärtigen Umstände beziehend.

Ovid, der diese Antwort hörte und sein Halbschwesterchen zur Genüge kannte, um Verlegenheiten vorauszusehen, wenn er die Conversation nicht unterbräche, nahm Carmina’s Arm und führte sie weiter.

Die Gouvernante folgte ihnen hartnäckig und mit ihr Maria, die über die Wanderung der Kraniche erst unvollständig aufgeklärt war. Teresa hatte zugehört und trat jetzt zu der Kleinen, die sich nach einem anderen Zuhörer umsah. Die Alte war selbst, was die thörichte Menge eine »komische« Person nennt, und wurde von diesem drolligen Kinde angezogen. «Ihrer Ansicht nach war es ein viel höheres Vergnügen, Zo’s Gemüth zu erforschen, als sich die Thiere anzusehen. Sie nahm jetzt aus der Reisetasche, die sie immer bei sich hatte, eine Tafel Chokolade und bot dieselbe der Kleinen an. Diese sah sie groß an und that dann einen Probebiß in das verführerische, von Vanille duftende Gebäck, das ihr durch keinen Rath, nicht gierig zu sein und sich nicht krank zu machen, verbittert wurde. Und diesen günstigen Moment benutzte die schlaue Duenua.

»Wer war der Jemand, den Du gesehen hast und der geradeso wie Mr. Ovid aussah?« fragte sie in dem Tone der Gleichberechtigung, der Kindern im Verkehr mit älteren Leuten immer schmeichelt. Und Zo war so stolz darauf, ihr Gespräch durch eine erwachsene Fremde weiter bringen zu lassen, daß sie sogar die Chokolade vergaß. »Ich wollte noch mehr sagen«, erklärte sie. »Möchtest Du es gern hören?«

»Sehr gern.«

Zo zögerte, denn es war für den unreifen Geist, den Miß Minerva so unbarmherzig überladen hatte, keine leichte Aufgabe, ihrem Gedankengange durch Worte Ausdruck zu geben. Doch geleitet von der gütigen Mutter Natur (der besten aller Gouvernanten!) fand Zo mittels Fragen den Weg aus diesem Labyrinthe.

»Kennst Du Joseph?« begann sie.

Teresa hatte den Bedienten so nennen hören und bejahte.

»Kennst Du auch Mathilde?«

Die Alte hatte das Hausmädchen so nennen hören und bejahte wieder, ja sie half jetzt ihrer kleinen Freundin durch eine Vermuthung.

»Du hast Mr. Ovid ’s Gesicht dicht an dem Carmina’s gesehen.«

Zo nickte aufgeregt.

»Und früher hast Du Joseph’s Gesicht dicht an dem Mathilden’s gesehen.«

»Ich habe gesehen, daß Joseph sie geküßt hat!« platzte Zo mit einem Ausruf des Triumphes heraus. »Warum küßt denn Ovid Carmina nicht auch?«

»Weil die Gouvernante im Wege ist«, ertönte plötzlich eine tiefe Baßstimme zwischen ihnen und ein dickes Bambusrohr deutete über ihre Köpfe auf Miß Minerva. Zo erkannte den Stock sofort und ergriff ihn, und Teresa, die sich umwandte, sah sich einem merkwürdigen Manne gegenüber.