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Blinde Liebe

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Viertes Kapitel

Als Miß Henleys Pate genoß Sir Giles gewisse Vorrechte. Er legte seine dicht behaarte Hand auf ihre Schulter und küßte sie auf beide Wangen. Nach dieser zärtlichen Begrüßung begann er sie auszufragen. Welches außerordentliche Zusammentreffen von Ereignissen hatte Iris bestimmt, London zu verlassen, und sie in sein Bankhaus nach Ardoon geführt?

»Ich wollte von Hause fort,« antwortete sie, »und da ich niemand habe als meinen Paten, zu dem ich gehen könnte, so bin ich hierher gekommen zu Ihnen.«

»Allein?« rief Sir Giles.

»Nein, ich habe mein Mädchen als Begleiterin mitgenommen.«

»Nur Ihr Mädchen, Iris? Sie haben doch sicherlich unter den jungen Damen, die mit Ihnen gleichalterig sind, Bekannte!«

»Bekannte – ja! Freundinnen – nein!«

»Hat denn Ihr Vater zu Ihrem Unternehmen seine Zustimmung gegeben?«

»Wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?«

»Wenn ich kann – ja.«

»Verlangen Sie von mir keine Antwort auf Ihre letzte Frage.«

Die bleiche Farbe, welche ihr Gesicht bedeckt hatte, als sie das Zimmer betrat, war verschwunden. Ebenso änderte sich der Ausdruck um ihren Mund. Die Lippen schlossen sich krampfhaft und verrieten einen unabänderlichen Entschluß, hervorgerufen durch das bestimmte Gefühl erlittenen Unrechts. Sie sah älter aus, als sie in Wirklichkeit war; wie sie einmal in zehn Jahren sein mochte, so war sie jetzt. Sir Giles verstand sie. Er stand auf und wanderte im Zimmer umher. Eine alte Gewohnheit, die er mit unendlicher Schwierigkeit, als er Baronet geworden war, unterdrückt hatte, kam von neuem zum Vorschein: er steckte seine Hände in die Taschen.

»Sie und Ihr Vater haben sich wieder einmal veruneinigt,« sagte er, vor Iris stehen bleibend.

»Ich leugne es nicht,« antwortete sie.

»Wer ist daran schuld?«

Sie lachte bitter.

»Die Frau ist immer der schuldige Teil.«

»Hat das Ihnen Ihr Vater gesagt?«

»Mein Vater erinnerte mich daran, daß ich an meinem letzten Geburtstag einundzwanzig Jahre alt geworden sei, und sagte mir, ich könnte thun, was mir beliebte. Ich verstand ihn und verließ das Haus.«

»Sie werden doch wohl wieder zurückkehren?«

»Ich weiß nicht.«

Sir Giles begann wiederum das Zimmer zu durchschreiten. Seine markirten Züge, die von Unglück und Kampf im früheren Leben erzählten, zeigten Spuren von Mißvergnügen und Trauer.

»Hugh versprach mir,« sagte er, »zu schreiben, hat es aber nicht gethan. Ich weiß, was das bedeutet, und weiß auch, wodurch Sie Ihren Vater erzürnt haben. Mein Neffe hat Sie schon zum zweitenmale gebeten, seine Frau zu werden. Und zum zweitenmale haben Sie ihm eine abschlägige Antwort gegeben.«

Ihr Gesicht erhellte sich und erhielt seinen besseren und jüngeren Ausdruck wieder.

»Ja,« sagte sie traurig und niedergeschlagen, »ich habe ihn zum zweitenmale abgewiesen.«

Sir Giles verlor seine Ruhe.

»Was in aller Welt haben Sie denn an Hugh auszusetzen?« brach er los.

»Mein Vater sagte dasselbe zu mir,« entgegnete sie, »fast mit den nämlichen Worten. Ich erzürnte ihn, als ich versuchte, ihm meine Gründe auseinanderzusetzen. Ich habe keine Lust, Sie auch noch böse zu machen.«

Er nahm keine Notiz von diesen letzten Worten.

»Ist Hugh nicht ein guter Junge?« fuhr er zu fragen fort. »Ist er nicht freundlich und gutherzig und ehrenhaft? Ist er nicht ein hübscher Mensch, wenn wir auch darauf kommen wollen?«

»Hugh ist alles das, was Sie sagen. Ich habe ihn gern, ich bewundere ihn, ich verdanke seiner Güte einige der glücklichsten Tage meines traurigen Lebens und bin ihm dankbar – o, von ganzem Herzen bin ich Hugh dankbar!«

»Wenn das wahr ist, Iris –«

»Jedes Wort davon ist wahr.«

»Wenn das wahr ist, sage ich – dann gibt es für Sie keine Entschuldigung, Iris. Ich hasse bei einem jungen Mädchen Eigensinn. Warum heiraten Sie ihn dann nicht?«

»Versuchen Sie es, wie ich zu fühlen,« antwortete sie sanft; »ich kann ihn nicht lieben.«

Der Ton ihrer Stimme sagte dem Bankier mehr, als ihre Worte hätten ausdrücken können. Den geheimen Kummer ihres Lebens, der ihrem Vater bekannt war, kannte auch Sir Giles.

»Jetzt sind wir endlich auf das Richtige gekommen,« sagte er. »Sie können also meinen Neffen Hugh nicht lieben. Und Sie wollen mir den Grund dafür nicht sagen, weil Ihr empfindliches, zartes Gemüt davor zurückschreckt, mich zu erzürnen. Soll ich Ihnen den Grund nennen, mein Kind? Ich kann es mit zwei Worten – Lord Harry.«

Sie antwortete darauf nicht und gab überhaupt durch kein Zeichen zu erkennen, daß sie seine Worte verstanden hatte. Sie neigte den Kopf ein wenig und faltete die Hände auf ihrem Schoß; das hartnäckige Stillschweigen, das alles ertragen kann, machte ihr Gesicht hart und ihre Gestalt steif – das war aber auch alles.

Der Bankier war entschlossen, ihr nichts zu ersparen.

»Es ist leicht ersichtlich,« fuhr er fort, »daß Sie in Ihrer thörichten Verblendung für diesen Lump noch immer befangen sind. Er mag gehen, wohin er will, an die verrufensten Orte und unter die gemeinsten, schlechtesten Menschen, er zieht Ihr Herz stets mit sich. Ich bin erstaunt, daß Sie sich nicht einer solchen Neigung schämen.«

Diese Worte trafen sie doch. Sie erhob sich lebhaft und antwortete ihm.

»Harry hat ein wildes Leben geführt,« sagte sie; »er hat sich schwere Vergehen zu schulden kommen lassen, und er mag es auch jetzt noch toller treiben, als er bisher gethan hat. Zu welcher Erniedrigung, in welche schlechte Gesellschaft und Schule dies ihn bringen mag, das sich auszumalen überlasse ich seinen Feinden. Ich sage Ihnen aber dies eine: er besitzt Eigenschaften, die das alles vergessen machen, die Sie und Leute Ihrer Art indessen niemals entdecken werden, weil Sie dazu viel zu wenig gute Christen sind. Er hat Freunde, die ihn noch würdigen können – Ihr Neffe Arthur Mountjoy ist unter ihnen. O, ich weiß es durch Arthurs Briefe an mich! Verdammen Sie Lord Harry, so viel Sie wollen, er hat noch die Fähigkeit zu bereuen, sage ich Ihnen, und eines Tages – wenn auch wahrscheinlich zu spät, wie ich leider hinzusetzen muß – wird er es beweisen. Ich kann niemals seine Frau werden. Wir sind getrennt für immer; niemals wird es für uns wieder einen Anknüpfungspunkt geben. Aber er ist der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe, und er wird auch der einzige sein, den ich in Zukunft lieben werde. Wenn Sie glauben, daß diese Liebe den Beweis liefert, daß ich ebenso schlecht bin wie er, ich werde Ihnen nicht widersprechen. Weiß denn überhaupt einer von uns, wie schlecht er ist? Haben Sie neuerdings etwas von Harry gehört?«

Der plötzliche Uebergang von der so ernsten und warmen Verteidigung des Mannes zu einer so gewöhnlichen, bedeutungslosen Frage nach ihm überraschte Sir Giles.

Er wußte im Augenblick nichts darauf zu erwidern; Iris hatte ihm zu denken gegeben. Sie hatte bewiesen, daß sie ihre heftigsten Gefühle zu beherrschen verstand gerade in dem Moment, wo sie sie zu überwältigen drohten, und das findet man selten bei jungen Mädchen. Wie man sie beeinflussen und leiten könnte, das war eine Aufgabe, deren Lösung ruhiger Ueberlegung bedurfte. Sein Eigensinn mehr noch als seine Ueberzeugung hatten den Bankier immer noch an der Hoffnung einer schließlichen Heirat seines Neffen mit Iris festhalten lassen, selbst dann noch, als Hughs Werbung zum zweitenmale einen abschlägigen Bescheid erhalten hatte. Sein ebenso starrköpfiges Patenkind war gekommen aus eigenem Antrieb, ihn zu besuchen. Sie hatte die Tage ihrer Kindheit nicht vergessen, in denen er einigen Einfluß auf sie gehabt und sich ihr liebevoller gezeigt hatte, als ihr Vater jemals gewesen war. Sir Giles erkannte, daß er gegen Iris einen falschen Ton angeschlagen. Sein Aerger hatte sie nicht beunruhigt, seine Meinung nicht beeinflußt. In Hughs Interesse beschloß er, zu versuchen, was Ueberlegung und Nachsicht thun könnten, um sein Ansehen bei ihr zu vergrößern. Nachdem er gehört, daß ihr Mädchen und ihr Gepäck im Gasthof zurückgeblieben waren, bestand er darauf, daß sie in seinem Hause Wohnung nehme, und ließ das Mädchen samt den Sachen holen.

»So lange Sie in Ardoon bleiben, Iris, sind Sie mein Gast,« sagte er.

Sie machte ihm die Freude, seine Einladung bereitwillig anzunehmen, ärgerte ihn aber gleich nachher durch die nochmalige Frage, ob er nichts von Lord Harry gehört habe.

Er antwortete kurz und scharf:

»Ich habe nichts gehört. Was sind denn Ihre letzten Nachrichten über ihn?«

»Nachrichten,« sagte sie, »die, wie ich zuversichtlich hoffe, sich als unwahr erweisen werden. Eine irische Zeitung wurde mir zugesandt, welche meldete, er sei der geheimen Gesellschaft beigetreten, die, wie ich fürchte, nichts Besseres ist als eine Mörderbande. Sie ist bekannt unter dem Namen der ›Unüberwindlichen‹.«

Gerade als sie diese furchtbare Verbindung erwähnte, kehrte Dennis Howmore von dem Polizeiamt zurück. Er brachte die Meldung, daß ein Sergeant da sei, um die Befehle Sir Giles' zu empfangen.

Fünftes Kapitel

Iris erhob sich, um zu gehen. Ihr Pate aber hielt sie höflich zurück.

»Warten Sie, bitte, hier so lange,« sagte er, »bis ich mit dem Sergeanten gesprochen habe. Ich werde Sie dann selbst in mein Haus bringen. Mein Commis wird alles Nötige im Hotel besorgen. Sie sehen nicht sehr befriedigt aus. Gefällt Ihnen das von mir vorgeschlagene Arrangement nicht?«

Iris versicherte ihn, daß sie vollständig damit einverstanden sei. Zugleich aber gestand sie, daß sie die Entdeckung seines Verkehrs mit der Polizei etwas überrascht habe.

»Ich erinnere mich aber jetzt, daß wir in Irland sind,« fuhr sie fort, »und ich bin thöricht genug, zu fürchten, Sie könnten in irgend welcher Gefahr schweben. Ich hoffe jedoch, daß es sich nur um einen schlechten Scherz handelt.«

Nur ein schlechter Scherz! Außer anderen, zarteren Gefühlen, die Iris' herber Natur fehlten, hatte Sir Giles auch noch bemerkt, daß das junge Mädchen nur sehr unvollkommen seine angesehene soziale Stellung zu würdigen verstand. Das war ein neuer Beweis dafür. Der Versuchung zu widerstehen, seinem einsichtslosen Patenkind Gefühle der Angst – untermischt mit Bewunderung – zu erwecken dadurch, daß er sich als eine durch eine Verschwörung öffentliche Persönlichkeit hinstellte, das war mehr, als der Eitelkeit des Bankiers möglich war. Bevor er das Zimmer verließ, trug er Dennis auf, Miß Henley zu erzählen, was vorgefallen war, und sie selbst entscheiden zu lassen, ob er sich unnötigerweise durch das, was sie einen ›schlechten Scherz‹ zu nennen beliebte, beunruhigen lasse.

 

Dennis Howmore müßte kein Mensch gewesen sein, wenn er eine Erzählung von den Ereignissen hätte geben können, die ganz unbeeinflußt von seiner eigenen Ansicht über die Lage der Dinge geblieben wäre. Bei der ersten Erwähnung von Arthur Mountjoys Namen zeigte Iris ein plötzlich so reges Interesse für die eigentümliche Geschichte, daß Dennis überrascht seinen Bericht durch die Frage unterbrach:

»Kennen Sie Herrn Arthur?«

»Ihn kennen?« wiederholte sie. »Er war mein Spielkamerad, als wir beide noch Kinder waren. Er ist mir so lieb, als wenn er mein Bruder wäre. Sagen Sie mir's nur gleich ganz offen – schwebt er wirklich in Gefahr?«

Dennis wiederholte getreulich das, was er schon Sir Giles hierüber gesagt hatte. Miß Henley stimmte mit ihm in allen Punkten überein und fühlte das lebhafteste Verlangen, Arthur über seine Lage aufzuklären und zu warnen. Aber es gab keine telegraphische Verbindung mit der Ortschaft, in deren Nähe sein Gut lag. Sie konnte ihm nur schreiben, und das that sie auch und schickte den Brief noch am gleichen Tag ab, ohne ihn Dennis zu zeigen, aus Gründen, die sie nur persönlich angingen. Wohl bekannt mit der innigen Freundschaft, welche Lord Harry und Arthur Mountjoy verband, und in Erinnerung an den Zeitungsbericht über den tollkühnen Anschluß des irischen Lords an die »Unüberwindlichen«, identifizirten ihre Befürchtungen den vornehmen Vagabunden mit dem Schreiber der anonymen Briefe, welche so ernstliche Bedenken für seine Sicherheit in ihrem Paten geweckt hatten.

Als Sir Giles zurückkam und sie mit sich in seine Wohnung nahm, sprach er über seine Unterredung mit dem Sergeanten in Ausdrücken, die ihre Furcht betreffs dessen, was sich in Zukunft ereignen würde, nur vergrößerte. Sie war ein trauriger und stiller Gast während der Zeit, die vergehen mußte, ehe sie eine Antwort Arthurs auf ihren Brief erhalten konnte. Der Tag kam; aber die Post brachte ihr keine Erlösung aus ihrer Angst. Auch der nächste ging vorbei, ohne daß der heiß ersehnte Brief gekommen war. Am Morgen des vierten Tages stand Sir Giles später als gewöhnlich auf. Die Korrespondenz wurde ihm vom Geschäft gerade, während er am Frühstückstische saß, zugesandt. Nachdem er einen der Briefe geöffnet und durchgelesen hatte, schickte er sofort in größter Eile einen Boten auf das Polizeiamt.

»Sehen Sie hier!« sagte er zu Iris und reichte ihr den Brief. »Hält mich denn der Mordgeselle für einen Narren?«

Sie las folgende Zeilen:

»Unvorhergesehene Ereignisse zwingen mich, Sir Giles, ein gefährliches Wagnis auszuführen. Ich muß Sie sprechen. Das kann aber nicht am Tage sein; meine einzige Hoffnung auf Sicherheit beruht in der Dunkelheit. Wir wollen uns am ersten Meilenstein auf der Straße nach Garvan, wenn der Mond um zehn Uhr abends untergeht, treffen. Ihren Namen zu nennen ist nicht nötig. Die Parole lautet: ›Treue.‹«

»Und wollen Sie gehen?« fragte Iris.

»Ob ich ermordet werden will?« fuhr Sir Giles auf. »Mein liebes Kind, versuchen Sie doch erst, es sich zu überlegen, bevor Sie sprechen. Der Sergeant wird natürlich an meiner Stelle hingehen.«

»Und den Mann arretiren?« fügte Iris hinzu.

»Gewiß!«

Mit dieser wenig tröstlichen Antwort eilte der Bankier hinaus, um den Polizeimann in dem andern Zimmer zu empfangen. Iris sank in den nächsten Stuhl. Die Wendung, welche die Sache jetzt genommen hatte, erfüllte sie mit unaussprechlicher Angst.

Sir Giles kam nach nicht sehr langer Zeit zurück, beruhigt lächelnd; die ganze Angelegenheit hatte einen ihn vollständig befriedigenden Verlauf genommen.

Der Sergeant sollte sich zu der verabredeten Zeit an den Meilenstein begeben und so in der Dunkelheit den Bankier vorstellen und die Parole nennen. Zwei seiner Leute sollten ihm folgen und in Ruhe warten, bis sein Pfiff ihnen sagte, daß ihre Hilfe erforderlich sei.

»Ich will den Schurken sehen, wenn er sicher gefesselt ist, und habe es daher so eingerichtet, daß ich um Mitternacht die Polizei in meinem Comptoir erwarte.«

Es blieb nur ein verzweifelter Weg offen, den Iris jetzt noch einschlagen konnte, um den Mann zu retten, der sein Vertrauen auf ihres Paten Ehre gesetzt hatte und dessen guter Glaube schon so schmählich betrogen worden war. Niemals hatte sie den geächteten irischen Lord – den Mann, den zu heiraten ihr versagt war, und zwar aus guten Gründen versagt – so geliebt wie in diesem Augenblick. Mochte das Wagnis noch so gefährlich sein, dem entschlossenen jungen Mädchen war eines klar, der Sergeant durfte und sollte nicht der einzige sein, der an den Meilenstein ging und dort die Parole nannte. Dafür war ein dem Lord Harry mit Leib und Seele ergebener Freund da, auf den sie immer bauen konnte – und dieser Freund war sie selbst.

Sir Giles begab sich wieder in das Bankhaus, um nach den Geschäften zu sehen. Iris wartete, bis die Uhr die Stunde anzeigte, zu der die Dienerschaft zu essen pflegte. Dann stieg sie leise die Treppe hinunter, die zu dem Ankleidezimmer ihres Paten führte. Sie öffnete die Garderobekammer und entdeckte in der einen Ecke einen großen und weiten spanischen Mantel und in der andern Ecke einen breitkrämpigen Filzhut, den der Bankier bei Ausflügen aufs Land zu tragen pflegte. Damit konnte sie sich in Anbetracht der Dunkelheit für ihren Zweck genügend verkleiden.

Als sie das Ankleidezimmer wieder verließ, fiel ihr eine Vorsichtsmaßregel ein, die sie auch sofort befolgte. Sie sagte ihrem Mädchen, sie habe mehrere Besorgungen in der Stadt zu machen, und ging weg. Auf der Straße fragte sie den ersten anständig aussehenden Fremden, der ihr begegnete, nach der Straße von Garvan. Ihre Absicht war, noch bei Tage bis zu dem ersten Meilenstein zu gehen, damit sie sicher sein könnte, daß sie ihn auch bei Nacht finden würde. Sie merkte sich genau die verschiedenen Gegenstände am Wege, als sie zum Hause des Bankiers zurückkehrte.

Als die verabredete Zeit der Begegnung näher rückte, wurde Sir Giles zu ungeduldig, zu unruhig, um zu Hause warten zu können. Er begab sich auf das Polizeiamt, begierig zu hören, ob den Behörden wieder eine neue geheime Verschwörung bekannt geworden sei.

In dieser Jahreszeit wurde es schon bald nach acht Uhr dunkel. Um neun Uhr versammelten sich die Dienstboten zum Abendessen. Sie waren zu diesem Zweck alle im Untergeschoß und erwarteten unter lebhaften Gesprächen das Essen.

Als die Glocke neun Uhr schlug, hüllte sich Iris in ihre Verkleidung, um zur rechten Zeit an den verabredeten Ort zu kommen, ohne auf dem Wege dem Sergeanten zu begegnen. Sie verließ, von niemand bemerkt, das Haus. Wolken bedeckten den Himmel. Der abnehmende Mond war nur zuweilen sichtbar, als sie auf der Straße nach Garvan dem Meilenstein zueilte.

Sechstes Kapitel

Der Wind erhob sich ein wenig, und die Spalten in den Wolken begannen breiter zu werden, als Iris die Landstraße erreichte.

Eine Zeit lang erhellte der Schimmer des trüben Mondlichts den Weg vor ihr. Soviel sie erkennen konnte, bevor sich der Himmel wieder verfinsterte, hatte sie schon mehr als die Hälfte der Entfernung zwischen der Stadt und dem Meilenstein zurückgelegt. Die Gegenstände zu beiden Seiten des Weges lagen im Dunkeln und waren daher nur schwer zu unterscheiden. Ein leichter Sprühregen begann niederzufallen. Der Meilenstein befand sich, wie sie von dem Spaziergang, den sie am hellen Tag hierher gemacht hatte, noch wußte, auf der rechten Seite der Straße. Der Stein war aber wegen seiner stumpfen grauen Farbe in der herrschenden Finsternis nicht leicht zu entdecken.

Der Gedanke beunruhigte sie, sie könnte schon an dem Meilenstein vorübergegangen sein. Sie blieb stehen und betrachtete den Himmel.

Der Regen hatte wieder aufgehört, und es war begründete Aussicht vorhanden, daß die Wolken sich von neuem zerteilen und so das Mondlicht durchscheinen lassen würden. Sie wartete. Schwach und trübe fielen die letzten Strahlen des untergehenden Mondes auf die dunkle Erde. Vor ihr war nichts zu sehen als der Weg. Iris blickte zurück und entdeckte den Meilenstein.

Eine roh zusammengefügte Steinmauer schützte den Weg auf jeder Seite. Ungefähr hinter dem Meilenstein befand sich ein Loch in dieser Mauer, zum Teil von einem Gestrüpp verdeckt. Eine halb zerstörte Schleuse überwölbte einen ausgetrockneten Graben und bildete eine Brücke, die von der Straße auf das Feld führte. Hatte sich die Polizei nun das Feld ausgesucht, um sich zu verstecken? Nichts war zu erkennen als ein Fußpfad und darüber hinaus ein nur undeutlich wahrnehmbarer Strich angebauten Landes. Während sie diese Entdeckungen machte, begann der Regen wieder zu fallen. Die Wolken zogen sich von neuem zusammen; das Mondlicht verschwand.

In demselben Augenblick stieg vor ihrem Geist ein Hindernis auf, das Iris bis jetzt nicht im entferntesten in Betracht gezogen.

Lord Harry konnte sich nämlich von drei verschiedenen Seiten dem Meilenstein nähern, das heißt, entweder auf dem Weg, der von der Stadt herkam, oder auf dem Weg, der aus dem offenen Land zu dem Meilenstein führte, oder endlich drittens auf dem Fußpfad über das Feld und die halb verfallene Grabenüberbrückung. Wie konnte sie sich nun so aufstellen, daß sie im stande sein würde, ihn zu warnen, bevor er in die Hände der Polizei fiel? Alle drei Annäherungswege in der Dunkelheit der Nacht und zu ein und derselben Zeit zu überwachen, war einfach unmöglich.

Ein Mann in dieser Lage würde, geleitet von der Vernunft, aller Wahrscheinlichkeit nach die kostbare Zeit mit vergeblichen Versuchen, die richtige Entscheidung zu treffen, vergeudet haben. Ein Weib aber, von Liebe beherrscht, überwindet die Schwierigkeit in dem Augenblick, da sie sich ihr entgegenstellt.

Iris beschloß, zu dem Meilenstein zurückzukehren und dort zu warten, bis die Polizei sie bemerken und verhaften würde. Wenn dann Lord Harry pünktlich zur verabredeten Stunde kommen würde, so würde er als notwendige Folge der Verhaftung Stimmen und Geräusch vernehmen und noch zur rechten Zeit entfliehen können. Im Fall er aber zu spät käme, so würde die Polizei mit ihrem Fang schon wieder auf dem Rückweg nach der Stadt sein; er würde niemand mehr am Meilenstein finden und denselben ungefährdet wieder verlassen können.

Sie stand eben im Begriff, sich umzudrehen und auf die Straße zurückzugehen, als etwas auf der dunklen Fläche des Feldes undeutlich sichtbar wurde, was wie ein tieferer Schatten aussah. Im nächsten Moment hatte es den Anschein, als ob es ein Schatten wäre, der sich bewegte. Sie eilte darauf zu. Als sie näher kam, sah der Schatten aus wie ein Mann. Der Mann blieb stehen.

»Die Parole?« fragte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme.

»Treue!« antwortete sie flüsternd.

Es war zu dunkel, um die Gesichtszüge des Mannes erkennen zu können; Iris jedoch erkannte ihn an seiner hohen Gestalt und an dem Tonfall der Stimme in dem er nach dem Losungswort gefragt hatte. Da er sie seinerseits irrigerweise für einen Mann hielt, trat er einen Schritt wieder zurück. Sir Giles Mountjoy war ungefähr von mittlerer Größe; der Fremde dagegen in dem Ueberrock, der ihm die Worte zugeflüstert hatte, war untersetzter.

»Sie sind nicht die Person, welche ich hier anzutreffen erwartet hatte,« sagte er. »Wer sind Sie?«

Ihr Aufrichtigkeit liebendes Herz verlangte darnach, ihm die Wahrheit zu gestehen. Die Versuchung, sich zu entdecken und ihrer Freude darüber Ausdruck zu geben, daß es ihr möglich gewesen sei, ihn zu retten, würde ihre Zurückhaltung überwunden haben, wenn nicht ein Geräusch auf dem Wege hinter ihnen an ihr Ohr gedrungen wäre. In der ringsum herrschenden Stille war aber ein Irrtum unmöglich. Es war das Geräusch von Fußtritten.

Sie fand gerade noch Zeit, ihm zuzuflüstern:

»Sir Giles hat Sie verraten. Retten Sie sich!«

»Ich danke Ihnen, wer Sie auch sein mögen.«

Mit diesen Worten verschwand er plötzlich und schnell in der Finsternis. Iris erinnerte sich der Brücke über den Graben und ging nach ihr hin. Dort unter den Bogen fand sie einen passenden Platz, sich zu verbergen, wenn sie noch zur rechten Zeit in den ausgetrockneten Graben gelangen konnte. Sie stand eben im Begriff, sich mit den Füßen bis an den Rand desselben vorwärts zu tasten, als eine feste Hand ihren Arm ergriff und eine Stimme in gebietendem Ton sagte:

 

»Sie sind mein Gefangener.«

Sie wurde auf den Weg zurückgeführt. Der Mann, der sie fest gefaßt hielt, ließ einen lauten Pfiff ertönen. Sofort tauchten noch zwei andere Männer aus dem Dunkel auf.

»Machen Sie Licht,« befahl der erstere, »damit wir sehen, wer der Kerl ist.«

Der Schieber an der Blendlaterne wurde zur Seite geschoben; das Licht fiel voll auf das Gesicht des Gefangenen. Die beiden Begleiter des Polizeisergeanten waren vor Staunen ganz starr. Dieser selbst, ein frommer Katholik, brach in den Ruf aus:

»Heilige Maria! Das ist ja eine Frau!«

Nahmen denn die geheimen Gesellschaften Irlands auch Frauen auf? War das eine moderne Judith, welche anonyme Briefe schrieb und sich verpflichtet hatte, einen Finanz-Holofernes, der eine Bank hielt, zu töten? Was hatte sie über sich selbst auszusagen? Wie kam sie dazu, auf einem öden Feld in regnerischer Nacht sich allein aufzuhalten? Anstatt aber auf diese Fragen zu antworten, zog die rätselhafte Fremde eine kühle und kurze Entgegnung vor.

»Bringen Sie mich zu Sir Giles!« Das war alles, was sie zu den Polizeibeamten sagte.

Der Sergeant hatte die Handfesseln bereit, ließ sie aber, nachdem er beim Schein der Laterne die feinen Handgelenke der Gefangenen gesehen hatte, gleich wieder in seiner Tasche verschwinden.

»Eine Lady, da gibt's gar keinen Zweifel,« sagte er zu dem einen seiner Begleiter.

Seine beiden Untergebenen warteten mit boshaftem Interesse, um zu sehen, was er wohl zunächst anfangen würde. Die Liste der rühmlichen Eigenschaften ihres frommen Vorgesetzten enthielt auch Parteilichkeit für die Frauen, welche immer die gnadenreiche Seite der Gerechtigkeit walten ließ, wenn der Uebelthäter einen Unterrock trug.

»Wir werden Sie zu Sir Giles bringen, Miß,« sagte er und bot ihr anstatt der Handfesseln seinen Arm. Iris verstand ihn und nahm das Anerbieten an.

Sie verhielt sich schweigsam – ganz unverantwortlich schweigsam, wie die Männer dachten – auf dem Weg nach der Stadt. Einigemale hörten sie sie seufzen, und einmal klang der Seufzer mehr wie ein Schluchzen; sie ahnten nichts von dem, was in der Seele des jungen Mädchens während der Zeit vorging.

Der eine Gegenstand, welcher die Gedanken von Iris ganz in Anspruch genommen hatte, war die Rettung Lord Harrys. Nachdem diese gelungen, hatten ihre nun von der Sorge darum befreiten Gedanken sie jetzt an Arthur Mountjoy erinnert.

Es war schlechterdings unmöglich, daran zu zweifeln, daß die vorgeschlagene Zusammenkunft an dem Meilenstein den Zweck haben sollte, Sicherheitsmaßregeln für das Leben des jungen Mannes zu ergreifen. Ein Feigling ist immer mehr oder minder grausam. Die Handlungsweise von Sir Giles, ebenso hinterlistig wie unmenschlich, durch die er für die Sicherheit seines eigenen Lebens sorgen zu müssen glaubte, hatte Lord Harrys edles Vorhaben aufgeschoben, vielleicht sogar gänzlich vereitelt. Die Möglichkeit lag nahe, furchtbar nahe, daß es nur durch eine geschickte und pünktliche Benützung der Zeit möglich gewesen wäre, Arthur vor dem Tode durch Mörderhand zu bewahren. In der Gemütserregung, welche sie ergriffen hatte, trieb sie die Polizeibeamten ordentlich zur Eile an bei der Rückkehr in die Stadt.