Schöne Ungeheuer

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DREI

Herbert Schiller empfing mich in seinem Büro mit einem gönnerhaften Lächeln.

Es war kein protziges Büro, das war meinem Kollegen (oder Vorgesetzten? – ich gewöhnte mich nur widerwillig an den Gedanken) zugutezuhalten. Auch an der Mär – gerne verbreitet von uns sogenannten kritischen Redakteuren –, er hänge vor wichtigen Besprechungen ein Dollfuß-Porträt hinter sich an die Wand, war nichts dran.

Sein braunes Haar neigte zu verspielter Lockenbildung und ließ ihn jünger aussehen, einzig die Schläfen waren ergraut. Aber da spross nichts ungezähmt in alle Richtungen, wie es bei Schläfenhaaren üblich ist; sie waren sorgfältig gekappt, begrenzt und beschnitten, sodass unschwer zu erkennen war, wie viel Mühe jeden Morgen in ihre Gestaltung floss. Zwei silberne Beete. Wenn mich sein Redeschwall in die halbbewussten Zonen der Tagträume driften ließ, sah ich manchmal Bewegungen in seinem Gesicht, sah, wie zwei zentimeterhohe französische Gärtner die Haarflächen mit winzigen Nagelscheren zu Rechtecken trimmten, deren Winkel auch unter dem stärksten Mikroskop exakt neunzig Grad betrugen. Irgendjemand musste ihm einmal den Floh ins Ohr gesetzt haben, Frauen jeden Alters fänden solche Insignien kontrollierter Weisheit unwiderstehlich.

Herbert begann in feierlichem Ton.

„Georg, du weißt, was deine Arbeit für unsere Zeitung bedeutet.“

„Ich seh’s jeden Monat auf dem Gehaltszettel.“

Herbert spielte Erstaunen. „Aber Georg, sag bloß nicht, dass dich der Materialismus in seine Klauen bekommen hat. Dich, den reinen Helden der Wissenschaft?“

„Lass das, Herbert“, brummte ich. „Was willst du?“

„Schlecht geschlafen heute? Aber deine Stimmung wird sich bald heben. Ich habe einen neuen Auftrag für dich.“

„Das klingt nicht gut.“

Herbert ignorierte diesen Satz.

„Du hast sicher vom Fall Jan Koller gehört.“

Hatte ich nicht.

„Er ist letzte Woche in Linz ermordet worden. In der Nacht vor einem großen Kongress.“

„Kriminalfälle interessieren mich nicht“, sagte ich brüsk.

„Du wärst aber der ideale Berichterstatter.“

Ich benötigte einige Sekunden, bis ich begriffen hatte, was er meinte.

Empört sprang ich auf.

„Du willst mir jetzt nicht allen Ernstes verkünden, dass ihr mich als Gerichtsreporter einsetzen wollt? Nur weil der Chef zu geizig ist, mehr Personal einzustellen? Aber nicht mit mir!“

„Beruhig dich doch, Georg!“ Herbert hielt mir seine offenen Handflächen entgegen. „Bist du nicht ein bisschen zu alt, um hier ständig den Oberrevoluzzer zu geben?“

„Zu alt?“, knurrte ich. „Denk an Chomsky.“

„Nun, der arbeitet, Gott sei’s gedankt, nicht in unserer Redaktion.“ Herberts freundliche Grübchen erschienen auf seinen Wangen. „Außerdem gibt es noch gar keine Verhandlung.“

Ich nahm wieder Platz.

„Was willst du dann von mir? Und warum ich?“

„Du bist unser Wissenschaftsjournalist. Und die mutmaßliche Täterin ist Teilchenphysikerin.“ Er machte eine kurze Pause, dann setzte er nach: „Am CERN.“

Aha. Damit wollte er mich also ködern. Mit der Gralsburg der Naturwissenschaftler. Schon stellte ich mir die gewaltigen Ausmaße des ATLAS-Detektors vor, sah mich neben ihm stehen und zu einem Insekt schrumpfen. Doch das war nur eine Finte, ich durfte mich davon nicht beeindrucken lassen.

„Soll ich ein Interview mit einer Mörderin führen?“

„Ganz genau.“

Herbert zog ein Kuvert aus der Schublade, öffnete es, nahm ein Foto heraus und legte es vor mich hin.

„Das ist sie“, sagte er mit siegesgewisser Miene.

Wie anmaßend! Hielt er mich für einen Mann, dessen Urteilsvermögen sich durch hübsche Larven beeinflussen ließ?

Dann schaute ich mir das Porträt doch an. Länger als geplant. Aus dem Nichts fiel mir Taminos Arie ein, obwohl ich mindestens zehn Jahre nicht mehr in der Zauberflöte gewesen war. Das Unbewusste ist zuweilen ein Heckenschütze.

„Sie ist angeblich eine der begabtesten Physikerinnen am CERN“, sagte Herbert. „Die Männer mit eingeschlossen. Ihr Name ist Jelena Karpova.“

„Russin?“

„Ihre Familie stammt aus Krasnojarsk.“ Herberts Grinsen hatte jetzt etwas Warmes, Mitleidiges.

So schnappte die Falle zu und das Unheil nahm seinen Lauf.

Falls es denn eines war.

Nennen wir es lieber: das Unvorhersehbare.

Herbert erhob sich und zog eine dicke Mappe aus dem Regal neben dem Fenster.

„Das ist alles, was wir über sie haben. Ich möchte, dass du jede Seite davon liest.“

„In meiner Freizeit, nehme ich an.“

Herbert seufzte und setzte sich wieder. „Du kannst deine Arbeitsstunden gerne der Zeitung verrechnen. Aber mit Maß und Ziel.“

Ich betrachtete die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln.

„Warum liegt dir so viel an dem Fall?“

„Er ist mysteriös“, sagte Herbert. „Eine ideale Ausgangslage für eine Aufdeckergeschichte.“

Auch so ein Lieblingswort des Ressortchefs. Wenn die Gesetze es zugelassen hätten, würde als Berufsbezeichnung in seinem Pass Aufdecker stehen. Er träumte von den ganz großen Geschichten, in denen alles steckte: Kabale und Liebe, Betrug und Lügen und natürlich vor allem eine faszinierende, prominente Frau, die vom Titelblatt strahlen würde. Dabei hatte es in den letzten zwanzig Jahren gerade einmal zwei Reportagen gegeben, mit denen der Beobachter Aufsehen erregt hatte.

„Wenn du etwas aufdecken willst, warum machst du es nicht selbst?“

„Erstens, weil ich keine Ahnung von Naturwissenschaft habe. Und zweitens, weil der Chef es so will.“

„Dann soll er mir das selbst sagen.“

„Er hat momentan viel um die Ohren.“

„Soso. Und du? Bist du jetzt nur mehr sein Erfüllungsgehilfe? Sein Befehlsweiterleiter?“

„Georg, ich muss dich bitten, deinen Ton –“

„Weit habt ihr es gebracht“, unterbrach ich ihn, „du und deine Karriere.“

„Wenigstens hocke ich nicht den ganzen Tag im Büro herum und hoffe, dass nichts geschieht.“

Ich versuchte, so finster wie möglich zu blicken, und schwieg.

„Georg“, begann Herbert in sanftem Ton, „das hat doch keinen Sinn. Lass uns wie erwachsene Menschen –“

„Ja, natürlich. Natürlich. Also, was hofft ihr denn herauszufinden? Über Schuld oder Unschuld entscheidet das Gericht.“

„Aber wir können ihm helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.“

„Das ist doch nicht unsere Aufgabe.“

Herbert setzte seinen Drehstuhl in Bewegung, wie immer, wenn er kurz davor war, die Contenance zu verlieren.

„Leicht machst du es einem nicht, das musst du zugeben.“

„Kann sein.“

Er stoppte die Drehbewegung und schaute mich an.

„Sie wurde von den Beamten des Landeskriminalamts vernommen, dann vom Haftrichter. Sie hat den Mord gestanden –“

„Wunderbar! Dann ist ja alles geklärt! Was ist daran mysteriös?“

„Danach hat sie geschwiegen. Kein Wort über ihr Motiv. Niemand kann sich erklären, warum eine unbescholtene, erfolgreiche Wissenschaftlerin einen Kollegen umbringen sollte.“

„Einen Kollegen?“

„Das Opfer hat viele Jahre ebenfalls am CERN gearbeitet. Vor etwas mehr als einem Jahr hat Jan Koller gekündigt und auf eigene Faust weitergeforscht. Er war also nicht einmal mehr ein Rivale für Frau Karpova.“

„Du meinst, sie lügt?“

Herbert zuckte die Achseln. „Möglich. Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Geschichte, das spüre ich.“

Das verhieß nichts Gutes. Wenn Herbert etwas spürte, war er nicht aufzuhalten. Sein Vertrauen in seinen eigenen Instinkt war unerschütterlich.

Ich bemühte mich, Kooperationsbereitschaft zu signalisieren.

„Gibt es irgendwelche anderen Indizien?“

„Jemand hat sie in der fraglichen Nacht aus Jan Kollers Hotelzimmer kommen sehen.“

„Na bitte. Dann haben wir sogar einen Zeugen.“

„Doch es gibt auch Widersprüche. Erhebliche sogar.“

„Die da wären?“

„Die Karpova hat beim Verhör angegeben, sie hätte die Waffe von hinten ins Herz des Opfers gerammt.“

„Wie nett. Und weiter?“

„Die Klinge steckte in Jan Kollers Hals, der Stich wurde ohne Zweifel von vorne geführt und traf präzise die Schlagader.“

„Vielleicht stand sie unter Schock und kann sich nicht mehr genau erinnern.“

„Das ist eine etwas windschiefe These, findest du nicht?“

„Kann sein“, gab ich zu. „Welche Waffe wurde eigentlich verwendet?“

„Ein Brieföffner.“

„Ein Brieföffner?“ Ich musste lauthals lachen. „Bei einem Verbrechen unter Physikern hätte ich etwas Originelleres erwartet. Eine Kapsel mit Antimaterie zum Beispiel.“

Kleine Lachfalten erschienen auf Herberts Gesicht.

„Du liest zu viel Dan Brown, mein Lieber.“

„Ich lese keine Bestseller“, zischte ich. „Und außerdem sind die Mengenangaben für die Antimaterie in Illuminati völlig falsch.“

Jetzt grinste mein Gegenüber. „Du weißt erstaunliche Details über ein Buch, das du nicht gelesen hast.“

Er hatte mich erwischt. „Alles Allgemeinbildung“, entgegnete ich. „Schon eine viel geringere Masse an Antimaterie könnte bei einem Einschlag auf der Erde –“

Ich stockte.

Herbert beugte sich nach vorn und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte.

„Kann es sein“, begann er langsam, „dass der Nebel von Tunguska mittlerweile auch deine Intelligenz umhüllt?“

Etwas Unverschämtes lag mir auf der Zunge, doch ich schluckte es hinunter.

„Gut“, sagte ich, „also ein Brieföffner. Was gibt es sonst noch Geheimnisvolles?“

 

„Der Zeitpunkt der Tat. Die Karpova hat beim Verhör angegeben, sich nicht mehr genau zu erinnern. Zwischen 21 und 22 Uhr, sagt sie. Laut Forensik ist der Tod aber erst um 23 Uhr 30 eingetreten.“

„Kann man das so genau feststellen?“, fragte ich.

„Die Gerichtsmedizinerin sagt, der Stich war so exakt, dass Koller sofort tot war. 23 Uhr 30, plus minus eine halbe Stunde.“

„Eine sehr vergessliche Mörderin.“

„Das kann man wohl sagen. Sie behauptet, in der Aufregung –“

„Also doch ein Schock“, unterbrach ich Herbert. „Wann hat die Zeugin Frau Karpova gesehen?“

„Sie kann sich nicht mehr genau erinnern. Zwischen 21 Uhr und 23 Uhr 30, schätzt sie, sie habe nicht darauf geachtet. Ein bisschen groß, dieses Zeitfenster, finde ich. Und es gibt noch ein Detail.“

„Jetzt bin ich aber gespannt.“

„Keine Fingerabdrücke auf dem Griff.“

„Im Ernst?“ Ich musste lachen und mimte den Verblüfften. „Im Fernsehen tragen die Täter meistens Handschuhe.“

Herbert drehte sich auf seinem Sessel einmal um die eigene Achse. Dann stand er auf, hob die Mappe vom Tisch und hielt sie mir hin.

„Das genügt für heute“, sagte er. „Wir reden weiter, wenn du damit durch bist.“

Ich steckte das Dossier in meine Umhängetasche und verließ ohne ein weiteres Wort Herberts Büro.

VIER

Zu Hause legte ich mich aufs Sofa, knipste die Leselampe an und vertiefte mich in das Dossier Jelena Karpova.

Ihre Eltern und ihr Großvater hatten das ostsibirische Krasnojarsk 1984 verlassen und waren mit ihrer damals zweijährigen Tochter Jelena nach Wien gezogen. Ihr Vater, Nikolai Karpov, war in der Sowjetunion ein angesehener Physiker gewesen und erhielt nach dem Umzug überraschend schnell einen Lehrstuhl an der Universität Wien. Immer wieder war er als Gastprofessor nach Genf eingeladen worden. Ab 2007 bekleidete er einen hohen Posten am CERN. Er starb vorige Woche an einem Herzinfarkt, im Alter von sechsundsechzig Jahren. Ekaterina, die Mutter, geboren 1960, war bildende Künstlerin und hatte bereits mehrere Ausstellungen in Wiener Galerien vorzuweisen. Die Feuilletons (auch unseres, übrigens) priesen sie als Erneuerin der abstrakten Malerei. Eine perfekt geglückte Integration auf der ganzen Linie. Nur wenige Misstöne. Nikolai war nachgesagt worden, er hätte gute Kontakte zum KGB, doch das waren Gerüchte. Es gab auch Anzeichen, dass er immer wieder in Konflikte mit den staatlichen Autoritäten geraten war. Einen Hinweis darauf, warum er ausgerechnet 1984, als Konstantin Tschernenko an der Macht war, mit seiner Familie das Land verlassen hatte, konnte ich in den Papieren nicht finden. Im Jahr 1995 ließen sich Nikolai und Ekaterina scheiden.

Jelena war 1982 zur Welt gekommen, war also jetzt siebenunddreißig Jahre alt. Sie galt als hochbegabt und hatte bereits mit siebzehn Jahren begonnen, Technische Physik zu studieren. Sie vermied es, Lehrveranstaltungen zu besuchen, die ihr Vater hielt. Mit knapp zweiundzwanzig Jahren schloss sie ihr Studium mit dem Doktortitel ab. Sie spezialisierte sich auf Experimentalphysik, vertiefte ihre Kontakte in die Schweiz, wobei sie stets betonte, dass ihr Vater sie nicht protegiert hatte. Als am 8. August 2008 die ersten Protonen in den Large Hadron Collider des CERN geschossen wurden, waren Nikolai und seine Tochter mit dabei. Erst 2018 verließ Nikolai das CERN und ging zurück nach Wien. Rasch stieg Jelenas Ansehen am Institut, sie veröffentlichte wichtige Aufsätze und allerorten schwärmte man von ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten. Darüber hinaus attestierte man ihr, besonders teamfähig und kommunikativ zu sein. Es dauerte nicht lange, bis sie die Karriereleiter nach oben stieg – und niemand schien ihr den Erfolg zu missgönnen. Mittlerweile waren vier Bücher von ihr erschienen, die alle in der Fachwelt hitzig diskutiert worden waren und sie zu einer der meistzitierten Physikerinnen der Gegenwart gemacht hatten. Das war sie also: Jelena Karpova, jung, blitzgescheit, auf dem Weg nach oben, leidenschaftlich ihrer Berufung folgend, dazu noch everybody’s darling.

Und nun sollte sie in Linz einen Kollegen getötet haben. Einen, der in Genf beinahe Tür an Tür mit ihr gearbeitet hatte. Eine Tat ohne jegliches Motiv. Ausgeführt mit einem Brieföffner.

Wenn sie es denn war.

Ich brauchte eine Pause. Wie zum Trotz gegen meinen Chef beschloss ich, den Rest des Tages mit meiner Obsession zu verbringen und wieder in die Nebel von Tunguska abzutauchen.

Unter Dutzenden Schlagwörtern sammelte ich Berichte, wissenschaftliche Artikel, Zeitungsausschnitte und allerlei Kurioses in altmodischen Aktenordnern. Auf den Rückenschildern hatte ich verschiedene Begriffe notiert, zum Beispiel „Eiskomet“, „Antimaterie“ oder „Rettendes Raumschiff“. Unter den Buchstaben klebten Bilder, zur rascheren Unterscheidung. Den Rücken von Kuliks Ordner zierte ein Schwarz-Weiß-Foto von hingestreckten Baumstämmen, das er selbst aufgenommen hatte. Auf der Sammlung mit den meisten eingehefteten Zetteln prangte eine Figur aus den Simpsons. Sie war mehrmals in der Serie aufgetreten und trug über dem Kopf einen Karton, auf den ein Fragezeichen gemalt war.

Was ich mir von all dem erwartete? Nun, ich weiß es nicht. Nur aus Versatzstücken besteht die Geschichte des Lebens, es gibt keine Kohärenz. Hat einmal jemand gesagt, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Die vom Einzelnen erfassbare Welt hat keinen dramaturgischen Bogen, sie ist ein Sammelsurium aus beiläufig erzählten Anekdoten. Was mich tröstet, ist vielleicht der Gedanke, dass meine eigene Erzählung aus ebenso vielen Bruchstücken besteht wie der Stein- und Eisenhaufen aus dem All, von dem wir nicht wissen, ob es ihn jemals gegeben hat. Nur in der Zersplitterung können wir die Fiktion der Gesamtheit erfassen, oder widerlegen, oder was auch immer.

„Komm ins Bett, das bringt doch nichts“, sagte Helga, wenn ich zu lange über meinen Zetteln hockte.

Was genau daran nichts brachte, und in Bezug worauf, das konnte sie mir niemals erklären. Wenn ich dann endlich zu ihr kam, schlief sie schon tief. Meine Chemikerin, fest eingebettet in ihr Gefüge aus Formeln, Geborgenheit und Lebenslust.

Sie hatte nie eine Ahnung, wie sehr ich sie beneidete.

FÜNF

Am folgenden Vormittag befiel mich im Büro eine Nervosität, die ich mir nicht erklären konnte. In Google Books suchte ich Jelena Karpovas erste Publikation und versuchte mit höchster Konzentration, ihren Argumentationslinien zu folgen. Mit bescheidenen Ergebnissen. Spätestens bei den komplexen Formeln, die sie entwickelt hatte, stieg ich aus. In meinem Magen begann es zu rumoren. So nahm ich die Akte unter den Arm und machte mich auf den Weg in unsere Kantine. Meistens nahm ich mir zum Essen Arbeit mit, das lenkte von der Beschaffenheit der Speisen ab. Ich bestellte eine müde, in sich zusammengesunkene Lasagne und setzte mich an einen der Plastiktische. Von den Kollegen war noch niemand da.

Plötzlich ging die Tür auf und Herbert trat herein. Das war ungewöhnlich. Herbert mischte sich mittags selten unters Fußvolk, er bevorzugte ein Haubenlokal zwei Straßen weiter. Meine Alarmglocken fingen an zu läuten.

„Hier bist du also“, sagte Herbert. Er kam auf mich zu und bemerkte mit Genugtuung, dass das Dossier Jelena Karpova neben meinem Teller lag. Geöffnet.

„Du bist neugierig geworden, stimmt’s?“

Ich ließ mir Zeit mit der Antwort.

„Die Sache ist interessant. Ohne Zweifel. Aber –“

„Du hast ein Aber. Natürlich. Wie sollte es anders sein?“

Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber.

Aufreizend langsam trennte ich mit der Gabel ein Stück von der Teigmasse ab, führte es zum Mund und begann zu kauen. Herbert verlor die Geduld.

„Nun sag endlich! Aber – was?“

„Du hast etwas vergessen.“

„Ach ja?“

„Ja. Warum um alles in der Welt sollte diese Frau Interesse daran haben, mit der Presse zu sprechen?“ Ein guter Einwand, fand ich, doch Herbert reagierte zu meiner Überraschung erleichtert. Eine Falte, die sich über seinem Nasenrücken gebildet hatte, glättete sich wieder.

„Ach, das!“, sagte er. „Kein Problem, darum kümmert sich Eva.“

„Welche Eva?“

„Frau Dr. Eva Mattusch. Eine der berühmtesten Anwältinnen des Landes. Und einer der eigenwilligsten Menschen, die ich kenne. Erzähl mir nicht, dass dir der Name nichts sagt.“

Tat er nicht. Herbert verdrehte die Augen.

„Du solltest öfter über deinen Tellerrand blicken.“

„Um was zu sehen? Andere Teller?“

„Alles eine Frage der Perspektive.“

„Wenigstens weiß ich, was ich esse.“

„Lassen wir das.“ Herbert wischte sich etwas aus dem Gesicht. Unsichtbare Spinnfäden.

„Ich habe bereits einen Termin mit Eva vereinbart. Sie ist mir noch einen Gefallen schuldig. Oder zwei.“ Er zwinkerte mir zu.

Es war mir ein aufrichtiges Anliegen, mit meinem Kollegen auszukommen. Schon aus Selbstschutz. Oder Bequemlichkeit. Doch es gab Momente, da gelang es mir nicht. Dieses Zwinkern. Jovial, ein wenig zweideutig, beseelt von der eigenen Unwiderstehlichkeit. Ein Ich-bin-mit-der-ganzen-Welt-auf-Tuchfühlung-Zwinkern. War ich ungerecht? Mag sein. Jedenfalls war ich froh, dass in solchen Augenblicken kein Brieföffner in der Nähe war.

„Alles in Ordnung mit dir?“ Herbert musste hinter meiner Stirn etwas beobachtet haben. Mit großer Konzentration schaffte ich es, meine wildgewordenen Gedanken wieder zu zähmen.

„Ja, warum?“ Fast ohne Zittern führte ich mein Glas Apfelsaft zum Mund und trank einen Schluck.

„Ich dachte nur. Dein Gesicht war so –, so –“ Er stockte. „Na, egal. Also morgen um 15 Uhr.“

„Was?“

„Dein Termin. Mit Eva. Morgen um 15 Uhr, vor dem Landesgericht Linz.“

Ein wenig Recherche konnte nicht schaden. Manchmal ist es praktisch, dass jeder im Netz so viele Spuren hinterlässt. Außer vielleicht der Mann mit dem Karton auf dem Kopf, der Autor, dessen Gesicht fast niemand kannte.

Dr. Eva Mattusch war sechsundvierzig, hatte dreitausendzweihundert Freunde auf Facebook und keine Kinder. Alle ihre Fotos sahen aus, als hätte sie ein professioneller Fotograf aufgenommen. Die meisten zeigten sie in perfekt sitzendem Business-Kostüm, dezent geschminkt, Souveränität ausstrahlend. Wikipedia bezeichnete sie als eine der angesehensten Juristinnen Österreichs, da hatte Herbert also nicht übertrieben. Sie war wohl auch ein Liebling der Presse; ich fand zahlreiche lobende Artikel und Prozessberichte.

Lange betrachtete ich das Porträt auf ihrer Homepage. Kein besonders auffälliges Gesicht. Hellbraune Augen, brünette Haare bis zu den Schultern, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. Mein Eindruck war zwiespältig. In einer Sekunde vermeinte ich einen Anflug von warmherziger Klugheit in ihrem Blick zu entdecken, in der nächsten erschien sie mir abweisend und überheblich.

Mit einem Mal kam mir meine Suche schäbig vor, unter meiner Würde. Ich schaltete den Computer aus und holte einen Ordner aus einem der Regale. Er trug die Aufschrift „Tscheko“, ich mochte ihn besonders gern.

Wer die Antwort auf eine Frage sucht, die Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt hat, kommt oft zu seltsamen Ergebnissen. Besonders dann, wenn man sicher sein kann, dass man selbst diese Antwort niemals finden wird. Dann fällt die Wahrheit als mögliches Forschungsergebnis weg und nur das Spiel bleibt zurück, das Jonglieren mit Hypothesen, die lediglich eines gemeinsam haben: Sie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch. Für diese Arbeit, die wie in meinem Fall nur Geschichten an Geschichten reiht, wüste Hirngespinste ebenso dokumentiert wie die Analyse von Bodenproben, verwenden Außenstehende meist einen abwertenden Begriff, den ich aus Helgas Mund zum ersten Mal in dieser Despektierlichkeit gehört habe: Hobby. Dieses Wort bremst die wilde Jagd, der sich der richtungslose Forscher hingibt, erinnert ihn daran, dass er niemals im Palast des Wissens ankommen wird, verwandelt die Kutsche in einen Kürbis, reißt den Reiter aus dem Sattel und zeigt ihm, dass sein Pferd nur aus Holz ist.

Immer wenn ich dieses Wort höre, muss ich vom Boden aufstehen, mir den Staub von der Hose klopfen, meine Nase in den Wind halten, um Luft zu bekommen, mich dann wieder niederknien und zärtlich den Stock mit dem Pferdekopf streicheln, der neben mir auf der Erde liegt. Dann suche ich Sätze, die ich den Spöttern entgegenschleudern kann.

 

Manchmal ist die Lüge schöner als die Wahrheit. Oder nein, nicht die Lüge: der Irrtum. Manchmal ist der Irrtum schöner als die Wahrheit. Vielen Naturwissenschaftlern ist diese Einsicht gleichgültig; wenn sie sich für Schönheit erwärmen, dann meist nur für das Ebenmaß bestimmter Gleichungen, das Leuchten des Weltalls oder die Schlichtheit einer unwiderlegbaren Theorie. Manche, die dem Metaphysischen nicht abhold sind, mögen hinter den Formeln und Berechnungen das Walten einer höheren Macht vermuten. Doch statistisch gesehen, sind die Gottsucher unter den Physikern in der Minderheit.

Der Tscheko-See ist eines der schönsten Gewässer Sibiriens. Im Sommer funkelt er inmitten von grünen Hängen wie ein flüssiger Saphir, während die Wolkenschatten über ihn hinwegziehen. Im langen Winter umgibt ihn trostlose, weißbraune Schuppenhaut und er gleicht der Pupille eines gewaltigen Reptils, das in leere Himmel blickt. Doch verlockender als seine ästhetischen Reize sind seine Geheimnisse. Sein tiefster Punkt liegt exakt acht Kilometer entfernt vom imaginären Einschlagkrater des Geistermeteoriten von Tunguska.

Diese Tatsache brachte – fast hundert Jahre nach dem Ereignis – italienische Geologen auf eine Idee. Sie untersuchten den See mit Echolot und entdeckten, dass er eine trichterartige Form besitzt. Für die Region ist er außerdem ungewöhnlich tief. Und er findet sich auf keiner Karte vor 1908. Seismische Messungen kamen zu dem Ergebnis, dass sich unter dem Grund des Sees eine Schicht aus sehr dichtem Gestein verbirgt. Luca Gasperini und sein Team von der Universität Bologna schlossen daraus, dass es sich beim Tscheko-See nur um den bisher vergeblich gesuchten Impaktbeweis handeln konnte. Ihre These war einleuchtend: Nicht einer, sondern zwei Brocken waren hier niedergegangen. Der erste verglühte vor dem Aufschlag in der Luft, der zweite, kleinere, schlug auf und bildete den kraterförmigen See. Die Lösung des Rätsels war gefunden!

Doch sie hielt weiteren Forschungen nicht lange stand. Ein paar Jahre später untersuchten russische Wissenschaftler erneut die Sedimente am Grund des Sees. Geochemische Analysen ergaben, dass die entnommenen Proben mindestens zweihundertachtzig Jahre alt waren. Mitarbeiter des Instituts für Geologie und Mineralogie konnten kurz darauf mittels Radioskopie das Ergebnis ihrer Kollegen bestätigen.

Und warum war der See dann auf keiner Karte verzeichnet? Das sei nicht weiter verwunderlich, erklärten die Forscher aus Krasnojarsk. Wegen der riesigen Ausdehnung dieses Gebietes sei seine kartografische Erfassung immer mangelhaft gewesen, und an dem Umstand, dass ein kleiner See nicht auf alten Landkarten zu sehen war, sei nichts Ungewöhnliches.

Also wieder nichts. Der Tscheko-See verlor sein Mysterium, es blieb ihm nur seine Schönheit.

Mein Lieblingsirrtum der letzten Jahrzehnte stammt ebenfalls von italienischen Wissenschaftlern. Ein Team mit dem Namen Opera verkündete 2011 Messergebnisse, die beweisen sollten, dass sich manche Neutrinos schneller als das Licht bewegten. Die Forscher hatten diese Teilchen über sechs Monate hinweg beobachtet und immer wieder sei es zur Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit gekommen. Die Partikel legten eine siebenhundert Kilometer lange Strecke zwischen dem CERN und dem italienischen Labor Gran Sasso in einem Tempo zurück, das 0,025 Promille über der Geschwindigkeitsgrenze des Universums lag. Gemäß der Relativitätstheorie war das jedoch unmöglich: Nichts kann in einem Vakuum schneller fliegen als das Licht. Die Sensation war perfekt! Das Jahrhundertgenie Einstein war widerlegt!

Fünf Monate später wandten sich die Opera-Mitarbeiter wieder an die Öffentlichkeit. Dieses Mal jedoch mit leiseren Tönen. Es seien „zwei mögliche Effekte identifiziert worden, welche die Messungen beeinflusst haben könnten.“ Ein GPS-Gerät und ein defektes Glasfaserkabel hätten zu einer „Überschätzung der Geschwindigkeit“ geführt. Die Experimente müssten wiederholt werden.

Diese Mitteilung führte in der Welt der Naturwissenschaften zu allerlei launigen Kommentaren. Das Wort Promille in der Veröffentlichung von 2011 wurde dabei nicht immer wohlmeinend interpretiert. Auf einer Karikatur sah man Männer in weißen Kitteln, mit Weingläsern in der Hand, ein wenig schwankend über ein Kabel gebeugt. Mein Gott, so schnell!, ruft einer von ihnen.

Seit damals erwartet niemand mehr bahnbrechende Nachrichten aus Gran Sasso. Ich hingegen vertraue auf die Findigkeit des kühnen Opera-Teams und halte die Daumen für neue Enthüllungen, die das Gefüge der physikalischen Sicherheiten zu erschüttern vermögen, und sei es auch nur für ein paar Monate.