Bookwire #7

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Keli legte umsichtig eine Hand auf Loyds Stirn.

»Du scheinst Fieber zu haben. Am besten ruhst du dich ein wenig aus. Ich werde in der Zwischenzeit auf dich aufpassen.«

Kelis zarte, warme Hand fühlte sich beruhigend an. Obwohl seine Schwester gerade mal dreizehn geworden war, wirkte sie – wenn sie nicht gerade ihre pubertären Anfälle hatte – oft sehr erwachsen. Loyd wollte eigentlich noch fragen, was genau geschehen war, doch als er nur für einen Moment die Augen schloss, übermannte ihn der Schlaf und er ließ los.

Als Loyd das nächste Mal die Augen öffnete, fühlte er, dass es ihm viel besser ging. Er lag auf einem weichen Bett und spürte, wie eine frische Brise durch ein Fenster über seinem Kopf ins Zimmer strömte. Von draußen schien das Nachmittagsblau freundlich auf seine Bettdecke. Das unverkennbare Geräusch von Grillen war zu vernehmen, die mit ihrem Gesang gespannt den Abend begrüßten. Es gelang Loyd, den Kopf nach links zu wenden. Sein Blick fiel auf eine Reihe von Krankenbetten, auf denen mit Verbänden umwickelte Gestalten lagen. Sein Gedächtnis schien ebenfalls von einer dicken Binde umwoben zu sein und wollte ihm nicht beichten, was ihm widerfahren war. Er wollte sich gerade aufrichten, als die große Doppeltür des Krankensaals aufschlug.

»Loyd! Herr Ankerbelly, er ist wach!«

Herein kamen drei Leute: Keli, gefolgt vom maßlos dicken und graubärtigen Professor Ankerbelly und einem jungen, lockigen Krankenpfleger. Keli rannte an Loyds Seite und strich sich mit dem Ärmel ein paar Tränen aus dem Gesicht.

»Bist du okay? Wie fühlst du dich? Weißt du, wer ich bin?«, sprudelte es aus Keli hervor.

Ehe Loyd den Mund aufmachen konnte, trat Ankerbelly ans Bett, so gut dies ging, denn sein Bauch war so groß, dass er fast einen Meter vom Bett entfernt stehen bleiben musste.

»Alles mit der Zeit, Keli«, sagte Ankerbelly mit einem breiten, freundlichen Lächeln. Er sah, obwohl seine Mundwinkel nach oben zeigten, recht mitgenommen aus.

»Loyd, du und deine Schwester, ihr habt mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Zum Glück bin ich noch früh genug aufgebrochen, um nach dir zu sehen.«

»Was ist passiert?«, fragte Loyd, vorsichtig zu seiner Stimme findend. »Ich erinnere mich an fast gar nichts. Da waren goldene Lichter überall.« Seine Stimme klang leiser und rauer als er beabsichtigt hatte.

»Nun, eins nach dem anderen«, sagte Ankerbelly gutmütig. »Zuerst mal müssen wir herausfinden, wie es dir geht.«

Der Krankenpfleger, der mit ihnen ins Zimmer gekommen war, maß gerade Loyds Blutdruck. Er sah gestresst aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Er fragte, wie es Loyd gehe, ob er Schmerzen habe, und ob ihm sonst etwas fehle. Loyd verneinte die ersten beiden Fragen, doch bei der letzten musste er gestehen, dass er gewaltigen Hunger hatte. Der Pfleger brachte ihm ein einfaches Abendessen auf einem Tablett und hastete dann hinüber, um nach den anderen Patienten zu sehen.

Ankerbelly und Keli standen unterdessen ein wenig abseits vom Bett und schauten zu, wie Loyd vorsichtig ein paar Kichererbsen auf seinen Löffel häufte. Loyd unterbrach die Stille nach einer Weile und brummte: »Mir geht’s gut. Schaut nicht drein, als wäre ich ein Geist.«

Keli und Ankerbelly, die nebeneinander wie Zwerg und Riese aussahen, traten mit verstohlenen Mienen wieder näher. Loyd musste dringend Fragen stellen. Er wollte wissen, was geschehen war und wie lange er schon hier gelegen hatte.

»Ich wäre euch zutiefst verbunden, wenn ihr mich über den neusten Stand der Dinge aufklären würdet.«

Er nahm einen gewaltigen Löffel Süßkartoffelbrei. Es schmeckte ausgezeichnet.

»Dann schießt mal los. Wo bin ich überhaupt?«

Ankerbelly erhob etwas zögernd die Stimme: »Das hier ist das Universitätsklinikum der HHF. Du weißt, wo das ist?«

Loyd stutzte. Sollte das ein Witz sein? Natürlich wusste er, wo das Krankenhaus seiner Hochschule lag.

»Anker, mit Verlaub, was soll das? Natürlich weiß ich es!«, raunzte er verärgert.

»Öh, tut mir leid. Ich dachte, du könntest dich nicht mehr erinnern, was passiert ist.«

»Kann ich auch nicht. Könntet ihr mir jetzt bitte endlich auf die Sprünge helfen?«

Anker und Keli tauschten einen beklommenen Blick, dann fuhr der Professor, dessen Gesicht sich unwillkürlich verfinsterte, fort: »Nun gut.« Anker seufzte tief. »Meine Kollegen und ich haben Keli und dich letzte Nacht im Laternenwald in der Nähe der südlichen Ausläufer der Hildenberge aufgefunden, nicht weit von der Tal-Rutschstation. Keli hat versucht, dich auf dem Rücken nach Herbstfeld zu tragen.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Aus noch unbekannten Gründen ist der Gletscher über Hildenberge zusammengestürzt. Das Schmelzwasser, das von den Bergen ins Tal geflossen ist, hat in der letzten Nacht das Gebiet rund um die Bergkette weitläufig überschwemmt. Nun, wie soll ich es dir sagen, Loyd. Das Dorf Hildenberge – gibt es nicht mehr.«

Loyd ließ den Löffel sinken. Schlagartig öffneten sich alle verschlossenen Schublädchen in seinem Kopf: die bedrohlichen Geräusche aus dem Eis, das plötzliche Rinnen des Wassers aus der Decke ihrer Frierhütte, die Leute draußen, die versucht hatten, den Gletscher vor dem Einbrechen zu bewahren und die Welle – die ihn von den Füßen gerissen und in die Berg-Rutschstation hineingeschleudert hatte. Ein Gefühl von unendlicher Trauer überkam ihn. Hieß dies, dass seine Eltern – dass sie tot waren? Anker, der Loyds Gesichtsausdruck sofort zu entziffern vermochte, sagte rasch: »Die genaue Ursache des Unglücks können wir noch nicht wissenschaftlich untermauern. Wir glauben aber zu wissen, dass es einerseits einen Zusammenhang gibt mit den Veränderungen im Geschwärzten Zentrum und der Geburt eines neuen Sonnenlochs. Nachdem das Eis zusammengebrochen war und dessen Wassermassen die Täler rund um den Berg versenkt hatten, wurde über dem Höhenzug ein gewaltiges Licht ausgemacht, das hoch zu den himmlischen Scheiben emporscheinen soll. Selbst gesehen habe ich es nicht, aber laut Berichten von Bergungsleuten muss unter dem Dorf der Boden weggebrochen und ein bisher verborgenes Sonnenloch zum Vorschein gekommen sein. So unglaublich es klingen mag, das sind die Darlegungen vertraulicher Quellen.«

Loyd konnte sich auf diese Worte keinen Reim machen. Nichts machte Sinn. Ein Sonnenloch, das echtes Altes Sonnenlicht ausschütten sollte? Unter Hildenberge? Niemals. Aber wenn – wenn nur ein Funke Wahrheit an der Geschichte dran war, könnte das bedeuten, dass seine Eltern in das Loch hineingefallen waren? Nun war es Keli, die Loyds Gesichtsausdruck richtig deutete.

»Mam und Paps sind in die alte Welt hineingefallen«, sagte Keli düster vor sich hin, als wäre es eine Tatsache.

»Das bleibt abzuwarten«, meinte Anker ruhig. »Allerdings, du weißt aus meinen Vorlesungen, Loyd, dass bisher niemand und nichts, das je in einem Sonnenloch verschwand, wieder daraus zurückgekehrt ist. Jedenfalls sind keine Ereignisse bekannt, die wissenschaftlich belegbar wären. Die einzigen glaubwürdigen Hypothesen bezüglich der Sonnenlochinfiltration sind auf alten Schriftstücken beschrieben, festgehalten von unseren Ureltern; den einzigen Überlebenden der Vorzeit«, erklärte Anker den beiden.

Keli schien aufgewühlt. Sie blickte Loyd missmutig an. »Wir müssen Mam und Paps suchen gehen. Schließlich ist es deine Schuld, dass ihnen das passiert ist. Hätten wir ihnen geholfen, als wir unsere Sachen packten, wären sie jetzt noch da«, warf sie Loyd trocken vor.

Anker legte seine wurstfingrige Hand auf Kelis Schulter und sagte in beschwichtigendem Ton: »Auch wenn sie den Zusammensturz des Eises überlebt haben – was wir gegenwärtig weder bestätigen, noch ausschließen können – momentan ist es nicht möglich, das Gebiet zu betreten. Eine Überschwemmung unvorstellbaren Ausmaßes wird uns den Zugang in die Region für viele Wochen verwehren.«

Kelis Augen füllten sich wieder mit Tränen, die sie sich abermals mit dem Ellbogen aus dem Gesicht strich. Loyd sah die beiden nicht an. Er hatte nicht einmal die Kraft, Kelis kindische Beschuldigung zurückzuwerfen.

»Ich möchte euch beide nicht um das Schicksal eurer Eltern bringen. Das ist das Letzte, was mir im Sinn steht, glaubt mir. Aber der Grund, weshalb ich dich, Loyd, ursprünglich hierher bestellt habe, ist elementar und wahrscheinlich auch der Auslöser für das Chaos in Hildenberge. Ich werde dir alles im Detail schildern, sobald du wieder auf den Beinen bist. Was ich dir erzählen werde, ist von äußerster Wichtigkeit für den Fortbestand des Wesentums, des Laternenwalds und aller Existenz. Wenn du es verkraften kannst, mich und einen professionellen Expeditionstrupp ins Geschwärzte Zentrum zu begleiten, wäre ich sehr froh. Aber dazu später mehr. Du solltest dich jetzt zuerst einmal ausruhen und deine Gedanken sortieren.«

Loyds Mund war trocken geworden. Er war nicht imstande, darauf etwas zu erwidern.

»Keli, wollen wir etwas essen gehen?«, fragte Anker freundlich, aber bestimmt.

Keli beobachtete verunsichert Loyds eingefallene Miene. Er erwiderte ihren Blick nur ganz kurz, bevor er auf sein angefangenes Abendessen hinunterstarrte.

»Komm, Mädel, dein Bruder muss zu Kräften kommen und hat wohl eine Menge zu bedenken. Loyd, wenn du was brauchst, lass es mich wissen. Morgen um neun sind wir wieder da«, sagte Anker, während er Keli mit seinem dicken Bauch mit sanfter Gewalt zur Tür drängte.

Das wundersame Unlicht

Anker und Keli durchquerten den Platz der Stille vor dem über und über mit gigantischen Bäumen und Sträuchern überwachsenen Hauptgebäude der Hochschule. Keli fühlte sich miserabel. Im Grunde genommen wollte sie so rasch wie möglich wieder nach Hildenberge zurückkehren, um nach ihren verschollenen Eltern zu suchen. Endlose Frustration und Kummer stauten sich in ihrem Inneren auf. Stunden hatte sie vor Loyds Krankensaal gewartet, während Anker weg gewesen war, um bei einer Pressekonferenz über das Katastrophengebiet zu berichten. Außer einer Handvoll jüngerer Kinder, die angesichts des einbrechenden Eises von ihren Eltern ins Tal geschickt worden waren, hatten nur Loyd und sie das Unglück überstanden. Die beiden hatten nur ein paar Kratzer abbekommen, doch für die Kinder war das Unglück nicht so glimpflich ausgegangen. Keli kannte zwar alle Verletzten im Krankensaal, hatte den Leuten des Ordnungsamts, die sie nach deren Eltern befragt hatten, aber nur wenig behilflich sein können. Obwohl es sich Keli nicht so richtig eingestehen wollte, konnte sie sich glücklich schätzen, dass Loyd sie mit Altem Sonnenlicht vorübergehend kälteresistent gemacht hatte – sonst wäre es ihr wohl gleich ergangen, wie den von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelten und aufgrund von Erfrierungen um ihr Leben ringenden Kindern.

 

Keli folgte Anker durch eine Allee von wuchtigen Trauerweiden. Für einen Moment erwog sie, sich einfach wegzustehlen und auf eigene Faust ihren Eltern zur Rettung zu eilen. Doch dann lenkten sie moderne Musik und lautes Gebrabbel ab, welches aus unmittelbarer Nähe zu kommen schien. Keli blickte nach links und rechts, um den Ursprungsort des Lärms zu eruieren.

»Das da vorne ist die Lailac-Straße«, ertönte Ankers freundliche Stimme, der sich kurz umgedreht hatte, um nach Keli zu sehen. Keli folgte Ankers Blick und in der Ferne konnte sie erkennen, wie die Straße vor dem Haupttor der Hochschule belebt und hell erleuchtet war. Bevor sie jedoch dorthin gelangen konnten, mussten sie zwischen dem Unigelände und dem Eingang in die von bunten Häuserketten umgebene Straße an einem Wachhäuschen vorbei, an welchem von beiden Seiten her der hohe Schutzzaun rund um das Areal endete.

Keli trottete nun wieder mit ein wenig Abstand hinter Anker her wie ein kleiner Hund hinter seinem Herrchen. Als sie am Sicherheitsschalter vorbeikamen und Anker einem Wachmann seinen Professorenausweis vorlegte, blieb Keli abrupt stehen und verschwand aus Ankers Blickfeld. Der Professor drehte sich verwirrt um. Nach einigen Augenblicken entdeckte er Keli vor einem mit Zierblumen geschmückten und von Moos überwucherten Denkmal und ging schlurfend auf sie zu.

»Keli«, schnaufte Anker laut. »Was ist denn los? Ich kenne gleich in der Nähe eine leckere Strudelbude. Glaub mir, mich kennt man nur an den besten Adressen der Stadt.«

Er schlug sich grinsend mit beiden Händen hörbar auf den gewaltigen Wanst. Keli reagierte nicht auf seine Worte, denn sie war gerade damit beschäftigt, die überwucherten Zeilen am unteren Ende der Statue zu entziffern. Sie bewegte die Lippen und sprach die Wörter fast lautlos in die Luft:

»Dies ist das Denkmal an Dr. Lailac Mondstein, den Gründer der Hochschule von Herbstfeld, Erfinder der Sonnenlichtresorption und Bewahrer des Kaelischen Indexes.

27 V.N. – 29 A.N.

Im Norden liegt die Tugend«

Anker, der neben Keli getreten war, ließ ein langes »Oh hooo« verlauten. »Du interessierst dich für Geschichte? Ich könnte dir wortwörtlich einen ganzen Vortrag über diesen Lailac halten. Obschon man sagen muss – die Sache mit dem Index ist nie bestätigt worden. Aber weil die Regierungsräte so stolz auf unser fortschrittliches Ausbildungssystem sind und seit jeher den anderen Präfekturen ein Vorbild sein wollen, tun sie immer so, als wäre die Legende eine fundierte Begebenheit.«

Keli verstand nur sehr wenig von dem, was Anker da redete. »Was heißt denn V.N. minus A.N.?«, erkundigte sich Keli ahnungslos.

»Hast du das noch nicht in der Schule gehabt? Es bedeutet ›Vor Neuzeit, Ab Neuzeit‹. Der liebe Lailac wurde dementsprechend nicht so alt; genauer gesagt, gerade mal 56. Wenn du willst, kannst du in der Bibliothek gerne mal die Geschichtsbücher der frühen Neuzeit studieren. Keine hübsche Geschichte, was mit Lailac, Mikael und Bao, dem Hundewesen passiert ist – wenn sie denn wahr ist.«

»Und der Kaelistische Index?«

»Kaelischer Index«, korrigierte sie Anker. »Das ist ein Artefakt, von dem niemand so genau weiß, ob es heute noch existiert oder jemals existiert hat. Man nennt ihn auch den ›Unlichtschlüssel von Mikael‹, da die Legenden besagen, dass Urvater ›Mikael McLane‹ – wie er eigentlich richtig hieß – der Zeigefinger abfiel, als er das Unlicht anfassen wollte. Lailac hat Mikaels Finger dann geborgen und mit ihm das Unlicht gebändigt. Danach hat er ihn an einem geheimen Ort versteckt. Er ist bis heute verschollen – so die Legende.«

»Und was ist Unlicht?«

Anker knallte Keli seine große linke Pranke auf die Schulter und sagte geheimnistuerisch: »Das, Mädel, ist eine andere Geschichte. Lass uns jetzt was essen gehen. Ich verhungere noch!« Lachend und mit den Händen auf den Bauch trommelnd, ging Anker von dannen.

Keli schenkte dem Denkmal einen letzten, bewundernden Blick und folgte dem Professor zu den Sicherheitsschranken.

Als sie am Wachhäuschen vorbei waren – Keli brauchte keinen Ausweis, da sie mit einem Professor unterwegs war –, verdrängte die Aussicht auf die breite Straße vorerst Fragen und Missmut aus Kelis Kopf.

Die Lailac-Straße schlängelte sich vor ihren Augen durch zwei kunterbunte Häuserketten, wobei kein Haus dem anderen glich. Allein die Pflanzen und deren Wurzeln, die sich auf den Dächern der Gebäude in all ihrer Farbenpracht präsentierten, verliehen dem Ort eine sehr eigentümliche Aura. Nun wusste Keli auch, was Herbstfeld seinen Namen eingebracht hatte: Der Straßenboden war über und über mit heruntergefallenem Laub bedeckt, was dem Ort eine waldbodenartige Duftnote verlieh. Von allen Seiten waren raschelnde Schritte zu hören, die von den vielen exzentrisch gekleideten Passanten auf der Straße verursacht wurden. Keli machte große Augen beim Anblick der vielen unterschiedlichen Wesen, die durch das knöcheltiefe Laub wateten. In ihrer Heimat Hildenberge gab es nur ganz herkömmliche Menschenwesen: Frauen, Männer und Kinder. In dieser Straße jedoch konnte Keli in vielen Fällen nicht erraten, ob nun eine Frau, ein Mann oder etwas ganz anderes an ihr vorbeiging. Aber sie hatte zunehmend das Gefühl, dass es hier auch keine Rolle spielte. Alle Leute schienen sich so gut zu fühlen und akzeptiert zu sein, wie sie waren. Das lockerte Kelis Gemütszustand etwas auf.

Nach einer Weile raschelnden Marschierens verdeutlichten sich ihre ersten Eindrücke und ließen Keli immer mehr in Staunen geraten. Wie es aussah, war die Lailac-Straße der Mittelpunkt aller Studentenangelegenheiten. Es gab Cafés, Fastfood-Ketten und Kleiderläden, in denen unter anderem die neusten Akademieschals ausgestellt waren, welche die Lernenden stolz wie Umhänge trugen. Hinzu kamen gewaltige, vielstöckige Buchhandlungen und Wesen-Spas, in denen sich laut farbenfrohen Werbetafeln international gesinnte Studenten mit Wesen aus aller Welt in heißen Thermalbädern trafen, um über das Leben und seine Vielfältigkeit zu philosophieren. Und natürlich gab es Pubs, Bars und Clubs, welche für viele der Hauptgrund zu sein schienen, in dieser Gegend überhaupt zu verkehren.

Es war Abend geworden und Laternen in warmen Rot- und Blautönen beleuchteten die Schriftzüge an Restaurants und Bars, vor denen Leute an runden Stehtischen tranken, rauchten und heiter schwatzten. Keli schloss für einen Augenblick die Augen, sog die frische Abendluft ein, die wie in den unterirdischen Wintergärten Hildenberges würzig nach regennassem Erdboden roch und schlug die Augenlider wieder auf.

Sie fühlte sich auf einmal, als hätte sie nicht genug Augen und Ohren, um all die interessanten Ereignisse um sich herum zu erfassen und zu verarbeiten. Nie war sie an einem solchen Ort gewesen. Zweimal in ihrem Leben war sie mit ihren Eltern nach Lichterloh gereist – der Hauptstadt der Präfektur, die ebenfalls Lichterloh hieß. Dazumal war sie aber nur von Hildenberge ins Tal gerutscht, hatte von dort die Wasserbahn nach Lichterloh-City genommen und war dann von Onkel Nonpe abgeholt worden. Viel hatte sie vom Stadtleben damals nicht mitbekommen und Lichterloh hatte sie auch viel zu geräumig in Erinnerung. Hier in Herbstfeld gefiel es ihr deutlich besser. Die farbenfrohe Atmosphäre mit dem heiteren Gesprächspegel und den verschiedenen, berauschenden Gerüchen in der Luft, denen unbedingt nachgegangen werden sollte, hier könnte sich Keli wohlfühlen – wäre das Desaster in meiner Heimat nicht passiert, dachte sie, plötzlich wieder von ihrem Kummer eingeholt. Sie schritten an einer Bar namens »Zur Lauten Stille« vorbei, wo gerade eine Party am Laufen war. Allerlei Wesen mit hohen Biergläsern in ihren Händen, Pfoten und Klauen feierten ausgelassen in und um den Laden herum. Neugierig warf Keli, während sie sich einen Weg durch die Feierwütigen bahnten, einen Blick auf eines der Gesöffe, das vor einer großen, kurzhaarigen Frau mit übergeworfenem purpurfarbenem Schal auf einem Stehtisch stand. Anker drängte sie mit seinem Kugelbauch weiter, wobei sich die Augen der Frau kurz mit denen von Keli trafen. Die Frau, sich von der Musik inspiriert leicht hin- und herwiegend, blinzelte ihr mit roten Wangen wohlgesinnt zu, und schon waren Zwerg und Riese im nächsten Wesenauflauf verschwunden.

»Siebbier«, verkündete Anker lässig. »Dafür bist du noch zu jung, aber das Zeug ist echt lecker. Muss ich zugeben.«

»Siebbier?«

»Jou. Du kippst irgendwelche Früchte oder Kräuter in ein hohes Glas und klemmst das Zeug mit einem kleinen Sieb unten im Glasboden fest. Dann schenkst du dir ein billiges Bier ein und tada: Schon hast du das beste und preiswerteste Studentengebräu aller Zeiten.«

»Oh, das klingt gut.«

Anker warf einen kurzen Seitenblick auf Keli.

»Deine Eltern würden es wahrscheinlich nicht gutheißen, wenn ich dir die Gaumenfreuden der Erwachsenenwelt schmackhaft machte.«

Keli schwieg. Nach einer Weile sagte Anker schließlich: »Es tut mir leid, Keli. Ich hätte deine Eltern nicht erwähnen sollen.«

»Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe nur einen gewaltigen Hunger. Das ist alles.«

»Ach, wenn das so ist! Dann sind wir hier genau richtig«, dröhnte Anker fröhlich. Er schien sich wie Keli in dieser Straße beflügelt zu fühlen. Sie standen vor einer langen Warteschlange, die aus einer Imbissbude herausführte.

»Ich kann das nicht bezahlen«, gab Keli ein wenig beschämt zu bedenken.

»Ach was! Du bist natürlich mein Gast. Solange du und dein Bruder in meiner Obhut seid, seid ihr selbstverständlich herzlich von mir eingeladen.«

Keli fiel ein Stein vom Herzen, denn sie hatte begonnen, sich neben ihrem Kummer um ihre Eltern wegen einer Unterkunft und Verpflegung Sorgen zu machen. Anker schmunzelte einen Augenblick lang verstohlen zu Keli hinüber, dann schlug er mit seinem aufdringlichen Bauch eine breite Schneise in die Menge vor ihnen. Er warf zwar lauthals mit Entschuldigungen um sich, doch er drängte sich immer weiter vor, Keli mit verdutzter Miene dicht hinter ihm.

»Du musst lernen, dass die Welt nur so lange fair ist, wie du sie so siehst. Um im Leben erfolgreich zu sein, musst du als allererstes die Welt für dich selbst zu einem fairen Ort machen«, erklärte Anker grinsend an Keli gewandt, so leise, dass es die Umstehenden nicht hören konnten. Nun war es Keli, die schmunzelte. Einen Mann wie Anker hatte sie freilich noch nie getroffen. Anker verdrängte noch ein paar weitere Studenten, die er von hinten mit seinem zudringlichen Ranzen anstieß, sodass diese sich zuerst empört umdrehten, ihm dann aber, als sie erblickten, wen und vor allem, was sie vor sich hatten, wissend lächelnd den Vortritt ließen.

»So, Keli. Worauf hast du denn Lust?«

Sie standen vor einer hohen Theke, hinter der mehrere uniformierte Leute hin und her flitzten und hungrige Kunden bedienten. Sie händigten einer Reihe wartender Wesen abseits der Theke schmale Kartonschachteln aus. Als Keli den Kopf hob, sah sie über den Angestellten verschiedene visuelle Darstellungen von Gebäcken.

»Was darf’s denn sein?«, meldete sich ein junger Mann mit einem zurückgebundenen Pferdeschwanz und einer grünen Mütze obendrauf. Obwohl er freundlich wirkte, sah man ihm an, dass er unter Stress stand und wahrscheinlich mehr arbeitete, als gut für ihn war. Der ganze Oberkörper des Mannes, der in Kelis Blickfeld fiel, schien seltsam verschwommen und trüb. Keli, die vom Äußeren des Mannes abgelenkt war, erschrak, als Anker ihr die Hand auf die Schulter legte.

»Das ist eine Strudelbude«, verkündete er sichtlich glücklich. »Es gibt verschiedene Strudellängen und Inhalte, aus denen man wählen kann.«

 

Er richtete seinen Blick wieder auf den Mann mit dem gebundenen Haar.

»Ich, zum Beispiel, hätte gerne die volle Länge, mit den Abschnitten Wasabiforelle, Kreuzkümmelkäse, Teriyaki Chicken mit scharfer Mayonnaise, und der Dessertschicht Zimtapfel mit Haskap-Beerencreme.«

»Sehr gerne«, erwiderte der Mann.

Keli machte große Augen.

»Und Sie, werte Kundin?«

Das galt Keli, die hinter Ankers Hintern hervorlugte wie ein kleines Mädchen.

»Ähm, ja –« Sie las von den Tafeln ab: »Viertellänge mit Wasabiforelle.«

Anker wandte sich zu ihr hin. »Ist das alles?«, fragte er bestürzt.

»Ja, ich denke schon«, meinte Keli zögernd.

»Das macht 7.50 Lichtbit«, sagte der Mann am Tresen freundlich.

Anker klatschte seine korpulente Hand auf eine kleine Plattform über dem Tresen. Ein Piepton war zu vernehmen und damit war die Bezahlung abgeschlossen. Keli und Anker traten ein paar Schritte zur Seite, damit die Leute hinter ihnen ihre Bestellungen aufgeben konnten. Keli sah, wie neben dem trüb aussehenden Mann Strudelteige auf eine Abstellfläche geschmissen und quer aufgeschnitten wurden.

»Herr Ankerbelly«, begann Keli so leise, dass nur Anker sie hören konnte. »Der Mann da; er sieht so komisch aus. Was ist mit ihm?«

»Wie bitte? – Ach sooo, du meinst die milde Schwärze? Das ist normal. Jeder, der das Licht in seinem Körper nutzt – und das ist in den Städten praktisch nicht zu umgehen – muss arbeiten, um wieder auf einen hellen Zweig zu kommen. In den Städten wird heute fast alles mit Altem Sonnenlicht, also der Währung ›Lichtbit‹, bezahlt, verstehst du? Von der Wohnungsmiete, über öffentliche Verkehrsmittel, bis hin zu den Strudeln in diesem Laden. Und Herbstfeld ist noch harmlos. In Lichterloh gibt es Quartiere, da sind die Leute kaum noch erkennbar, so trüb sind ihre Auren. Das heißt für dich übrigens, dass du im Notfall für Essen und Unterkunft sogar für eine Weile selbst aufkommen könntest. Ohne Lichtkonto könntest du dich danach allerdings nicht mehr aufladen. Darum bist du bei mir, bis auf Weiteres, sicher am besten aufgehoben.«

Anker zwinkerte Keli wohlwollend zu. Keli war nicht an die Präsenz von Menschenwesen, die eine solch negative Kraft ausstrahlten, gewöhnt. Die Aura, welche den Mann am Tresen umgab, ließ die Trübsal um ihre Eltern erneut aufwallen. Keli sah missmutig zu, wie Strudelteige aufgeschnitten, nach oben aufgeklappt, dann mit verschiedenen Zutaten beschichtet, zugeklappt, und schließlich in lange, glühende Öfen befördert wurden. Nach zirka zwei Minuten wurden diese wieder geöffnet und die golden gebräunten Gebäcke erneut auf der Abstellfläche abgelegt und anschließend in röhrenförmige Schachteln gepackt. Das alles geschah in atemberaubender Geschwindigkeit.

»Hier, bitte.« Eine junge Frau übergab ihnen die heißen Schachteln. Anker nahm die meterlange, aber nur wenige Zentimeter breite Papiertüte entgegen und wandte seinen Bauch in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen waren.

»Komm, ich weiß einen guten Ort, wo wir uns die Dinger reinziehen können«, sagte Anker munter.

Für einen so dicken Mann war der Professor ungewöhnlich gut auf den Beinen, dachte Keli, als sie ihm im Laufschritt bis zurück vor das Hauptgebäude der Hochschule folgte. Als Anker stehen blieb, erklärte er theatralisch: »Hier unterrichte ich. Nun, eigentlich nur zwei Tage die Woche und auch nur dann, wenn ich nicht gerade auf einer Expedition bin – also eigentlich fast nie.« Anker gluckste amüsiert über seinen eigenen Scherz.

Keli, die noch keine Gelegenheit gefunden hatte, sich für das Abendessen zu bedanken, keuchte außer Atem: »Ich find’s toll hier. Und vielen Dank für den Strudel.«

»Ach, nicht der Rede wert. Du kannst auch bei mir in meinem Haus übernachten, wenn du willst. Bei Loyd vor dem Krankenzimmer auf einem Stuhl zu schlafen, würde ich dir nicht empfehlen – nur wenn dir der Sinn nach einem verspannten Rücken steht.« Anker gluckste erneut, dann sagte er: »Komm, lass uns aufs Dach gehen.«

Er schritt voraus und ließ die automatisierten Türflügel vor ihnen nach beiden Seiten aufschnellen, indem er seinen Professorenausweis an eine Scanfläche neben dem Eingang hielt. Keli folgte ihm in die hohe Eingangshalle. Drinnen roch es nach Büro und Teppich. Mehrere Glasvitrinen mit ausgestellten Raritäten und Plakaten darin begrüßten sie. Obwohl es Keli interessiert hätte, was es da zu sehen gab, bog Ankers Bauch links in einen langen Gang ein, in dem es jeweils im Vier-Meter-Abstand Türen gab, von denen einige offenstanden. Weiter vorne verschwand Anker hinter einer Biegung. Als Keli aufgeholt hatte, fanden sich die beiden vor einem Fahrstuhl wieder, der sich prompt öffnete. Der Aufzug beförderte sie fast lautlos und in wenigen Sekunden in das offene Dachgeschoß. Die Fahrstuhlschranken verzogen sich auf beide Seiten und Anker, der praktisch dessen ganzen Innenraum für sich allein beansprucht hatte, trat voran.

Draußen war es Nacht geworden. Als Keli an die frische, kräuterträchtige Luft trat, bot sich ihr ein erstaunliches Bild. Sie durchquerten eine kniehohe Wiese, in der alle möglichen Gräser und Blumen wuchsen. Keine Pflanze schien der anderen zu gleichen. Die Gewächse waren erhellt durch kleine Insekten, die auf den Pflanzen hockten und den Platz idyllisch erstrahlen ließen. Die bunt glühende Atmosphäre hatte etwas an sich, das Keli als »romantisch« gedeutet hätte. Die Wiese war nicht sehr groß, aber umsäumt von einem Ring aus Sträuchern und Bäumen. Anker drehte sich rasch nach hinten, um nachzusehen, ob Keli ihm folgte.

»Das hier sind alles Pflanzen, die wir von unseren Expeditionen mitgebracht haben«, erklärte er Keli. »Eine getrocknete Probe wird immer ins Archiv einsortiert und weitere Spezimen pflanzen wir hier oben oder in Wäldern um die Uni herum an, und zwar mit ihren ›Kunden‹ zusammen.«

Keli blieb vor dem wartenden Anker stehen, woraufhin sich dieser wieder umdrehte und auf den ersten einer Reihe von Setzsteinen mitten in der leuchtenden Wiese zusteuerte.

»Was meinen Sie mit Kunden?«, fragte Keli verwirrt, als Anker seine Erklärung nicht von sich aus vervollständigte.

»Jo, das ist eine bedeutende Frage«, sagte Anker, sich ein wenig tollpatschig über die Steine bewegend. »In der Lehre der Biodiversität werden Insekten, die man hier oben, aber auch sonst überall findet, als Kunden der Pflanzen bezeichnet. Aber nicht nur Insekten; alle Organismen sind Wirte und alle Wirte leben durch ihre Kunden, ähnlich wie bei unserer Wirtschaft. Ohne Kunden kann ein Unternehmen nicht bestehen, wie auch jedes Leben nur mit seinen natürlichen Kunden gedeihen kann, nicht? Darum sagt man ja auch, dass das erste Leben sich wohl nicht selbst erwirtschaftet haben kann – Interdependenz, verstehst du? Hoppla!« Anker stolperte und machte einen Schwenker links ins Gras. Einige funkelnde Insekten surrten dem Nachthimmel entgegen.

Keli hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie hüpfte von einem unförmigen Setzstein zum nächsten, musste aber immer wieder warten, bis Anker sich auf die Steine zurückgehievt hatte. Jenseits der Wiese konnte Keli warme, rötliche und bläuliche Lichtstrahlen wahrnehmen, die von der Stadt her durch das Laubwerk hindurchbrachen. Als Keli ihren Blick über den Ring von Bäumen am Rand der Wiese schweifen ließ, hielt sie auf einmal den Atem an. Mit zugekniffenen Augen erspähte sie zwischen den Büschen einige verborgene Sitzbänke, auf denen sich im Schatten herabhängender Äste Studentenpärchen umarmten und küssten.