Was wir wissen könne und was wir glauben müssen

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…, dann weisen Sie auf jedes einzelne Wort und wollen es definiert haben. Zu Recht! Aber das dauert. Ich weiß sogar exakt, wie lange es dauert. Es dauert erstens so lange wie die bisherige menschliche Geschichte. Und es dauert zweitens so lange wie die zukünftige Geschichte. Beides muss man addieren. Dann weiß man, wie lange es dauert, zu definieren, was mit Wahrheit gemeint ist. Wenn wir anfangen zu definieren, kommen wir an gar kein Ende mit dem Definieren und dieses Buch wäre nichts als ein Definitionsversuch (vielleicht ist es das?).

Das Problem

allen Definierens ist, dass es keinen festen Bezugspunkt für unser Sprechen, keinen Punkt gibt, von dem aus wir anfangen können zu definieren. Es gibt keinen Sprachpunkt, um die Welt aus den Angeln zu heben. Jedes Wort kann erklärt werden, definiert werden, bis wir … vielleicht zu Urworten kommen: Goethe nannte einige: Daimon (Dämon), Tyche (das Zufällige), Eros (Liebe), Ananke (Nötigung) und Elpis (Hoffnung). Hier ein Text:

∆AIMΩN, Dämon

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt

(Urworte. Orphisch., S. 359).

Aber Goethe erklärt die Urworte mit nachgängigen Worten, die man definieren müsste. Mit den Urworten? Denn andernfalls würde es doch wieder recht endlos. Aber lässt sich alles, was es gibt, mit den Urworten definieren? Auch die Geschirrspülmaschine?

Belassen wir es dabei: Das Problem des Definierens liegt darin, dass wir zum Definieren Worte benützen müssen. Und da es unendlich viele Worte gab, gibt und geben wird, kann keine Definition je an ein Ende kommen. Jede Definition ist nicht nur nicht endgültig, sie ist endlos.

Aber eine Geschirrspülmaschine kann man doch definieren, sagen Sie (manchmal nennen wir neue Mitglieder in unserer Wohngemeinschaft so …, scherzen ältere Studierende gerne). Nein, auch bei physischen Objekten ist eine Definition endlos: Wollen Sie die

Probe aufs Exempel?

Bitte schön: »Eine Geschirrspülmaschine ist ein Gerät zur maschinellen Reinigung von Töpfen, Geschirr, Gläsern, Küchenutensilien und Essbesteck.«

Aschenbecher sind demnach ausgeschlossen? Pfannen auch? Jemand, der unwillig ist, könnte fragen: Was ist denn ein »Gerät«? Ein Gerät ist etwas, das »geraten« ist; ist eine Spülmaschine gut geraten oder verbraucht sie viel zu viel Wasser, Energie und umweltschädliche Spülmittel? Ist sie vielleicht doch kein gut geratenes Gerät? Und wenn doch: Eine Harke ist ein Gartengerät, aber wohl kaum mit der Spülmaschine zu vergleichen. Aber wieso vergleichen wir Unvergleichliches im gleichen Wort: »Gerät«?

(Dies hat Nietzsche zur Verzweiflung und Poesie gebracht, als er feststellte, dass alle Begriffe willkürliche Abstraktionen [oder Ausdruck von Macht] seien, die das Besondere zurückließen und damit nur vorgaukelten, die Welt begrifflich zu erfassen. Denn die Welt bestehe nur aus Besonderem: dieser faulig riechende Apfel vor mir auf dem Schreibtisch, dieser Computer, auf dem ich gerade schreibe, diese Spülmaschine mit der Gerätenummer 11061953):

»Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, daß es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, das heißt streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muß. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das Blatt wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre« (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, S. 378).

Und damit kommt Nietzsche auf Pilatus zurück:

»Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen« (S. 379).

Es gibt keine Wahrheit. Sie ist nur Illusion, Phantom, Einbildung, Täuschung, Vorurteil, Konstrukt, Ideologie.

Alle tun es

Schon gar nicht könne man Wahrheit definieren. Wenn es so ist, dann ist zumindest dies kein Grund zur Beunruhigung. Denn Definitionen sind nicht notwendig. Der Grund liegt in der Sprache. Ich will das kurz erläutern.

Wir alle benutzen das Wort »Wahrheit« hin und wieder. Ich vermute dabei, dass jeder weiß, was er sich antut, wenn er in seinem Stammlokal der netten Bedienung die Bestellung zuruft: »Ein Warsteiner – das einzig Wahre!« Jeder für sich weiß offensichtlich, was gemeint ist – wobei vorausgesetzt ist, dass wir nicht nur Unsinn reden. »True love« – so ist ein amerikanischer Erfolgsschlager betitelt: Wahre Liebe. Wir verstehen, wovon er singt. Und es gibt eine einschlägige Fernsehsendung (»Sag die Wahrheit!«), bei der das Rateteam zwei Lügner entlarven muss.

Ganz offensichtlich verstehen die meisten Menschen, was gemeint ist, wenn der Richter im Gerichtssaal fragt: »Sie schwören (bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden), dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben?« Woraufhin der Zeuge antwortet: »Ich schwöre es (so wahr mir Gott helfe).« So lautet § 64 der Strafprozessordnung, und wenn man nach einer solchen Aufforderung nicht die Wahrheit sagt, kann man bestraft werden: »Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Stelle falsch schwört, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.«

Wenn wir nicht wüssten, was mit dem Wort »Wahrheit« gemeint ist, könnten wir nicht bestraft werden. Man kann doch nur für etwas bestraft werden, wenn es das, gegen das man verstoßen hat, auch gibt. Oder wenn man es zumindest kennt. Mir schiene es zumindest verwegen, wenn wir im (gerichtlichen) Alltag etwas voraussetzten, was es nicht geben kann, weil wir es nicht bestimmen können. Mir schiene es nicht erträglich, wenn wir Menschen in schreckliche Gefängniszellen stecken, wenn sie gegen ein Nichts verstoßen haben sollen. Wir wissen alle, was mit Wahrheit gemeint ist. Und wir setzen voraus, dass es sie gibt.

Und das seit mindestens 4000 Jahren. § 3 aus dem Gesetzbuch des Hammurabi, das im Zeitraum um 1750 v. Chr. in Stein gemeißelt wurde, lautet:

»Gesetzt, ein Mann ist bei einem Prozess zu falschem Zeugnis aufgetreten, hat aber die Aussage, die er getan hat, nicht bewiesen, gesetzt, jener Prozess war ein Prozess ums Leben, so wird dieser Mann getötet.«

Das ist eine drastische Strafe für den Verstoß gegen etwas, was es nach Nietzsche nicht geben soll oder das wir nicht definieren können. (Das achte der Zehn Gebote muss ich sicherlich nicht zitieren.)

Alle Gerichtsverfahren wären nicht möglich, wenn die Menschen nicht zwischen Wahrem und Falschem unterscheiden könnten. Dafür aber muss man voraussetzen, dass jedermann weiß, was mit »Wahrheit« gemeint ist. Und das wiederum hat zur Voraussetzung, dass es Wahrheit gibt. So kann ich gut verstehen, wenn Kant, der alles definierte, entnervt feststellt: »Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt« (Kritik der reinen Vernunft, S. A 58/B 82).

Eine Antwort, immerhin

Kommen wir auf die Ausgangsfrage zurück: Gibt es Wahrheit? Diese Frage könnten wir – mit leichter Modulation – fast schon mit einem schlichten »Ja« beantworten. Zumindest setzen wir im Alltag Wahrheit voraus. Wenn wir keine Wahrheit voraussetzen würden, könnten wir uns das Rechtswesen sparen, auch die Polizei, die Detektive und Kommissare und im Staatshaushalt den gesamten Etat für Bildung und Wissenschaft. Denn bei Wissenschaft und Bildung geht es um Wahrheit. Wir setzen alle immer Wahrheit voraus. Seit je.

Aber das ist natürlich nur ein sehr alltägliches Argument. Sollen wir es vorläufig brachliegen lassen?

Im Gebirge der Wahrheitstheorien

Begeben wir uns dann an die Lektüre und arbeiten die Bücherberge mit Wahrheitstheorien ab. Ein schönes Arbeitsprogramm, denn die Autoren haben sich seit Tausenden von Jahren alle Mühe gegeben, uns zu überzeugen. Mit allen Mitteln der Rhetorik und Formulierungskunst, mit Zitaten und Beispielen, Fakten und Argumenten legen sie uns ihre Auffassung dar. Los geht’s.

Aber halt – bevor wir nun richtig mit dem Lesen beginnen, wäre vorab doch noch eine kleine Überlegung anzustellen. Wie könnten denn die Antworten auf unsere Frage, ob es Wahrheit gibt, lauten? Man könnte das ja mal vorher überlegen.

Es kann nur zwei Antworten geben. Kurzgefasst lauten sie: »ja!« oder »nein!«. Eine dritte Antwort kann es nicht geben: »ein bisschen!« Diese Antwort ist nicht denkbar, weil wir nach der Existenz einer Sache fragen – etwa wie »Steht da ein Glas?« oder »Bist du schwanger?« Auch da verbietet sich die Antwort »Ein bisschen«. Ich würde mich hier fast auf Aristoteles berufen, der geschrieben hatte: »Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr. Wer also ein Sein oder Nicht-Sein prädiziert, muß Wahres oder Falsches aussprechen« (Metaphysik, S. 88 = 1011b).

 

Aber man benötigt den Hinweis auf diese antike Geistesgröße gar nicht, denn sein Gedanke ist in jeder Zeit von jedem nachvollziehbar. Man hätte auch selbst drauf kommen können. Entweder gibt es etwas, oder es gibt dieses etwas nicht. So ist es auch mit der Wahrheit. Entweder gibt es sie, oder es gibt sie nicht. Nur zwei Antworten sind möglich.

Landpartie

Ein Gedanke, der übrigens schon die Autoren von Schwänken im Mittelalter geradezu göttlich amüsierte. In einem solchen Schwank lässt ein bodenständiger Bauer, der auf seinem Fronhof offenbar ein wenig zu Geld gekommen ist, seinen Sohn studieren. Dieser studiert, wie es im Mittelalter üblich war, die sieben freien Künste, worunter man Grammatik, Rhetorik, Dialektik bzw. Logik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik (weil sich Tonverhältnisse mathematisch ausdrücken lassen) verstand. Er bekam eine gründliche Schulung sogar in dem, wie wir gleich hören werden, was man Theorie der Wahrheit nennen kann. Als er nämlich in den Semesterferien nach Hause kommt, will sein Vater von ihm lernen. Vielleicht will er ihn auch ein wenig überprüfen – schließlich hat er für das Studium seines Sohnes einen Batzen Geld bezahlt und musste zudem auf eine wichtige Arbeitskraft verzichten. »Führ mir deine Kunst doch einmal vor«, sagt der Bauer in schlichtem Gemüt, weil er es gewohnt ist, dass auch die Schwertschlucker und Feuerspucker, die zu Martini auf den Markt kommen, nicht nur erzählen, sie seien Künstler, sondern es auch vorführen. Der Studiosus nimmt drei Goldstücke aus seinem Geldbeutel, legt sie vor den Vater auf den derben Eichentisch und fragt:

»Wie viel Goldstücke siehst du?«

Der Vater antwortet: »Drei!«

»Falsch!«, ruft der Sohn. »Es sind fünf!«

Der Bauer ist verdutzt, zählt nach. »Nein«, sagt er, »drei!«

»Ha«, sagt der frisch studierte Philosoph: »Wenn du drei Goldstücke hast, dann hast du auch zwei Goldstücke. Stimmt das?«

»Ja«, muss der Bauer eingestehen, »das stimmt!« und zählt zur Sicherheit noch mal nach.

»Wie viel sind nun drei und zwei?«, fragt der Sohn.

Der Bauer nimmt seine Finger zu Hilfe und kommt auf fünf.

Drei Finger und zwei Finger ergeben fünf Finger.

»Siehst du, also hast du fünf Goldstücke vor dir liegen!«

Der Bauer ist überrascht. Er hat sich selbst etwas bewiesen, was seiner eigenen Anschauung widerspricht. Aber es scheint irgendwie logisch. Da sagt er: »Pass auf, ich nehme jetzt die drei Goldstücke und du behältst alles, was übrig bleibt, ganz allein für dich.«

Es scheint, als habe der Bauer Aristoteles gelesen, jedenfalls ist die Konsequenz jene, die wir soeben zitiert haben. Etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein. Das wäre doch schon mal eine Wahrheit. Aber unsere Frage war, ob mehr Antworten als nur »ja!« oder »nein!« auf die Frage denkbar sind, ob es die Wahrheit gibt. Antwort: nein.

Effizientes Denken

Wenn es aber nur zwei Antworten gibt (so, wie nur drei und nicht fünf Goldstücke vor dem Bauer auf dem Tisch liegen), dann haben wir die gigantische Lektüreliste schon mal erheblich gekürzt. Denn alle Bücher mit der Antwort »Ja, es gibt Wahrheit« brauchen wir, wenn wir so schlau sind wie der Bauer, im Hinblick auf unsere Frage nicht zu lesen. Denn wir würden sicher lieber die drei vorhandenen Goldstücke als die zwei nichtvorhandenen Goldstücke auflesen und in die Tasche stecken. Wir haben folglich kein Problem mit der Wahrheit. Dass es Wahrheit gibt, ist die Antwort eines einfältigen Bauern, eine naheliegende Antwort und vor allem praktisch. Wenn es Wahrheit gibt, können wir ein Aspirin bei Kopfschmerzen nehmen und das Navi für die Fahrt von Jerusalem über Rom nach Königsberg benutzen zum Beispiel. (Wenn wir indessen voraussetzen, dass es keine Wahrheit gibt, dann sollten wir uns weder auf Beipackzettel bei Arzneimitteln noch auf Landkarten oder Navis verlassen. Aber das ist wieder nur so Bauernschläue, mit der man den Theorien der großen Philosophen sicherlich nicht beikommen kann. Lassen wir ab von der Bauernschläue!).

Gleichwohl

Wie ist es denn um die Bücher derjenigen bestellt, die sagen: »Es gibt keine Wahrheit?« Ihre Autoren wären zu fragen: »Sollte Ihr Satz gar nicht wahr sein?« Denn nach Aussage der Zweifler gibt es keine Wahrheit. Also gar keine Wahrheit, auch nicht ein bisschen oder die eigene, da die Wahrheitszweifler ganz fest der Überzeugung sind: Es gibt keine Wahrheit!

Wenn etwas nicht zugleich sein und nicht sein kann, dann kann man schlechterdings unter Wahrheitsanspruch nicht behaupten: »Es gibt keine Wahrheit!« Denn nun wird die Nichtexistenz von etwas behauptet, was man selbst in Anspruch nimmt. Es wäre, als wenn der studierte Bauernsohn drei Goldstücke auf den Tisch gelegt und gesagt hätte:

»Wenn du drei Goldstücke auf dem Eichentisch liegen hast, dann hast du auch zwei Goldstücke. Und wenn du zwei hast, hast du auch eins. Drei minus zwei minus eins ist null. Es liegt also gar kein Geld da.«

Darauf könnte der Bauer sagen: »Dann ist es ja auch kein Diebstahl, wenn ich jetzt das Nichts vom Tisch in meinen Geldbeutel stecke. Es ist zudem keine schlimme Aufgabe, dich zum Entmisten in den Stall zu schicken. Denn wer einen Stall voll Mist hat, der kann den Mist von sich selbst subtrahieren und hat keinen Mist mehr. Bewirke, dass im Stall kein Mist ist. Im Grunde ist das nur ein Gedankenspiel.«

Die Philosophie nennt das, was der Bauer in Anschlag bringt, den performativen Widerspruch: Man benutzt etwas, dessen Existenz man leugnet. Man führt mit Hilfe von Gegenständen vor, dass diese nicht existieren.

Effektives Denken

Wenn wir wissen wollen, ob es Wahrheit gibt, dann brauchen wir von allen Wahrheits- und Erkenntnistheorien nur jene zu lesen, die leugnen, dass es Wahrheit gibt. Und dann schauen wir uns an, mit welch raffinierten Methoden die Verfasser nachzuweisen suchen, warum es wahr ist, dass es keine Wahrheit gibt. Und diese ihre Methoden nutzen wir dann, um zu zeigen, dass es zumindest etwas gibt: einen Beweis nämlich. Eine Methode. Denn die Wahrheitskritiker müssen ja eine Methode anwenden, die am Ende eine gültige, eine nachprüfbare Aussage hervorbringt. Auch wenn alle anderen Theorien und Methoden der Fehlerhaftigkeit überführt und daher als falsch entlarvt wurden, so muss diese eine Methode sicher Wahrheit hervorbringen. Das setzt der Methodiker voraus. Denn seine Methode soll beweisen, dass es etwas gibt, nämlich eine These mit dem Inhalt »Es gibt nichts«. Diese These gibt es. Sie soll wahr sein. Demnach haben diejenigen, die die Wahrheit gut begründet leugnen, eine Theorie der Wahrheit umgesetzt. Prima. Problem gelöst: Auch die, die die Existenz von Wahrheit bestreiten, setzen sie voraus.

Könnte es sein, dass wir gar nicht diesen Aufwand betreiben müssen, den wir betreiben, um zu klären, ob es Wahrheit gibt? Denn entweder nimmt man es an, dann hat man gar kein Problem. Oder man leugnet es; dann erkennt man den Satz, den man leugnet, beim Leugnen performativ (im Vollzug) an.

Oberster Dienstherr

Seit dem Beginn der Postmoderne ist die These modern geworden, dass es nicht eine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten gäbe: Wie es die Toyota-Werbung einmal formuliert hatte: »Nichts ist unmöglich!« (»Anything goes!«). Die Postmodernen wollten die modernen Großen Erzählungen vom monotheistischen Wahrheitsanspruch in die Geschichte verabschieden. Wissenschaft ist für sie nur ein weiterer Irrtum unter vielen.

Unser listiges Bäuerlein hätte allerdings arg gestutzt und gefragt: »Der Satz ›Es gibt viele Wahrheiten!< beansprucht doch, oberster Satz aller weiteren Sätze zu sein? Habe ich das richtig verstanden? Aber damit verkündet er doch wieder eine oberste, letzte Wahrheit. Eine! Was gilt nun? Diese eine letzte Wahrheit – oder viele Wahrheiten?«

Und ich füge hinzu: Der oberste Satz (»Es gibt nicht eine Wahrheit! Es gibt vielmehr viele Wahrheiten. Im Plural. Basta! Es lebe der wissenschaftliche Polytheismus!«) kann aus Gründen der Logik dem nicht widersprechen, was Sätze besagen, die ihm logisch untergeordnet sind: »Wieso basta? Das bedeutet, dass du auch meinen Satz: Es gibt nur eine Wahrheit (nämlich deine!) akzeptierst. Dann gilt:

»Es gibt Wahrheit nur im Plural« und »Es gibt Wahrheit nur im Singular«.

Damit akzeptierst du auch, was dir widerspricht. Wenn du meinen Satz hingegen nicht akzeptierst, ist es nicht so weit her mit deinem wissenschaftlichen Polytheismus. Denn dann hast du doch einen obersten Lehrsatz, der über allem thront und sagt: Es gibt Wahrheit nur im Plural. Es kann aber nicht zugleich eine und viele Wahrheiten geben.«

Sie merken, dass man Pluralität nicht als Norm nehmen kann, weil sie sich selbst widerspricht: »Vielfalt ist verbindlich!« – das geht logisch nicht. Wahrheit kann es nur im Singular geben.

Unser listiges Bäuerlein hat mir seine Vermutung mitgeteilt, dass man in der vergangenen Postmoderne Wahrheit und Methode verwechselt hatte. Bei den Methoden, da herrscht Vielfalt. Methoden gibt es nur im Plural, schon allein deshalb, weil die begründende Methode nicht mit der Methode identisch sein kann, die begründet werden soll. Wir brauchen immer mindestens zwei (in Ziffern: 2) Methoden. Mindestens. Jede Methode führt zu einem anderen Ergebnis, aber beide wollen nur das eine: wahr sein. Wahrheit gibt es nur eine.

Was von den Postmodernen gemeint war, sagte der Bauer, war die praktische Einsicht, dass man eine Sache unter verschiedenen Aspekten betrachten kann und keine Betrachtungsweise logisch Vorrecht vor einer anderen hat.

Das allerdings war (in den Augen seines Deutschlehrers) auch nicht ganz richtig formuliert, da dieser Satz die Kenntnis der »Sache«, die man erst noch methodisch hervorbringen will, schon voraussetzt. Wozu dann noch die Methode? Besser gefiele es seinem Deutschlehrer, wenn das Bäuerlein gesagt hätte: »Man kann alle Fragen stellen, um etwas zu erkennen. Auf eine Frage kann man nun – besonders wenn sie unklar oder ungeschickt formuliert wurde – mehrere Antworten erhalten, so dass man weiter fragen muss.« Er wolle am Beispiel zeigen, was er meine, fuhr der Bauer fort. So könne sein Sohn fragen: ›Was ist das kleinste Teilchen?‹, und er würde antworten: »Deine Frage setzt voraus, dass die Welt aus Teilchen zusammengesetzt ist. Frag lieber, woraus Materie besteht.«

Das Prinzip, Erkenntnis als Antwort auf immer neue Fragen zu verstehen, war allerdings zu Beginn der Postmoderne bereits 150 Jahre Grundlage der modernen Erkenntnistheorie, wie z. B. Kant sie beschrieben hatte: Wir erkennen nur, wenn wir Fragen stellen und Antworten entgegennehmen. Je mehr wir fragen, desto mehr können wir erkennen. Keine Frage ist auszuschließen. Es gibt keine Ordnung der Fragen, keine Hierarchie. Jeder kann jede Frage stellen. (Wenn wir allerdings zu viel fragen, kennen schon bald nicht mehr alle Antworten …, da könnte ein Problem entstehen, weil der Einzelne dann im Verhältnis zum insgesamt wachsenden Wissen immer weniger weiß. Und dann könnten einige auf die Idee kommen und behaupten, sie wüssten nicht nur mehr …, sie wüssten es sogar besser.)

Die Leiter des Philosophischen Seminars

Nun möchten einige aktuelle Philosophen diese Bauernschläue gerne aus den philosophischen Diskursen verscheuchen. Man kann keine dicken Bücher über die Existenz des Nichtexistierenden schreiben, wenn ein einfältiger Bauer ihnen mit seiner Antwort die Existenzgrundlage zu entziehen vermag. Und so haben sich Wahrheitszweifler mehrere Antworten ausgedacht, um nun ihrerseits den Bauer kräftig aufs Kreuz zu legen.

Sie haben sich ein Bild ausgedacht: Es bezieht sich auf eine kleine Textstelle aus der »Logisch-philosophischen Abhandlung« (dem »Tractatus logico-philosophicus«) (1918/1921) des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951):

 

»6.54: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) / Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.«

Man sagt hiernach, dass der Satz »Es gibt keine Wahrheit« nur ein Hilfsmittel sei und man die Welt einmal probehalber unter der Perspektive betrachten wolle, dass es keine Wahrheit gäbe. Der Satz »Es gibt keine Wahrheit!« soll nicht zu den Sätzen gehören, auf den der Inhalt des Satzes angewandt werden soll. Er ist »metasprachlich«. Er ist über die Sprache und nicht Teil von ihr.

Das ist eine Variation der logischen Knobelei des Bauernsohns. Wer entscheidet denn mit welchen Argumenten, ob man die Leiter wegwirft oder nicht? Stehen dann diese Argumente fester als die Leiter? Und wieso steht da eine Leiter, wenn es keine Wahrheit gibt und daher auch keine Leiter? Denn wenn es keine Wahrheit gibt, kann auch nicht behauptet werden, dass dort eine Leiter steht. Man kann doch nicht etwas benutzen und anschließend, nachdem man es benutzt hat, sagen: Das, was ich benutzt habe, gab es gar nicht. Und schon kann es dann das geben, was mit dem, was es nicht gibt, erreicht werden sollte. Man kann es nicht sagen, auch wenn Umberto Eco (1932–2016) die Leitergeschichte in seinem Roman »Der Name der Rose« (1980) zitiert (»Er muoz gelichesame die leiter abwerfen, so er an ir ufgestigen«, S. 218).

Metasprache? Ein Phantom! Wenn Sie einem Fremdsprachler, der nicht versteht, was Sie mit dem Satz meinen »Willst du noch einen Teller Suppe essen?«, (metasprachlich) sagen: »Der Satz war zu diffizil. Ich stelle jetzt mal die letzte Satzperiode syntaktisch um!« – glauben Sie, er könnte dann die Metasprache verstehen? Probieren Sie’s aus. Es geht nicht. Wir haben nur eine Sprache. Die, die wir sprechen.

Nichts sagend?

Das Problem ist, dass jeder Versuch, die Wahrheit zu leugnen, diesen Versuch begründen muss. Diese Begründung muss methodisch erfolgen, sonst kann man ihr nicht folgen. Diese Methode ist daher nichts anderes als eine Methode, die etwas hervorbringt: und zwar etwas, was wahr sein soll. Eine Methode zu erfinden, die Unwahrheit wissentlich hervorbringen soll, ist Unsinn. Erst wenn man eine Methode fände, die keine wäre, könnte man zeigen, dass nichts wahr ist. Mit der »Dekonstruktion« hat man solches versucht.

Unter Dekonstruktion versteht man … Aber hören wir einen Dekonstruktivisten, Jacques Derrida (1930–2014):

»Was ich Dekonstruktion nenne, kann natürlich Regeln, Verfahren oder Techniken eröffnen, aber im Grunde genommen ist sie keine Methode und auch keine wissenschaftliche Kritik, weil eine Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge des Gegenstandes in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll. Die Dekonstruktion hingegen befasst sich mit Texten, mit besonderen Situationen, mit der Gesamtheit der Philosophiegeschichte, innerhalb derer sich der Begriff der Methode konstituiert hat. Wenn die Dekonstruktion also die Geschichte der Metaphysik oder die des Methodenbegriffs befragt, dann kann sie nicht einfach selbst eine Methode darstellen« (S. 11 f.).

Wieder kommen wir zur Sprache: Die Differenz von »Regeln, Verfahren oder Techniken« zu »Methoden«, die Derrida behauptet, erschließt sich nicht – zumindest vom üblichen Sprachgebrauch her betrachtet. Greifen wir zu einem nahestehenden Handbuch: »Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet das Wort ›Methode‹ die Verfahrensweise, nach der Denkprozesse oder Handlungsabläufe durchgeführt werden. (…) innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen und der technischen Vorgehensweisen sind die jeweils maßgeblichen Verfahren mit unterschiedlicher Präzision festgelegt« (Rapp, S. 913f.). Die Nicht-Methode Derridas ist identisch mit dem, was man gemeinhin Methode nennt.

Die Behauptung Derridas, dass »Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge des Gegenstandes in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll«, baut ebenfalls ein Phantom als Sparringspartner auf. Etwas Nichtexistierendes. Denn Derridas Behauptung ignoriert, dass das von ihm geforderte neue Methodenverständnis nichts anderes als genau das Methodenverständnis referiert, was seit langen Jahren angewandt wird. Erfolgreich angewandt wird, wie man zeigen kann, indem man Derrida zu verstehen sucht. Zumindest ist es ein Methodenverständnis all jener Wissenschaften, die sich mit Sprache, Kultur und Kunst beschäftigen. Ein wunderbarer Mann und Kunsttheoretiker hat diese Methode wunderbar beschrieben, nämlich Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Um zu erklären, wie man die Wahrheit eines Kunstwerkes erforscht, hat er ein sinnfälliges Bild gebraucht:

»Das wahre Gefühl des Schönen gleicht einem flüssigen Gipse, welcher über den Kopf des Apollo gegossen wird und denselben in allen Teilen berührt und umgibt« (S. 143).

Dies wirkt wie eine archetypische Beschreibung dessen, was Methode ist – Methode zumindest in allen Kulturwissenschaften, denn nun kann niemand mehr mit guter Begründung Interpretation und Gegenstand trennen: Interpretation ist dieser Auffassung nach genau dann methodisch, wenn sie den Eigensinn der Gegenstände herauszufinden sucht. Hier legte Karl Philipp Moritz (1756–1793), als ein Vertreter der modernen Klassik, die Regellosigkeit der Regeln als Regel für die Interpretation fest:

»Denn darin besteht ja eben das Wesen des Schönen, daß ein Theil immer durch den andern und das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend wird – daß es sich selbst erklärt – sich durch sich selbst beschreibt – und also außer dem bloß andeutenden Fingerzeige auf den Inhalt keiner weitern Erklärung und Beschreibung bedarf« (S. 95).

Unter dieser Perspektive wäre neu zu klären, warum der Dekonstruktivismus keine Methode wie jede andere sei. Die zitierte Begründung Derridas zumindest reicht nicht aus. Belassen wir es vorerst dabei.

Ein Vorschlag zur Güte

So lange, bis jemand

• ohne Methode,

• ohne Argumente und damit

• ohne performativen Widerspruch

zeigt, dass er bei seinen Überlegungen keine Wahrheit voraussetzt, gehen wir vorläufig davon aus, dass man die Wahrheit voraussetzen muss. Mein Argument in Kurzform: Wer bezweifelt, dass man Wahrheit voraussetzen muss, stellt sein Zweifeln unter Wahrheitsanspruch und setzt damit Wahrheit voraus. Genau das war eingangs behauptet worden.

Allerdings kann man aus dem Umstand, dass man Wahrheit voraussetzen muss (wenn man spricht), nicht schließen, dass es die Wahrheit auch gibt. Wir sind noch nicht am Ende.

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