Der Gestrandete

Text
From the series: Lindemanns #327
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

3

In der Theatergruppe freuten sich alle über Franks engagierte Teilnahme. Eveline sagte, es gehe ein neuer Wind durch die Gruppe, die Arbeit intensiviere sich, durch Franks Beitritt habe sich alles verändert.

Er hatte ihnen ein ungewöhnliches Werk als neues Projekt vorgeschlagen: „Die Elixiere des Teufels“ von E.T.A. Hoffmann, ein düsterer, schwer lesbarer Roman aus der Weltliteratur, den er eigenhändig fürs Theater adaptiert hatte und über den sie nun diskutierten.

Ich blieb weiterhin auf Distanz zu ihm und wollte mich nicht mit ihm befassen. Nach seiner Umarmung im Bistro erschien mir seine Person noch zwielichtiger als zuvor. Immer wenn es um Frank ging, wenn Eveline irgendwas von ihm erzählte, schaltete ich ab und hörte weg. Durch die Theatergruppe war er dennoch im Hintergrund präsent. Außerdem war er hartnäckig, was das ‚freundschaftliche Verhältnis‘ zu Eveline und mir betraf, und so war es nicht verwunderlich, dass er bald wieder bei uns auftauchte.

Das erste Mal saß ich gerade im Garten und bekam nicht mit, dass Eveline ihm die Tür geöffnet hatte. Er kam auf die Terrasse heraus, hielt eine Geschenkpackung in der Hand und winkte mir zu. Ich hatte es mir unter unserem Apfelbaum bequem gemacht und schreckte von der Liege auf, als ich ihn sah. Eveline kam ebenfalls auf die Terrasse und er überreichte ihr sein Geschenk – eine Schachtel Mon cherie. Hätte ich wegen dieser Schachtel Pralinen einen Aufstand machen sollen?

Eveline sagte mir später, sie habe ihn nicht eingeladen. Wenn sie gewusst hätte, dass er uns besuchen wolle, hätte sie mich natürlich gefragt und eine Kleinigkeit zum Essen vorbereitet. Aber Kalina war nicht gekommen, um bei uns zu essen. Er wollte nur hallo sagen und fragen, ob wir Lust hätten, am nächsten Sonntag mit ins Kino zu kommen.

Ich stand erst nach einigen Minuten auf und ging zur Terrasse. Inzwischen hatte sich Frank auf einen Stuhl gesetzt und betrachtete das Grundstück voller Bewunderung.

„Ein so schöner Fleck“, sagte er, „es wirkt so natürlich eingewachsen, wie in einem Märchengarten, als wäre alles schon hundert Jahre alt. Wirklich traumhaft schön.“

„Meine Eltern haben den Garten angelegt“, sagte Eveline, die gerade mit Bier und Gläsern herauskam. „Aber natürlich gibt es einen Gärtner, der das Grundstück in Schuss hält. Wir sind beide keine großen Hobby-Gärtner.“

Er schaute immer noch mit großen Augen auf die Birken und den dicken Stamm der Pappel, der von Efeu umrankt war. Sein Blick folgte dem Efeulaub, das sich an der rückwärtigen Mauer entlang zog, und wanderte zu den Steinen, die kreisartig um eine kleine Erhebung angeordnet waren, bis zu den Sträuchern und Rosenbüschen am Rand.

Dann sprachen Eveline und er über die Theaterarbeit; es ging um Details in seinem Hoffmann-Stück, Fragen der Besetzung und dergleichen. Er bemühte sich jedoch, mich ins Gespräch mit einzubeziehen, und bedachte mich die ganze Zeit mit Blicken.

Wir gingen schließlich ins Haus, da die Luft etwas kühl wurde.

Ich weiß nicht, woran es lag, aber ich hatte dauernd das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Wir setzten uns an den Wohnzimmertisch und er rührte sein Bier kaum an, so sehr war er mit dem Gespräch beschäftigt. Er redete zwei Sätze mit Eveline, dann drehte er den Kopf, um die nächsten Sätze in meine Richtung zu sprechen. Er kam mir vor wie ein Zirkusjongleur, der die Tellernummer abzog, bei der es darum ging, keinen Teller von der Stange zu verlieren.

Was wollte er nur von uns?

Das fragte ich mich immer wieder, kam aber auch diesmal nicht weiter.

Beim Gehen leistete er sich eine Peinlichkeit.

Johanna war kurz davor ins Wohnzimmer gekommen, doch als sie Frank sah, machte sie kehrt und verließ den Raum.

Wenig später verabschiedete er sich und sagte, er finde schon allein hinaus. Er ging aber nicht gleich aus dem Haus, sondern bog im Flur nach rechts. Er musste Johanna in der Küche gehört haben, die dort saß und Tee trank. Sie sprachen kurz miteinander, was wir vom Wohnzimmer aus hören konnten. Dann ging die Haustür.

Gleich darauf kam Johanna herein, rollte mit den Augen und blieb einen Moment vor uns stehen.

„Was ist passiert?“, fragte Eveline.

Johanna ging um den Tisch herum und setzte sich. „Ich glaube, der spinnt!“

„Sag schon, was war denn“, sagte Eveline.

Johanna schaute uns mit einem Grinsen an und legte ihre geballte Faust auf den Tisch.

„Das hat er mir gegeben“, sagte sie und öffnete die Hand. Darin lag ein Fünfzig-Euro-Schein.

„Das ist wohl ein Scherz“, sagte ich. „Was will er denn damit bezwecken? Du musst ihm das Geld natürlich zurückgeben.“

„Findest du das auch?“, fragte sie Eveline.

Eveline kräuselte die Lippen.

„Warum hat er es dir gegeben?“

„Er sagte, ich soll nicht mehr böse auf ihn sein, er hätte mich nicht erschrecken wollen, es tut ihm Leid, und so weiter. Ich sagte, ist schon vergessen. Aber er sagte, nein, er hätte noch was gut zu machen. Und dann gab er mir den Schein.“

„Was hat er gesagt, das du damit machen sollst?“

„Eveline“, sagte ich, „es ist doch klar, dass das nicht geht. Johanna lässt sich doch nicht kaufen!“

„Es ist nur ein Geschenk“, sagte Eveline.

„Genau“, sagte Johanna und schloss die Faust, „ein Geschenk.“

„Ein Geschenk? Fünfzig Euro? Um sich zu entschuldigen? Das ist doch total unnormal.“

„Wenn sich Johanna nicht beleidigt fühlt, dann kann sie das Geld von mir aus behalten. Das ist meine Meinung.“

Johanna hob jubelnd die Arme.

„Sie muss es ihm zurückgeben“, sagte ich. „Es war ein Fehler von ihm. Nicht fünfzig Euro. Das wollte er nicht. Du hast doch selbst gesagt, dass er spinnt.“

„Ist das mein Problem?“, fragte Johanna. „He, er hat mich nicht angemacht oder so, er hat nicht mal einen blöden Spruch losgelassen. Dann hätte ich es natürlich nicht genommen.“

„So leicht ist das aber nicht“, sagte ich.

„Doch, so leicht ist das“, sagte sie und ging hinaus.

Natürlich war diese kleine Szene harmlos, verglichen mit anderen Streitigkeiten, die wir – vor allem ich – mit Johanna in letzter Zeit gehabt hatten.

Aber ich war nicht bereit, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Wie kam er dazu, unserer Tochter Geld zu schenken? Lag es daran, wie Eveline meinte, dass ihn sein Schuldgefühl quälte? Oder dass er kein Gespür für Geld hatte – was, wie sie sagte, doch ganz sympathisch sei.

Für mich sah die Sache anders aus. Ich hielt sie für inakzeptabel.

Als ich Eveline das sagte, schüttelte sie den Kopf.

„Menschen treiben manchmal komische Sachen. Wenn du wüsstest, Sascha, was die Leute alles anstellen, um ans Ziel ihrer Wünsche zu kommen.“

Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Vermutlich meinte sie die immer wieder vorkommenden Unstimmigkeiten zwischen den Mitgliedern der Theatergruppe, in der mitunter erbitterte Kämpfe bei Besetzungsfragen ausgefochten wurden.

Ich musste mir eingestehen, dass ich jetzt anfing öfter über Frank nachzudenken und ihn nicht mehr aus dem Kopf bekam. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht und mir scheinbar zufällig in der Galerie begegnet, die in demselben Haus war, in der auch mein Büro lag. War das wirklich ein Zufall gewesen? Oder nicht eher eine Inszenierung (wie ja auch das Treffen auf dem Gutenbergplatz, das offensichtlich von ihm arrangiert worden war).

Da ich meine Arbeit als täglichen Kampf empfand, als mühsames Halten der Stellung, als nicht endendes strategisches Vor und Zurück, wurde ich eine gewisse Erschöpfung nie ganz los. Gleichzeitig war ich oft unfähig einzuschlafen, lag nachts stundenlang wach und kam morgens müde und mit schmerzenden Muskeln ins Büro.

In dieser Verfassung war mir ein Gestrandeter wie Frank Kalina ganz recht. Er war verzweifelt und suchte händeringend irgendwo Anschluss; er schenkte Johanna viel zu viel Geld, um sich ihr und uns gewogen zu machen; er war ein Schauspieler ohne Karriere, der seine Erfolge in einer freien Theatergruppe suchte.

Ich betrachtete sein bisheriges Schicksal ohne jede Häme. Vielleicht war er schuldlos, vielleicht hatte ihm der Amerikaaufenthalt tatsächlich geschadet; er war zu jung gewesen, um einzusehen, dass es der falsche Weg war, und als er zurückkam, war er aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage auf den geraden Weg zurückzufinden.

Er tat mir leid, trotzdem wollte ich keinen Schritt auf ihn zu machen. Ich vergrub mich in mein Büro, verriegelte die Tür und machte mir einen schwarzen Kaffee. Dann verschwand ich für die nächsten Stunden nach Indonesien, Sumatra und Bali, Aceh und Thailand, überall dorthin, wo der Tsunami 2004 seine Spuren hinterlassen hatte.

Dass diese Katastrophe eine Viertel Million Menschen das Leben gekostet und nahezu zwei Millionen Küstenbewohner auf einen Schlag obdachlos gemacht hatte, konnte sich niemand vorstellen. Das Wüten selbst – das Seebeben und die anschließende Monsterwelle – blieb im Grunde abstrakt. Wellen so hoch wie Häuser kamen auf breiter Front angerast und rissen jeden Widerstand mit sich. 15 kleinere Inseln versanken unter dem Meeresspiegel.

Sogar auf die Rotation der Erde hatte diese Naturkatastrophe Auswirkungen gehabt: Nach dem Seebeben hatte sich die Erdachse nachweislich um mehrere Zentimeter verschoben – exakt um zweieinhalb Zentimeter – und die Rotation hatte sich seitdem geringfügig beschleunigt, die Tage waren um ein paar Mirkosekunden kürzer geworden, genau seit dem 26. Dezember 2004.

Eine Ahnung von Auflösung, Chaos, Vernichtung durch kosmische Kräfte werden heutige Menschen nie ganz los. Die Angst ist ihr ständiger Begleiter. Mich interessierte genau diese diffuse Angst, diese dunklen Vorahnungen einer globalen Katastrophe. ReFuge Nr. 50 sollte sich mit den zeitgenössischen Schreckensszenarien auf produktive Weise auseinandersetzen. Natürlich nicht in billig voyeuristischer Weise. Statt Untergangsstimmung zu erzeugen, sollten die Geschichten deutlich machen, wie sich das Seelenleben heutiger Menschen veränderte, wenn sie in zunehmender Dichte mit großen Katastrophen konfrontiert wurden.

 

Ich stellte mir vor, dass es keinen Schutz gab vor dem elementaren Schrecken, er verfolgte die Menschen überall hin, kroch ins Haus, ins Zimmer, ins Bett hinein und besuchte sie in ihren Träumen. Statt eines Gefühls von Geborgenheit beherrschte sie die Ahnung totaler Hilflosigkeit. Die Angst wurde selten fassbar, rumorte im Stillen, doch manchmal kam sie über sie, vor allem dann, wenn sich erneut irgendwo auf der Welt ein unfassbares Desaster ereignete.

Auch der Anblick Kalinas weckte bei mir dunkle Ahnungen, er vermittelte trotz seiner scheinbaren Souveränität den Eindruck von ständiger Getriebenheit. Es kam immer häufiger vor, dass ich beim Herausarbeiten von Charakteren, beim Verfassen von Alltagsglossen an ihn dachte. Seine Physiognomie war mir hilfreich, wenn ich Feuilletons vom heutigen Leben schrieb.

Ich verabredete mich nach einer Woche wieder mit ihm in jenem Bistro am Gutenbergplatz. Ich wollte ihm die 50 Euro zurückgeben. Doch an diesem Tag wirkte er so niedergeschlagen, dass ich mein Vorhaben aufschob.

Etwas an ihm stimmte mich misstrauisch, ich konnte nicht genau sagen, was es war, vielleicht jener „Minimalismus“, den Eveline an ihm beobachtet hatte und der mir irgendwie unehrlich erschien. Er schaute ins Weite, während er in ruhigem Ton erzählte, dann fixierte er mich wieder mit schwermütigen Augen, so dass seine Ausführungen nie monoton wirkten.

Sein Lebensrückblick ließ unterschiedliche Deutungen zu: Er hatte schlichtweg versagt; er hatte Pech gehabt; er war unfähig gewesen Entschlüsse zu fassen; er hatte die falschen Leute kennengelernt. Alles traf in gewisser Hinsicht auf Frank Kalina zu, aber es blieb immer ein unerklärter Rest. Er sagte, er habe viele Jahre lang großes Heimweh nach Deutschland gehabt, sich aber den Rückkehrwunsch nicht erfüllen können.

„Warum nicht?“, fragte ich.

„Es war nicht möglich, ich konnte nicht, ich fühlte mich gezwungen in Teneriffa zu bleiben, wo ich mich als Animateur verdingte und als Reiseverkäufer arbeitete. Wohin hätte ich ziehen sollen, in welcher Stadt wohnen? Es waren lauter verbotene Städte für mich: Frankfurt, Freiburg, Berlin. Ich konnte mir nicht vorstellen an einem dieser Orte neu anzufangen.“

„Dann war dein Heimweh wohl nicht stark genug, andernfalls wärst du doch einfach gekommen. Wer oder was hätte dich daran hindern sollen?“

Er schwieg mit einem Ausdruck unterdrückter Verzweiflung im Gesicht.

Es war Nachmittag, wir hatten wieder den Loungebereich besetzt, saßen in Sesseln am niedrigen Tisch; leise säuselte Radiomusik im Hintergrund. Frank begann zu schwitzen, seine Wangen glänzten; er sprach wie unter Anstrengung und schien sich nicht entspannen zu können.

„So einfach war es nicht. Ich fühlte mich sicher, solange ich in der Ferienanlage arbeitete. In Deutschland hätte ich mir mein Scheitern sofort eingestehen müssen. Ich spürte zwar, dass ein riesiges Loch in mir war, aber wenigstens hatte ich dort meine Ruhe. Ich hatte Kollegen, denen es ähnlich ging wie mir, die aus irgendwelchen Gründen auf der Flucht waren. Manche hatten Schulden in Deutschland, andere waren aus ihrer Ehe geflohen, hatten Kinder, um die sie sich nicht kümmerten.“

„Aber du warst doch nicht auf der Flucht“, sagte ich, „ich verstehe das wirklich nicht.“

Er seufzte schwer. „Es war dieses Milieu, in das ich hineingeraten war. Statt etwas anzupacken, die Schauspielerei endlich professionell zu betreiben, saß ich lieber auf der Pool-Terrasse in Spanien, unterhielt mich mit einer Kollegin und wartete auf die Touristen, um sie zu bespaßen.“

Er griff in seine Sakkotasche, wie um etwas herauszuholen, hielt aber in der Bewegung inne und nahm die Hand wieder heraus.

„Ich fühlte mich irgendwie abgestempelt. Ja, genau, als wäre ich nicht mehr Teil dieser Welt.“

„Schon merkwürdig“, sagte ich, „du hättest dich doch eigentlich um deine Schauspielerei kümmern sollen. Hast du dort nichts dafür unternommen?“

„Alles, was es in Teneriffa in dieser Hinsicht gab, waren die Hotelbühnen fürs Unterhaltungsprogramm. Dort waren Zauberer oder Sänger mehr gefragt als Schauspieler. Ich traf in all den Jahren eigentlich nur einen einzigen Menschen, der sich überhaupt für Kunst interessierte. Der war allerdings ein spezieller Typ, ein Holländer aus Amsterdam, der früher Drogen nahm und oft ein wenig abwesend wirkte. Ich habe später erfahren, warum. Er hatte im Streit einen Mann umgebracht.“

„Was? Ein Mörder?“

„Ein Totschläger. Es war Totschlag, nicht Mord. Das hat es mir versichert. Jan, hieß er.“

„Und was ist da genau passiert?“

„Das weiß ich nicht. Jan wollte nicht darüber sprechen. Er machte bloß ein paar Andeutungen, dass es vor einer Kneipe passiert ist.“

„Und wurde er gefasst?“

„Nein, ich glaube, er hat sich der Strafe entzogen. Jan war total okay, wirklich, ein absolut gutmütiger Kerl. Wenn du ihn gekannt hättest, hättest du ihm eine solche Geschichte nicht zugetraut.“

Beim Verabschieden fragte ich ihn, wo er zurzeit wohne. Er nannte eine Adresse in der Nähe des Bahnhofs. Mir fiel ein, dass er in der Galerie in Begleitung von Frau Hauser gewesen war.

„Frau Hauser wohnt auch dort, soviel ich weiß. In einer dieser schönen Seitenstraßen unweit des Hauptbahnhofs.“

„Ja, stimmt. Sie ist übrigens meine Tante. Zurzeit habe ich noch ein Zimmer bei ihr, aber ich suche nach einer kleinen Wohnung. Also, wenn du mal etwas hören solltest.“

4

Meine Stimmung war in diesen Wochen vor allem von den düsteren Bildern der Katastrophe im Indischen Ozean geprägt. Doch manchmal kam mir selbst meine Arbeit als Journalist wie die Tätigkeit eines Bestatters vor. Wurde nicht täglich vom Sterben der Zeitungen berichtet? Geisterten nicht Totengräber durch die Redaktionen, die auf diesen, auf jenen und einen dritten Stuhl zeigten, woraufhin der betreffende Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin zur Monatsfrist „freigesetzt“ wurde?

Verglichen mit der Wucht eines Tsunamis, war das Zeitungssterben natürlich sanft; aber wem sein Job gekündigt, wem von heute auf morgen gesagt wurde, er werde im Haus nicht mehr gebraucht, der fühlte sich unter Umständen auf andere Weise wie weggespült und rang verzweifelt um Atem.

Hauptsächlich belieferte ich mit meinen Artikeln eine große Tageszeitung, nachdem meine Arbeit für die übrigen Blätter im Lauf der Jahre unsicherer geworden war. Die verbliebene Zeitung lag jedoch ihrerseits im Sterben, und wenn wir freien Schreiber uns nicht sehr anstrengten und durch unsere schlecht bezahlten Beiträge ihren Zustand stabilisierten, drohte bald die letzte Ölung. Insgeheim plante ich eine Existenz jenseits des Journalismus. Meine Arbeit für ReFuge wies ja bereits in diese Richtung; dort durften die Gedanken frei schweifen, ohne Zwang zur Aktualität. In dieser Zeitschrift ging es nicht darum, Informationen zu vermitteln, die jeder schon irgendwo aufgeschnappt hatte und die am Abend niemand mehr interessierten. Wichtiger war hier, dass eine schöne Sprache gefunden wurde, eine Sprache, die sowohl jedem zugänglich als auch einprägsam war. Informationen und Faktenwissen waren überall zu erhalten, dagegen gab es kaum etwas zu lesen, das die emotionale Seite im Umgang mit Katastrophen und Verheerungen beschrieb.

Ich betrachtete am frühen Nachmittag die Bäume in unserem Garten und entdeckte an den Zweigen sprießendes Grün. Ich saß auf einem gepolsterten Stuhl am Rand des Rasens und rauchte eine Zigarette. Mich packte wie jedes Jahr eine Art Frühlingsschwermut angesichts dieser naiven Kraft, die überall im Garten bemerkbar wurde. Ich wurde dieses Jahr dreiundvierzig, aber das scherte diese gierig strotzenden Pflanzen überhaupt nicht, der Garten würde wieder genauso schön werden wie im vergangenen Sommer. Die Natur funktionierte wie eine Maschine, die ewig läuft, ohne zu altern. Sie sorgte für Vermehrung und Ausdehnung, ließ Blüten und Früchte entstehen, doch genauso gefiel es ihr manchmal, alles wegzufegen, was ihr im Weg stand, und das Leben auszulöschen. Das Ganze hatte so wenig Sinn und Bedeutung wie eine Ziffer im Weltall.

Wer je versucht hat, unsere Abhängigkeit von der Natur zu beschreiben, der ist auf seinem Stuhl melancholisch geworden. Ich wusste, wie leicht sich Resignation in die Arbeit daran mischte, darum räumte ich den Autoren, die für ReFuge zum Thema Naturkatastrophe schrieben, große Freiheiten ein. Zwischen Hymnus und Pamphlet, zwischen Schmähung und Vergötterung sollte alles erlaubt sein. Ich wollte lesen, was die Natur denkenden und schreibenden Menschen heutzutage erzählte.

Die Arbeit an der ReFuge erlöste mich manchmal vom Betteljournalismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Natur konnte kaum erbarmungsloser sein als der Abstieg, den die Zeitungen derzeit erlebten. Der Stand des gründlich Lesenden, in den Rubriken Blätternden, stundenlang darin Verweilenden, schien auszusterben. Mit dem Rascheln der Seiten erstarb auch die Tragweite von Nachrichten und Kommentaren, und zurück blieb die blinkende Fülle von Skandälchen und Sensationen. Eine solche „Sensation“ war natürlich auch jenes spektakuläre Unglück vom 26. Dezember 2004, das zwar heute fast schon wieder vergessen war, aber dennoch zu den furchtbaren Großereignissen der jüngsten Geschichte zählte.

Ich hatte schon etliche Texte der Autoren ausgedruckt und trug sie in einer Mappe bei mir. Ehe ich sie Alexander Mill schicken konnte, musste ich sie aber redigieren. Diese Arbeit erledigte ich zu Hause, wo ich es bequemer hatte. Ich las und korrigierte eine Stunde im Garten, bis mir kühl wurde, dann setzte ich mich ins Wohnzimmer an den niedrigen Tisch, dessen schwere Platte aus einem bunten Mosaik bestand.

Kurz nach acht hörte ich den Schlüssel in der Wohnungstür. Eveline kam mit Frank ins Wohnzimmer, wo ich noch am Tisch saß und in den Manuskripten blätterte.

Es war Donnerstag, der Abend der Theatergruppe. Frank sah in seinem Sweatshirt ein wenig verschwitzt aus.

„Habt ihr Hunger?“, fragte sie. „Ich richte uns ein paar Tapas!“

Während ich das Papier wegräumte und Eveline anfing die Sachen aus dem Kühlschrank zu holen, setzte sich Frank auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters. Es war einer unserer „Biedermeierstühle“ aus dem Familienbesitz.

„Woran arbeitest du gerade?“, fragte er.

„Ach, es geht um die neue ReFuge. Ich habe mir einen Überblick über die aktuellen Einsendungen verschafft.“

„Was ist ReFuge?“, fragte er.

„Eine Literaturzeitschrift.“

Wir setzten uns an den Tisch und begannen uns die Teller mit Tapas zu belegen. Ich entkorkte die Rotweinflasche und füllte die Gläser.

Frank hatte sich mit an den Tisch gesetzt, als würde er zur Familie gehören.

Ich war noch gedanklich bei einem der Texte, in dem das dramatische Geschehen auf Sumatra und die brutale Welle aus der Sicht einer Zwölfjährigen beschrieben worden waren.

Frank fragte mich nach meiner Funktion bei der Zeitschrift. Als ich ihm beiläufig darauf antwortete, rief er: „Chefredakteur? Du bist Chefredakteur? Das ist ja wunderbar. Und was sind das für Texte, Gedichte?“

„Gedichte habt ihr bis jetzt noch nicht abgedruckt, oder?“, sagte Eveline.

„Es ist eine Prosazeitschrift“, sagte ich. „Ich finde, Prosa muss heutzutage gefördert werden. Unsere Aufgabe besteht darin, die Leser dazu zu verführen, fünfzehn dicht gehärtete Seiten in einem Zug zu lesen – gebannt und konzentriert. Das hat heute schon Seltenheitswert.“

„Und wovon handeln die Texte der neuen Ausgabe?“

Ich wollte es ihm gerade erklären, doch gleich nach dem ersten Satz fiel er mir ins Wort.

„Der Tsunami? Du meinst, den Tsunami von 2004? Stell dir vor, den habe ich auf Bali miterlebt. Es war die reine Hölle. Und ich hatte noch Glück.“

„Du warst auf Bali?“

Er nickte und legte die Gabel aus der Hand.

„Pass auf, das war so: Ich saß gerade beim Frühstück im Hotel, als es losging. Davor war ich noch kurz am Strand gewesen. Als ich mich an den Tisch auf der Terrasse setzte, fiel mir auf, dass das Meer an diesem Morgen sehr flach war. Es schien eine kilometerweite seichte Fläche zu sein, ich sah viele schwarze Punkte am Boden, das waren große Muscheln, die sonst nie zu sehen waren. Ich überlegte, ob ich wieder hinuntergehen und mir das alles aus der Nähe ansehen sollte. Unten waren wie immer viele Urlauber mit ihren Kindern, die tollten im Sand herum. Kurz darauf fiel mir etwas auf, ich dachte zuerst, es sei die Gischt eines Kreuzfahrtschiffs, aber plötzlich war da ein breiter grauer Streifen auf ganzer Front zu sehen. Ziemlich hoch und deutlich zu erkennen. Das ist kein Schiff, dachte ich, das sieht aus wie Nebel. Ich wusste in dem Moment noch nicht, dass es eine Welle war und dass ein Tsunami auf die Küste zuraste. Dann ging alles sehr schnell. Die Welle kam angerast, aber kaum jemand am Strand schien sie zu bemerken. Ich rannte schreiend hinunter, andere folgten mir. Ich sah zwei kleine Kinder in der Nähe, packte sie an den Händen und zog sie hinter mir her. Wir kamen bis ins Hotel. Dort erwischte uns das Wasser. Durch den ganzen Raum ergoss es sich mit unvorstellbarer Wucht. Ich schaffte es bis zur Treppe und zog die beiden schreienden Kinder einfach mit mir hoch. Es war buchstäblich Rettung in letzter Sekunde.“

 

Als er schwieg, konnte ich nichts sagen. Ich hatte auch zu essen aufgehört.

„Man hat diese Dinge ja in den Nachrichten gesehen“, sagte Eveline, „aber vorstellen kann man es sich trotzdem nicht richtig.“

„Was hast du denn auf Bali getrieben?“, fragte ich. „Urlaub?“

Er nahm einen Schluck Rotwein und schüttelte den Kopf.

„Ich war bereits ein ganzes Jahr dort, als der Tsunami kam.“

„Und was macht man ein Jahr auf Bali?“, fragte Eveline.

Sie schien nicht mitzubekommen, dass ihm das Thema unangenehm war. Er war blass geworden, als sie ihn nach seiner Zeit auf der Insel fragte.

Ich nahm mir noch ein paar Tapas und nutzte die kurze Pause, um selbst eine Frage zu stellen.

„Mich würde interessieren, wie du diese Katastrophe verarbeitet hast? Viele Menschen, die so etwas erleben, haben Spätfolgen, Angstzustände, Panikattacken ...“

„Panikattacken habe ich zum Glück keine. Aber wenn ich davon spreche, wird es mir jedes Mal wieder mulmig. Dann sehe ich alles wieder vor mir, rieche das Wasser und höre die Schreie.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Eveline. „Das muss furchtbar gewesen sein! Erzähl, wie es weiterging.“

Je mehr er sprach, desto hilfloser wirkte er. Er versuchte sich offenbar die Szenerie im Hotel zu vergegenwärtigen und baute im Geist das ganze Durcheinander noch einmal auf. Aber er schüttelte immer wieder den Kopf und unterbrach seine Rede, als könne er sich nicht mehr genau erinnern.

„Ich habe schon so lange nicht mehr davon gesprochen. Es kommt mir vor, als wäre das in einem früheren Leben passiert.“

„Warum isst du denn nichts?“, fragte Eveline und schenkte ihm wieder Wein nach.

Ich sah, dass er Mühe hatte die Fassung zu wahren. Er sprach zwar weiter, aber der Schweiß auf seiner Stirn und sein stierer Blick verrieten mir, dass ihm das Thema zusetzte. In meiner Vorstellung war der Tsunami eine der schlimmsten Katastrophen, in die ein Mensch geraten konnte. Die Welt stand in diesem Moment kopf, alle Beziehungen lösten sich auf, jeder Halt wurde in den Strudel gerissen. Wenn Frank ein solches Chaos aus nächster Nähe – im ersten Stock des Hotels – miterlebt hatte, dann hatte er Momente schlimmster Verlassenheit, Ängste eines frei schwebenden Menschen im Weltall durchgemacht.

Nach einer halben Stunde sagte er, er wolle gehen. Er bat mich, ihn kurz vor die Tür zu begleiten. Er müsse mir noch etwas sagen.

Wir zogen unsere Jacken an und gingen auf die Straße. Es war ein dunstiger Maiabend. Ohne lange zu überlegen, ging ich auf die Alb zu, um auf den Spazierweg längs des Flüsschens zu gelangen. Er folgte mir die wenigen Treppenstufen hinunter, wir gingen über die kleine Brücke und blieben ans Geländer gelehnt vor dem rauschenden Wehr stehen.

Frank blickte in das schäumende Wasser, das nur etwa zwei Meter vor uns durch die Schleusenanlage gejagt wurde. Es war ein gleichmäßiges Rauschen, das die Dunkelheit durchschnitt, ohne dass es einen zu sehr bedrängte.

Nach ein paar Minuten sagte er seufzend: „Hätte ich doch auch die ganze Zeit hier leben können! Tagsüber das Büro. Abends ein bisschen an der Alb spazieren.“

„Du hast dich in der Welt umgesehen. Ist doch auch nicht schlecht.“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Das Reisen wird allgemein überschätzt. Es ist ja doch nur das Sahnehäubchen auf dem unbegreiflichen Ganzen. Außerdem kann es einen aus der Bahn werfen und süchtig machen. Ich hätte mir lieber etwas aufbauen sollen. Jetzt muss ich mit über Vierzig noch mal von vorne anfangen. Mit Laien zusammen Theater spielen. Ich will nicht undankbar sein, ganz und gar nicht. Es ist ein großer Glücksfall, dass ich dich und deine Frau getroffen habe. Und dass Eveline mich in die Gruppe aufgenommen hat.“

Ich spürte, dass er irgendeine Reaktion von mir erwartete, aber ich schwieg.

„Du weißt nicht, wie wichtig das für mich ist“, fuhr er fort. „Ich war total am Ende, sah keinen Ausweg mehr. Und da treffe ich euch.“

„Sag mal, wo hast du eigentlich deine spätere Frau kennengelernt?“

„In Teneriffa. Nicki war auch Animateurin und wir haben lange zusammengearbeitet und uns angefreundet. Dann haben wir in Santa Cruz geheiratet. Nach einem dreiviertel Jahr war die Ehe schon kaputt.“

„Das ist schwer vorstellbar.“

„Alles ist schwer vorstellbar!“, sagte er plötzlich laut. „Wenn man hier steht, umgeben von dieser Fluss-Idylle, dieser wohl tuenden Sicherheit, diesem kleinen feinen Leben!“

„Was willst du damit sagen?“

Er schwieg, schaute ins Wasser und hielt das Geländer mit beiden Händen umklammert.

„Warst du wirklich so lange auf Bali?“, fragte ich. „Hast du denn so dick geerbt, dass du dir das leisten konntest?“

„Nein, natürlich nicht.“ Er seufzte und hob den Kopf. „Bali, das klingt für dich vermutlich nach Abenteuer, Exotik, Vulkane und Felsentempel und so weiter. Das ist dort alles zu sehen, aber ich war nicht als Tourist unterwegs. Ich habe in einem kleinen Strandressort als Callboy gearbeitet. Das war alles. Wäre der Tsunami nicht gekommen, würde ich wahrscheinlich heute noch dort arbeiten. Allerdings wird man auch nicht gerade jünger.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Etwas hilflos stammelte ich schließlich: „Als Callboy? ... Warum ...?“

Er stieß einen verächtlichen Laut aus.

„Ich hab das verdammte Geld gebraucht.“

„Und jetzt willst du vermutlich, dass ich Eveline nichts davon sage?“

„Nein, das ist nicht meine Sorge. Ich will nur, dass du mich nicht verachtest und schlecht über mich denkst. Mir ist der Kontakt zu euch absolut wichtig. Ich will euch nicht belügen. Darum bin ich so offen und erzähle es dir. Auch wenn’s mir nicht leicht fällt.“

Sein Geständnis verblüffte mich tatsächlich. Wie hatte er in diese Lage kommen können sich zu prostituieren? Ich spürte eine Abneigung, ja eine Fremdheit, die nicht zu überbrücken war. Immerhin hatte er sich mir anvertraut und wirkte ziemlich kleinlaut. Bei allem Widerstand beeindruckte mich seine Offenheit. Immer mehr war ich davon überzeugt, dass er noch mehr Geheimnisse besaß, die er mir Schritt für Schritt offenbaren würde. Vor allem aber war ich erleichtert, dass er trotz seiner scheinbar abenteuerlichen Reisen keinen glänzenden Lebenslauf vorzuweisen hatte. Es war deutlich zu spüren, dass er uns um unser geordnetes Dasein beneidete.

You have finished the free preview. Would you like to read more?