Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático

Text
From the series: Orbis Romanicus #19
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Das ,Essayistische‘ entsteht zunächst aus der selbstpraktischen ,Askesis‘. Doch Montaigne legt in die Idee der ,Askesis‘ den Gedanken an ihr Scheitern an, richtet sie gegen sich selbst und veranlagt sein Schreiben somit als (selbst-)kritischen ,Versuch‘. Entweder Ironie oder Tragik folgt dieser Haltung.266 Das ,Essayistische‘ bleibt, ebenso wie sein schreibendes ,Ich‘, immer mit einem Fuß in jenem „Geflimmer der Möglichkeiten“, das Kristeva als das ,Semiotische‘ einer näheren Betrachtung unterziehen wird. Beide, Text und ,Ich‘, exponieren geradezu ihre semiotische Potenz und sind daher vor allem ‚Un-Gestalten‛. Montaignes Wissen beginnt mit dem ,Versuch‘, seine galoppierenden Gedanken zu ordnen und durch ein „mettre en rôle“ festzuschreiben; doch das auf- und abrollbar gegliederte Wissens verliert mit einem gefügten Ziel- und Endpunkt auch seinen festen Ort. Wie Birgit Nübel beobachtet, weicht daher im ,Essayistischen‘ die logisch-chronologische Darstellung einer ,achronen Kontingenz‘:

Die zeitliche Verkettung des Nacheinanders der Geschehnisse, welche die Narration konstituiert, ist beim Essay aufgelöst und überführt in eine Diskontinuität, eine Achronie, eine räumliche Anordnung der Elemente, einem Nebeneinander verschiedenster, auch narrativer, dramatischer und lyrischer Elemente.267

Octavio Paz beschreibt diesen Vorgang in seinem mono gramático durch die Gleichzeitigkeit seiner (Handlungs-)Orte Galta und Cambridge sowie durch die Metapher des Schreibens als Weg ohne festes Ziel, in der wir wieder die Haltung ungerichteten moralistischen Beobachtens erkennen können. Die essayistische ,écriture‘ löst ihre Chronologie in der Metapher des (Irr-)Wegs auf: „Auf diesem Weg brechen wir morgen auf und kommen gestern an: heute.“268 Die Teleologie der Praxis kommt darin zum Stillstand. Ich würde aber im Fall des ,Essayistischen‘ ein wenig genauer von einer ,intendierten Teleologie‘ sprechen, die sich in einem konsekutiven Scheitern verliert und zerstreut wie Paz auf den Pfaden von Galta. Das ,wahre‘ Wissen des Essayisten Paz ist das des erfahrenen Rückkehrers, der sein Denken auf die ,Erfahrung‘ genau dieser Um- und Irrwege stützt.

Im Vorwort zum zweiten Band von Sexualität und Wahrheit (Der Gebrauch der Lüste) offenbart auch Foucault seinen Erkenntnisweg als in einem eben geschilderten Sinn ,essayistischen‘, wenn er schreibt, das Motiv seines Schreibens sei die Hartnäckigkeit einer Neugier gewesen, die nicht nur ein vorgefasstes Wissen zu erkennen suche: „Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise und soweit wie möglich das Irregehen dessen, der erkennt?“269 Foucault fragt sich, wie es möglich werden kann, ,anders‘ zu denken, als man denkt. Der philosophische Diskurs dürfe weder vorsagen, wo die ,Wahrheit‘ zu liegen habe, noch ein Verfahren diktieren:

Der ,Versuch‘ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des anderen zu Zwecken der Kommunikation – ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken.270

Sich selbst erproben und sich in der aufrichtigen Haltung einer ,parrhesia‘ aufs Spiel setzen, um in einem „Geflimmer der Möglichkeiten“ der „eisig-endgültigen Vollkommenheit der Philosophie“271 immer wieder kreisend zu entgehen, darin besteht, um ein Wort Heideggers zu bemühen, das „Fest des Denkens“. María Zambranos Bild der Lichtung ist dem des Weges komplementär: Statt auf das Irregehen auf den Wegen des Denkens und Schreibens oder das schreibende Denken als Praxis legt sie ihr Augenmerk auf deren Voraussetzung: das ,sibi vacare‘. Wie die ,Waldlichtungen‘ leere Orte sind, müsse man die Leere auch in sich schaffen. Zambranos Text nimmt, vergleichbar mit einer Meditationspraxis, ,Haltung‘ ein. Doch das leere Zentrum des Selbst wird nicht mit Aktivität gefüllt; Zambranos asketische Praxis besteht, gleich Montaignes Kritik der Askese, in dem Versuch, auf das Philosophieren zu verzichten oder, besser: es auszusetzen und in der Schwebe zu halten. Statt des Chaos der Gedanken, das mittels des ,mettre en rôle‘ geordnet werden muss, konzentriert sich Zambrano auf den Versuch, das ,Selbst‘ als reinen Rezeptionsraum der Erfahrung offenzuhalten.

Exkurs: Was ist ,écriture‘?

Was ist ,Schrift‘? Derridas ,Schrift‘ oder ,écriture‘ ist kein Begriff. Sie lässt sich weder definieren noch in einem hermeneutischen Prozess erfassen. Denn beides sind Teile eines von Derrida als „Präsenzmetaphysik“ beschriebenen Komplexes, den die ,Schrift‘ infrage stellt. Die ,Schrift‘ ist Metaphysik und Hermeneutik gegenübergestellt. Es lässt sich daher nicht eindeutig bestimmen, was sie ist. Wenn ,Schrift‘ überhaupt etwas ,ist‘, dann vielleicht die Problematik einer Antwort auf die Frage nach ihrer Bedeutung – und damit auch Chiffre für einen akademischen Streit, den Derrida provoziert hat. So hält es z. B. Heinz Kimmerle für unangemessen, über Derrida wie über andere Autoren zu schreiben, und bezeichnet es insbesondere als „ganz inadäquat, im allgemeinen darzulegen, was die écriture (Schrift) Derridas bedeutet. […] Was Derrida Dekonstruktion nennt […] ist immer auch eine Dekonstruktion des Theorietyps, der allgemeine Beschreibungen gibt.“272 So sei die ,Schrift‘ lediglich auf vielfältige Weise interpretierbar, wobei jede Deutung auch eine Verdeckung sei.273 Die französische Essayistin und Derrida-Interpretin Sarah Kofman wirkt in ihrem Urteil sogar noch radikaler: Es sei gänzlich unmöglich, Derridas Denken resümieren zu wollen oder überhaupt eine Auflistung seiner Themen zu erstellen.274 Folge ich Kofman, hätte ich mit meiner naiven Frage nach der ,Schrift‘ ein regelrechtes Sakrileg begangen. Kofman kommt zu dem Schluss: „Die unerhörte Schrift Derridas – die Schrift – verbietet also jede traditionelle Lektüre und Fragestellung: […] Man muß also ein drittes Ohr besitzen oder das philosophische Ohr verrenken und mit schiefem Blick lesen.“275 In der Tat kann es bei der Derrida-Lektüre weniger um analytische Inhaltsbestimmung gehen als vielmehr darum, die Gesten und Bewegungen seines Denkens nachzuvollziehen. Dabei lauert jedoch stets die Gefahr, dass ein Nachvollziehen zu einem bloßen Nachahmen wird. Dennoch ist Kofmans Eifer an dieser Stelle vielleicht überzogen. Die ,Schrift‘ ist weit davon entfernt, irgendetwas zu ,verbieten‘. Derrida gibt uns ein Knäuel von Begrifflichkeiten an die Hand und schult uns, sie nicht ,an sich‘ zu begreifen, sondern innerhalb einer Struktur.

Wenn die Wörter und die Begriffe nur in differenziellen Verkettungen sinnvoll werden, so kann man seine Sprache und seine Ausdrücke nur innerhalb einer Topik und im Rahmen einer historischen Strategie rechtfertigen. Mit anderen Worten, eine solche Rechtfertigung kann niemals absolut und endgültig sein.276

So wird die ,Schrift‘ zu etwas, das seinen Sinn daraus bezieht, dieses Wort in Relation zu setzen zu einem ganzen Geflecht von anderen Worten, wie etwa der ,Spur‘, dem ,Logos‘ oder der ,Präsenz‘. In immer neuen Windungen schlängelt sich dann die ,Schrift‘ durch ihre möglichen Bedeutungsoptionen, Facetten und Konnotationen. Nicht zuletzt diese Definitionsverweigerung macht Derrida zu einem versierten Essayisten, denn er praktiziert damit jenes methodisch-unmethodische Vorgehen, das Adorno für ein Wesensmerkmal des Essays hält. Der Essayist, so Adorno, erschließe seine Begriffe wie einer, der eine fremde Sprache ohne Diktionär lernt – eben aus dem Zusammenhang –, „anstatt schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern“.277 Es verwundert also nicht, wenn Derrida eines seiner wichtigsten Werke, die Grammatologie, selbst als ,Essay‘ bezeichnet.278 Sein unsystematischer „Bezeichnungswirbel“279 macht den Umgang mit ihm nicht einfach, doch wäre es vielleicht unklug, die Ironie in diesem Exzess nicht zu begreifen und seine Lust am Spiel nicht zu berücksichtigen. Insofern ist Kofmans Bild vom Verrenken des philosophischen Ohrs und vom Lesen ,mit schiefem Blick‘ durchaus treffend. Gerade eine „poetische Essayistik“ scheint eine Lektüre des ,schiefen Blicks‘ vorauszusetzen. Insbesondere Zambranos Claros del bosque erfordert und beschreibt gleichermaßen die Perspektive eines philosophischen Zwielichts und einer ,Unentschiedenheit‘. Sie ist zwar vollkommen frei von jeglicher ,spielerischen Ironie‘, nicht aber von einer ,tragischen‘. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist natürlich noch ein anderer Umgang mit solchen Texten als jener des ,schiefen Blicks‘ angezeigt. Und so versuche ich, Eckpunkte zu setzen, rote Fähnchen irgendwo in den Wald der ,Schrift‘ aufzustecken, Rodungsflächen einzuzäunen wohl wissend, dass diese für das menschliche Verständnis eingezäunten Bereiche nicht die Grenzen des Waldes sind, sondern lediglich etwas Landschaftspflege für die Bewirtschaftung darstellen.

Es lässt sich durchaus über die ,Schrift‘ sprechen. Derrida selbst macht deutlich, dass es ihm nicht um die generelle Zurückweisung metaphysischer Begrifflichkeiten geht. Sie seien notwendig, denn ohne sie lasse sich heute nichts mehr denken.280 „Es muß vielmehr die systematische und historische Verbundenheit von Begriffen und Gesten des Denkens evident gemacht werden, die man oft unbedenklich glaubt voneinander trennen zu können.“281 Derrida ist es lediglich darum zu tun, auf das Problematische an Begriffen wie ,Begriff‘ oder ,Verstehen‘ aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck übernimmt er Heideggers Technik der ,kreuzweisen Durchstreichung‘ als „die letztmögliche Schrift einer Epoche. Unter ihren Strichen verschwindet die Präsenz eines transzendentalen Signifikats und bleibt dennoch lesbar.“282

Ausgangspunkt für Derridas Schrifttheorie ist, neben seiner Kritik der Zeichentheorie de Saussures, seine Auseinandersetzung mit Husserls Konstrukt des „einsamen Seelenlebens“ oder der „einsamen Rede“, wie Jörg Lagemann besonders deutlich herausgearbeitet hat: Husserl unterscheidet zwischen zwei Zeichentypen; dem Ausdruckszeichen und dem Anzeichen. Dabei ist nur das Ausdruckszeichen Träger von Bedeutung. In Husserls Argumentation fällt der kommunikative Akt, die reale Mitteilung, unter die Kategorie der reinen Anzeichen. Denn die Bedeutung ist dem Hörenden nicht direkt zugänglich. Husserl braucht nun ein Beispiel für das reine Ausdruckszeichen, in dem die kommunikative Funktion suspendiert ist. Dieses Beispiel findet er in der ,einsamen Rede‘: Man könne sich als zu sich selbst Sprechender vorstellen. Dieses Selbstgespräch entbehre jeder kommunikativen Funktion, da man sich in Wahrheit nichts mitteile, was nicht zur gleichen Zeit bereits erlebt werde. Die in sich selbst verbleibende Stimme wird so an die Kategorie der Bedeutung geknüpft. Es ist eine Bedeutung, die nicht durch Zeichen vermittelt wird, sondern im Inneren des Bewusstseins als unmittelbar anwesend, als Präsenz gedacht wird.283 „In solchermaßen bedeutungshaft erfüllten, imaginierten phonischen Signifikanten des inneren Diskurses realisiert sich also die Selbstpräsenz des Bewußtseins.“284 Auch wenn nun die phänomenologische, innere Stimme nicht in die empirische Welt dringen kann, bleibt doch in jedem sprachlichen Akt, in jedem phonetisch hervorgebrachten Signifikanten diese innere Idealität haften; die Stimme wird zum reinen Signifikat, dem Träger der idealen Bedeutung. Derrida schreibt in der Grammatologie: „Die Erfahrung, daß der Signifikant in der Stimme erlischt, ist nicht irgendeine beliebige Illusion – denn sie bedingt gerade die Idee der Wahrheit.“285 Diesen Komplex bezeichnet Derrida als „Logozentrismus“, der durch die Koppelung an die Stimme immer auch ein „Phonozentrismus“ sei: als „Phono-Logozentrismus“, d. h. „absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns“.286

 

Derrida kritisiert, dass unter den Vorzeichen des ,Phonozentrismus‘ die Schrift als etwas Sekundäres abgedrängt werde, da ihr selbst nur die Rolle zukomme, das ursprünglich bedeutungs- und wahrheitsvolle gesprochene Wort festzuhalten und dabei unweigerlich zu verzerren und zu verfälschen. Die Schrift war in dieser seit Platon geltenden Vorstellung nur „Übersetzung eines erfüllten und in seiner ganzen Fülle präsenten Wortes (sich selbst, seinem Signifikat und dem anderen präsent, geradezu Bedingung der Thematik der Präsenz im allgemeinen), Technik im Dienst der Sprache, Fürsprache und Interpretation eines ursprünglichen, selbst der Interpretation entzogenen gesprochenen Wortes“.287 Damit eröffnet die logozentrische Vorstellung eine bestimmte Art von Metaphysik, die in der Folge zu einem der Grundpfeiler der abendländischen Philosophie wird. Diese habe ihr System anhand der Bestimmung gegensätzlicher Begriffspaare entwickelt, wobei immer ein Glied des Paares zugunsten des anderen abgewertet worden sei, wie eben am Beispiel der Dichotomie von Sprache aus Wort und Schrift zu erkennen. Die ganze abendländische Philosophie fußt in dieser Argumentation auf einer gewaltsam hergestellten Hierarchie.288 Derrida spricht von der „Herrschaft einer sprachlichen Form“.289 In ihr manifestierten sich immer die „Unterdrückung widerständiger Elemente“290 und die Verdrängung des Latenten und Marginalen. Damit hat Derridas Kritik der Metaphysik unter anderem auch eine politische Bedeutungskomponente. Denn es wird klar, dass sie ein Macht- und Herrschaftssystem begründet oder zumindest die Bausteine liefert für die Begründung von Machtsystemen, die es zu erschüttern gilt. Die Erschütterung eines Machtsystems aber ruft immer Empörung und Zurückweisung hervor, wie sich beobachten lässt, wenn die Schrift es wagt, an die Stelle des Wortes zu treten, wenn der Buchstabe die Phonie aus sich abzuleiten sucht. Derrida geht hier besonders ausführlich auf die Auslassungen de Saussures ein, der in diesem Kontext von ,Perversion‘ und ,Usurpation‘ durch die Schrift und von der ,Tyrannei der Buchstaben‘ spricht.291 Als ,Usurpation‘ wird schließlich der Einbruch des vermeintlich Künstlichen in die natürliche Ordnung empfunden und als deren Umdrehung und Verstellung. Sie besteht in einem ,Vergessen‘ des einfachen Ursprungs, denn, wie de Saussure im Cours de linguistique sagt, man vergesse, dass man das Sprechen vor dem Schreiben lerne.292 Dass sich das ,Essayistische‘ an dieser Revolte und Usurpation der ,écriture‘ beteiligt, zeigt sich allein schon in diesem Aspekt, im Bewusstwerden der ,zweiten Natur‘ des Menschen als erste, wie Adorno sagt, und in der Infragestellung des einfachen, identitären Bewusstseins. Insofern ließe sich sagen, das ,Essayistische‘ sei, zumindest bis zu einem gewissen Grad, ,schriftgetrieben‘.

Im Einbruch des Verdrängten, des als unnatürlich oder gar widernatürlich Geschmähten lässt sich auch eine psychoanalytische Komponente der Metaphysikkritik festmachen. Nicht mehr das im Bewusstsein ,Präsente‘ ist Ausgangspunkt aller Bestimmungen und allen Bedeutens: Der Ursprung ist jetzt ein in sich doppelter, der schon immer in der Aufspaltung in sein jeweils ,Anderes‘ bestand, in seiner Doppelung und seiner Differenz von sich selbst. Die ,Präsenz‘ war damit schon immer der Verweis auf eine ,Nichtpräsenz‘, die Sprache war schon immer die Möglichkeit ihrer Abweichung in Schrift. Zu Saussures Vorwurf der Usurpation und Aggression durch die Schrift schreibt Derrida seine Grammatologie als deren Apologie: „Es kann eine ursprüngliche Gewalt der Schrift nur geben, weil die Sprache anfänglich Schrift in einem Sinne ist, der sich fortschreitend enthüllen wird: Die ,Usurpation‘ hat immer schon begonnen“:293 Das in sich identische, transzendentale Signifikat hat, genauso wie jenes stabile ,Ich‘, nie existiert. Es war schon immer in seine Vielheiten zerlegt. Dies trifft die Metaphysik in ihrem Kern, die versucht, alles aus dem einheitlichen Ursprung herzuleiten,294 und damit die Illusion erzeugt, dass ein Zustand von ,Eindeutigkeit‘ erreicht werden könne.295 ,Eindeutigkeit‘ liefe letztendlich ohnehin auf eine bloße Wiederholung des Gleichen heraus. Der Sinn des Seins, als Identität aufgefasst, bedeutet nur sich selbst; er bedeutet das Bedeuten des Sinns, ein „Sich-Selbst-Bedeuten der Präsenz“296 etc. – er ist Tautologie.

Der Weg, den Derrida nun beschreitet, um die unter den Begriffen ,Eindeutigkeit‘, ,Identität‘ und ,Präsenz‘ versammelte Metaphysik zu dekonstruieren, fraglich zu machen, führt ihn über die Kritik des strukturalistischen Zeichens. Es wird zum Dreh- und Angelpunkt seiner dekonstruktiven Arbeit an der Metaphysik. Der Zeichenbegriff mit seiner markanten Scheidung von Bezeichnetem und Bezeichnendem dient Derrida als „theoretische Abbreviatur“,297 das heißt, er steht metonymisch für das ganze metaphysische System. Dazu führt er in der Grammatologie aus:

Die Epoche des Logos erniedrigt also die Schrift, die als Vermittlung und als Herausfallen aus der Innerlichkeit des Sinns gedacht wird. […] Die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant gehört zutiefst in die Totalität jener großen, von der Geschichte der Metaphysik eingenommenen Epoche.298

Es zeichnet sich nun eine Interpretation der ,Schrift‘ ab: Als abgewerteter, erniedrigter Teil eines metaphysischen Begriffspaares steht sie dem gesprochenen Wort strukturell gegenüber und dient zugleich als eine Art Instrumentarium gegen den ganzen Komplex des ,Phono-Logozentrismus‘ und der ,Präsenzmetaphysik‘. Aber was genau ,ist‘ ,Schrift‘ in diesem Zusammenhang?

Derrida verbindet mit ,Schrift‘ die Einkerbung oder Gravur.299 In ihrer plastischen Materialität bildet sie einen Gegenpol zum Ideal des transzendentalen Signifikats in der Stimme. Wir haben weiter oben schon gesehen, wie sich dieses Signifikat als ein ,Bei-sich-Sein‘, als ,Präsenz‘ ausdrückt. Die ,Schrift‘ steht dieser gedachten ,Präsenz‘ nun deshalb gegenüber, weil sie sich aus Signifikanten zusammensetzt, das heißt aus Elementen, die eine ,Abwesenheit‘ in sich tragen, da sie stets nur auf etwas anderes als sie selbst verweisen. Das geschriebene Wort ist dabei sogar nur ein Signifikant zweiten Grades, da es auf einen primären Signifikanten, das gesprochene Wort, verweist, das wiederum Zeichen eines vorausdrücklichen Sinns, eines transzendentalen Signifikats, ist. Der besondere Schritt, den Derrida nun vollziehen möchte, besteht im Nachweis, dass die ,Schrift‘ als ein solcher „exemplarischer Signifikant“300 kein nachgeordnetes Element, kein dem ,eigentlichen Wesen‘ der Sprache Abgefallenes und Äußeres darstellt, sondern Sprache und Sprachlichkeit selbst ausdrückt. Dabei richtet sich die Bewegung in Derridas Denken nicht mehr an einem Zentrum aus. Die marginalisierte Schrift wird nicht in Amt und Würden gesetzt und als neuer Mittelpunkt inthronisiert. Ganz im Gegenteil, das Zentrum selbst, affiziert von der ,Schrift‘, flieht aus seinem Mittelpunkt, wird auseinandergetrieben: „Die Schrift ist nicht Zeichen der Zeichen, es sei denn, was schon in einem tieferen Sinne wahr wäre, man behauptet dies von jedem Zeichen.“301 Derrida geht den Weg über die Dekonstruktion des klassischen Zeichenbegriffs, um diese Zentrifugalkräfte der ,Schrift‘ ins Werk zu setzen:

Das sogenannte ,Ding selbst‘ ist immer schon ein repräsentamen, das der Einfältigkeit der intuitiven Evidenz entzogen ist. Das repräsentamen kann nur funktionieren, indem es einen Interpretanten hervorbringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird und so ad infinitum. Die Identität des Signifikats mit sich selbst verbirgt und verschiebt sich unaufhörlich. Das Eigentliche des repräsentamen besteht darin, es selbst und ein Anderes zu sein, als eine Verweisstruktur zu entstehen und sich von sich selbst zu trennen. […] Das Repräsentierte ist immer schon ein repräsentamen.302

Das heißt, das Zeichen besteht nicht, wie in der ererbten Vorstellung, aus Signifikant und Signifikat. Denn jedes Signifikat entpuppt sich als verkappter Signifikant; das Zeichen besteht nur noch aus Signifikanten, die in einer unendlichen Verkettung aufeinander verweisen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass das sprachliche Zeichen, dass Sprache überhaupt Signifikant – ,Schrift‘ ist.303 Dabei handelt es sich um ein Modell, das die Bewegung des stetigen Verweisens auf ein Nicht-Eigentliches hervorhebt und zuspitzt. In einem solchen Modell ist es nicht mehr möglich, etwas auf einen nicht in der Sprache selbst liegenden Ursprung zurückzuführen; „man ahnt bereits, daß ein Ursprung, dessen Struktur als Signifikant des Signifikanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbringung selbst hinwegrafft und auslöscht“.304

Man gewinnt nun den Eindruck, dass Derrida in den Momenten, in denen er von diesem ,Nicht- Ursprung‘ spricht, einen weiteren Aspekt von ,Schrift‘ in die Diskussion führt: den der ,Spur‘. Die ,Spur‘ ist eine Möglichkeit, auf die Frage nach der ,Schrift‘ zu antworten. Derrida schreibt, sie impliziert „als die allen Bezeichnungssystemen gemeinsame Möglichkeit – die Instanz der vereinbarten Spur (trace instituée)“.305 Was aber ist nun die ,Spur‘? Derrida antwortet wie immer ausweichend: „Die Spur ist nichts, ist nicht ein Seiendes; sie übersteigt die Frage Was ist – und macht sie vielleicht erst möglich. […] Aber wir wollen uns nicht bis zur gefahrvollen Notwendigkeit der Frage nach der Urfrage ,Was ist das‘ vorwagen.“306 Ich denke jedoch, wenn die Urfrage eine ,Notwendigkeit ist‘, wie Derrida zugibt, sollten wir das Gefahrvolle nicht scheuen. Die ,Spur‘ ist Derridas eigener Auskunft nach nicht weiter ableitbar und dient ihm zur Dekonstruktion der ,Präsenz‘.307 Sie ist gerade das nicht Gegenwärtige, die reine Differenz.308 Denn die ,Spur‘ verweist nur auf eine Abwesenheit, die aber nicht mehr metaphysisch einen vorangegangenen Verursacher der ,Spur‘ voraussetzt. Für Derrida ,ist‘ der Ursprung eben nicht einfach ,Spur‘, vielmehr tritt an die Stelle eines Ursprungs ein dynamisches Ursprungsgeschehen, ein Nebeneinander aus ,Spur‘ und gesprochenem Wort, das sich wechselseitig bedingt, aufeinander verweist und ,supplementiert‘.309 In Positionen gibt Derrida ungewöhnlich genau darüber Auskunft, was mit dem Begriff der ,Spur‘ gemeint ist: Jedes Element, gleich ob Phonem oder Graphem, besteht aus den Spuren anderer Elemtente, auf die es verweist. So gebe es nichts mehr einfach Ab- oder Anwesendes, sondern nur „Differenzen und Spuren von Spuren“.310

Entscheidend erscheint mir an der ,Schrift‘, dass Derrida ihr eine doppelte Funktion zuschreibt: Einerseits bezieht er sich nur beschreibend auf die Eigenschaften von Schrift allgemein. Sie ist materiell, räumlich; sie ist etwas der Stimme Entgegengesetztes und als exemplarischer Signifikant Träger von Abwesenheit und Abweichung. Weil Derrida diese Eigenschaften aber nun an den Grund der Sprache setzt, wird die ,Schrift‘ außerdem zur Chiffre für ein signifikantenbasiertes Modell, für ein Denken der Differenz, der Verschiebung; ein Denken, das nichts auf eindeutige Ursprünge zurückführen kann, sondern mehrdimensional und dynamisch, nicht konzeptuell, sondern kontextuell ist. Es unterläuft jede Vorstellung von Identität und Totalität. In dieser Funktion wird das Denken der ,Schrift‘ zu einem wichtigen Aspekt für ein Verständnis des ,Essayistischen‘.

 

Gerade über das Wort der ,Spur‘ sind Aspekte zu erschließen, die im Zusammenhang mit dem ,Essayistischen‘ interessant sind: Die ,Spur‘ ist keine Sache, die außerhalb der Sprache liegen könnte, sie ist im Zeichen selbst und ist als Abwesenheit in jedem Element der Sprache am Werk. Diesen Aspekt nennt Derrida „Ur-Spur“ oder auch „Ur-Schrift“ („archi-écriture“). Damit sind keine weiteren Elemente gemeint, die der ,Schrift‘ oder der ,Spur‘ vorausgingen, „sie bestehen auch nicht neben diesen, sondern als Effekt in ihnen“.311 Dieses Detail scheint mir von Bedeutung, da es eine generelle Methodik in Derridas Denken veranschaulicht: Er entkernt die Begriffe nicht nur, indem er ihnen die Definitionen nimmt. Gleichzeitig nimmt er ihnen auch den festen Ort. Sarah Kofman beobachtet diese Atopie der ,Schrift‘ parallel zum Begriff des Unbewussten: Die Originalität der Psychoanalyse, gibt Kofman zu bedenken, beruhe nicht auf der Erfindung des ,Unbewussten‘, sondern darauf, es überall eingeführt zu haben, „ohne es dabei irgendwo als etwas Eigenes, Selbständiges in Erscheinung treten zu lassen. Ein solcher Begriff durchbricht […] jede Grenze und jede Randvorgabe, er erschüttert also die Metaphysik tief.“312 Dies legt die Verfahrensweise offen, in der Derrida generell mit Begriffen umgeht: Er verändert sie von einem ,Sein‘ hin zu einem ,Wirken‘ oder einem Effekt. Ebenso geschieht es mit der ,Schrift‘, die, so könnte man vielleicht sagen, als unheimlicher Effekt der Abwesenheit in der Sprache wirkt. Die ,Ur-Spur‘ ist eine Chiffre für die Ortlosigkeit der ,Schrift‘; durch sie ist die ,Schrift‘ gleichzeitig überall und nirgends, und durch die ,Spur‘ erst bekommt die ,Schrift‘ als performativer Begriff jene Metaphysik erschütternde Sprengkraft, von der Kofman spricht.

Wenn das ,Essayistische‘ von der sprachlichen Verfasstheit des Menschen ausgeht, so besteht María Zambranos und Octavio Paz’ Projekt einer ,poetischen Essayistik‘ darin, einen Schritt weiter zu gehen und zum Wesen und zu den Grenzen von Sprache vorzudringen. Wo beginnt die Sprache, wo endet sie? Dabei stoßen sie auf die ,Ur-Spur‘: ubiquitäre Abwesenheit als das Unbewusste der Sprache. Unter diesen Vorzeichen ist Zambranos ,Ortlosigkeit‘ des Exils zu verstehen, ebenso wie Paz’ Beschreibung der Tempelarchitektur von Galta als „Fata Morgana‘. Die Sprache ,ist‘ nicht, bedeutet nicht, sondern sie ,wirkt‘. Sowohl bei Zambrano also auch bei Paz ist dabei die ,Lichtung‘ der Ort einer ,Nicht-Materialisierung‘ des sprachlichen Menschen, um mit Barthes zu sprechen, die ,andere Seite‘ der Sprache, „die mobil, leer ist (fähig, beliebige Konturen anzunehmen), immer nur der Ort ihrer Wirkung“.313 Sich als konkreten Menschen in seiner sprachlichen Verfasstheit zu ergründen heißt, sich als Effekt der Sprache zu setzen, den Menschen im Schattenwurf der Laterne zu suchen. Doch auch für ein Verständnis des ,Essayistischen‘ als Begriff selbst ist eine Reflexion über Derridas Gedankengänge wertvoll: Die ,Schrift‘ existiert nur als Praxis, denn die ,Schrift‘ ,ist‘ nicht, sondern sie schreibt sich, und indem sie sich schreibt, setzt sie verschiedene Effekte in Gang: Sie stößt auf gewisse Positionen und Begriffe, die sich im Charakter einer ,Usurpation‘ an den Begriffen abendländischer Metaphysik abarbeiten. In ähnlicher Weise operiert auch das ,Essayistische‘: Heimatlos, keinem festen Genre zugeordnet, bezieht es seine Bedeutung aus einem Schillern von Konstellationen, die von einer Praxis erspürt werden. Anders ausgedrückt: Der ganze Komplex der ,Schrift‘ ist eine mögliche Konstellation des ,Essayistischen‘. Denn was die essayistische Praxis in Gang setzt, ist eine ganze Reihe verschiedenartiger und vielfältiger Erfahrungen der Abwesenheit von Signifikanz in der Moderne.

You have finished the free preview. Would you like to read more?