Assassin's Breed

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18.

„Das ist nicht euer Ernst?“ Er konnte es nicht fassen, als er wieder in die Werkstatt kam. Eigentlich war er guter Dinge gewesen, war zufrieden, als ihn die Nachricht seiner Kunden schon am Folgetag erreicht hatte. Sie hatten den Einbruch im Zuhause des Jungen bereits in derselben Nacht erledigt, ihn am frühen Morgen angerufen und ihn in die Werkstatt bestellt. Er war nicht darauf eingerichtet, hatte sich aber gleich auf den Weg gemacht. Denn er wusste, wie wichtig es war den Auftraggeber des Jungen zu finden und zur Strecke zu bringen. Er hatte das am Vortag nicht einfach so erzählt, er hatte aus tiefster Überzeugung gesprochen. Und es war gut gewesen, sich gleich auf den Weg zu machen. Wenn auch aus einem anderen Grund, denn es gab nun ein Problem, das er sich nicht hatte ausmalen können.

„Was sollten wir machen?“, fragte der Anführer der Gruppe. „Sie hat uns überrascht. Wir waren nicht maskiert, weil wir dachten, es wäre niemand in der Wohnung. Wir haben die Wohnung den ganzen Tag beobachtet, keiner ging rein, keiner ging raus und den ganzen Abend hatte kein Licht gebrannt. Aber kaum waren wir drin, da stand sie in der Tür.“

„Und dann nehmt ihr sie einfach mit?“, fragte der Consultant.

„Was sollten wir sonst tun? Wenn wir sie umgebracht hätten, wären die Bullen gleich aufgeschreckt worden, sobald sie ihre Leiche gefunden hätten. So haben wir zumindest das Timing in der Hand.“ Dass aus dem unvermeidbaren Mord nun ein Doppelmord werden müsste, war auch dem Consultant klar.

„Und was ist mit dem Computer des Jungen? Habt ihr den wenigstens?“

„Leider nein. Den haben wir nicht gefunden. Den konnten wir gar nicht mehr finden, weil er nicht mehr in der Wohnung war. Seine Mutter hat uns mittlerweile erzählt, dass die Polizei alle Geräte mitgenommen hatte, nachdem sie ihren Sohn vermisst gemeldet hatte.“

Dass dies die Wahrheit war, bezweifelte der Consultant keine Sekunde. Er brauchte sich die Frau nur anzusehen, wie sie dasaß. Zusammengesunken und festgebunden auf einem Stuhl, der Vis-a-vis gegenüber dem Stuhl stand, auf dem ihr Sohn fixiert war. Sie hatten ihm die Elektroden abgenommen und sie stattdessen an den Brustwarzen der Frau befestigt. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht ihre Bluse aufzuknöpfen, sondern sie ihr einfach, ebenso wie den BH heruntergerissen, sodass beide Kleidungsstücke nun knapp über ihrem Schoß hingen.

„Wisst ihr, auf welchem Revier sie die Anzeige erstattet hatte?“, fragte der Consultant.

„Ja. Auf dem Revier nicht weit von ihrer Wohnung. In der Stolkgasse. Warum?“

„Wir brauchen den Scheiß Computer trotzdem“, erklärte ihm der Consultant. „Ich habe keine Idee, wie wir den Auftraggeber sonst finden können.“

„Du willst bei der Polizei einbrechen?“, fragte sein Kumpan und schaffte es dabei zu grinsen. „Das kannst Du vergessen. Die Bullen, die das Zeug abgeholt haben, waren vom BKA. Das finden wir nie.“

Das war ihm nun auch klar. Die Geräte könnten in jedem Labor oder jeder Asservatenkammer des BKA sein. Selbst wenn sie den Ort finden würden, kämen sie dort nicht hinein. Diese Option war nicht mehr gegeben. Die einzige Spur, die sie noch hatten, waren die Ermittlungen der Polizei. Er musste mit Dimitri sprechen, ob er sich damit zufriedengeben würde, auf die Polizei zu vertrauen und den Fall, sprich den Auftraggeber nach seiner Festnahme zu erledigen. Das sollte in jedem Gefängnis klappen und würde sicher drastisch genug sein. Wenn da der Faktor Zeit nicht wäre. Denn er und Dimitri wussten, dass der Fall schnell erledigt werden musste. Und konnten sie sich da auf die Beamten verlassen? Aber sei´s drum. Er musste zu Dimitri, auch mit diesen schlechten Nachrichten.

„Was sollen wir mit den beiden machen?“ Die Frage seines Kumpans riss ihn aus seinen Gedanken.

„Na, was wohl. Wenn wir den Rechner nicht bekommen können, hat der Junge seinen Wert für uns verloren. Das Password oder sonstige Hilfe brauchen wir nicht mehr. Beide haben uns gesehen. Nehmt Plastiktüten und seht zu, dass sie eine ganze Weile nicht gefunden werden. Aber macht es so, dass es überraschend für sie kommt. Und so, dass sie sich nicht dabei ansehen können. Wir sind ja keine Unmenschen.“ Und deshalb hatte er auch darauf geachtet, dass die beiden Opfer ihre Unterhaltung und insbesondere seine letzten Anweisungen nicht hören konnten.

19.

„Frau Garber. Lydia. Schön Dich wiederzusehen.“ Hauptkommissar Faber begrüßte ihren Gast beinahe überschwänglich. Er erhob sich, als sie den Raum betrat, ging auf sie zu und gab ihr die Hand. Dann lotste er die Kölner Ermittlerin zu einem freien Platz, zog den Stuhl ein wenig zurück und bot ihr mit einer ausladenden Geste der rechten Hand den Platz an.

„Guten Morgen, liebe Kollegen“, eröffnete Hauptkommissar Faber die Sitzung. „Wir begrüßen heute hier unsere Kollegin, Frau Lydia Garber, bis vor kurzem noch Mitarbeiterin beim LKA, jetzt bei der Kripo in Köln und zuständig für den Fall Johann. Viele von uns kennen sie ja noch von gemeinsamen Ermittlungen aus der jüngeren Vergangenheit, deshalb und aus Zeitgründen, möchte ich auf eine förmliche Vorstellungsrunde verzichten und Frau Garber direkt bitten, uns über den Stand der Kölner Ermittlungen zu informieren.“

Die Hauptkommissarin bedankte sich, begrüßte ihrerseits die Runde und gab einen kurzen Bericht über den Stand ihrer Erkenntnisse.

Nachdem Hauptkommissar Strecker und sie sich am Vortag getrennt hatten, war sie sowohl nochmals am Tatort, als auch im Krankenhaus bei Herrn Johann gewesen. Wie sie befürchtet hatte, konnte Werner Johann ihr nicht viele hilfreiche Informationen geben. Lediglich seine Aussagen, dass seine Frau niemals ohne Handy aus dem Haus gehen würde und dass sie üblicherweise zuverlässig und regelmäßig auf Nachrichten reagierte, halfen, ihre Vermutung, dass die Frau die Wohnung nicht freiwillig verlassen hatte, zu bekräftigten. Zudem bestätigte er nochmals, dass das von den Ermittlern aus der Wohnung mitgenommene Foto seine Frau zeigte und ziemlich aktuell war. Die Fahndung nach Frau Johann war mittlerweile offiziell eingeleitet. Hinweise dazu waren bis dato nicht eingegangen. Auch die Befragung der Nachbarschaft hatte keine nennenswerten Ermittlungsansätze ergeben. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen.

„Also“, kam Frau Garber zum Fazit ihres Berichtes, „keine Spur. Nicht von Ilse Johann und auch nicht von ihrem Sohn Marc.“

„Irgendetwas von den anderen Fällen?“, fragte Hauptkommissar Faber in die Runde. Keine Wortmeldungen. Sie traten auf der Stelle. „Wie sieht es mit den Anfragen an die Spieleanbieter aus?“

„Bisher nichts“, antwortete Kommissar Marten. „Keine Reaktion, nicht einmal negative Antworten.“

„Unser erster Fall. Die Bewährungsprobe für unser Dezernat und wir kommen keinen Schritt voran“, dachte Faber. „Zwei Menschen sind verschwunden und wir haben keinerlei Spur, noch nicht einmal eine Idee, wie wir sie finden könnten“, sinnierte er weiter.

Fast hätte er die Frage von Hauptkommissar Strecker überhört.

„Was hat der Junge denn vor seinem Verschwinden in Köln angestellt?“, wollte der neue Kollege wissen.

„Das wissen wir bis heute nicht genau. Es hat keinen Alarm oder eine Anzeige gegeben, die wir mit dem Treffen der Bande in Zusammenhang bringen konnten.“ Es war Franz Sehlmann, der Fallanalyst, der die Frage beantwortet hatte.

„Ist denn diese Versammlung der Bande am Ebertplatz von irgendwelchen Zeugen bestätigt worden?“, hakte Strecker nach.

„Ja.“ Wieder war es Kommissar Sehlmann, der das Antworten übernahm. „Zwei Streifenbeamte, die eigentlich gegen den am Ebertplatz grassierenden Rauschgifthandel vorgehen sollten, ist eine Gruppe von mit grauen Kapuzenpullis bekleideter Jugendlicher aufgefallen. Anlass zum Einschreiten oder die Gruppe genauer zu betrachten, gab es seinerzeit nicht, weshalb die Beamten auch keine detaillierten Beobachtungen machten. Die Gruppe schätzten sie auf sechs bis acht Personen.“

„Ist die Gruppe weiteren Passanten aufgefallen?“, fragte Hauptkommissar Strecker.

„Nein“, antwortete wiederum der Fallanalyst. „Auch die Auswertung der Kameras aus den U-Bahnen und Bussen, die zum fraglichen Zeitpunkt in der Nähe des Ebertplatzes eingesetzt wurden, hat nichts gebracht. Die Gruppe hat kein öffentliches Verkehrsmittel benutzt. Wenn der Anlass für das Treffen nicht in der Nähe lag, müssen sie zu Fuß zu ihrem Ziel gegangen sein.“

„Das klingt nach einem Anlass für einen ausgedehnten Stadtspaziergang“, dachte sich Strecker und verzichtete auf weitere Nachfragen zu dem Vorgang. Ein weiterer Aspekt beschäftigte ihn allerdings noch.

„Ich würde gerne noch besser verstehen, was es mit dieser Gemeinschaft auf sich hat, dieser ‚Assassin’s Breed‘. Ich denke, dass dies ein legitimes Interesse ist und auch für Frau Garber interessant sein dürfte“, hob er verteidigend an, als er die Reaktionen seiner Kollegen registrierte.

„Nein, absolut“, beschwichtigte Hauptkommissar Faber. „Die Kollegen schauen nur so ent- oder besser begeistert, weil Sie mit einem kleinen Versprecher den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Das Computerspiel, das wir als Muster für das Vorgehen der Bande betrachtet haben, heißt eigentlich ‚Assassin’s Creed‘. Aber Sie haben natürlich recht, in Anbetracht des Tätigkeitsfeldes der sogenannten Gemeinschaft ist ‚breed‘ sicher die treffendere Bezeichnung. Auch was Ihr Anliegen angeht, liegen Sie richtig. Da die Mehrheit der Anwesenden mit der Thematik aber schon hinreichend vertraut ist, schlage ich vor, dass Kollege Marten Sie und Frau Garber im Anschluss an dieses Treffen separat umfassend informiert. Okay?“

 

Da es keine weiteren Wortmeldungen gab, erhoben sich die Anwesenden bis auf die Hauptkommissare Garber und Strecker, sowie Kommissar Marten.

20.

„Leo, schön dass Du mal wieder für uns arbeitest. Und ich meine das ehrlich, auch wenn es mich immer eine Stange Geld kostet, wenn ich Dich brauche.“

„Dimitri. Du weißt doch, dass ich für Komplimente nichts übrig habe. Und billiger wird es dadurch auch nicht.“

Normalerweise war es fast unmöglich, überhaupt einen Termin bei Dimitri zu bekommen. Kurzfristige Termine waren eigentlich ganz unmöglich. Aber wenn Leo einen Termin beim Botschafter brauchte, wusste Dimitri dass es wichtig war. Auch für ihn.

Leo war der Consultant. Ein Titel, den er sich dadurch verdient hatte, dass er für jedes Problem eine Lösung fand. Nicht, weil er ein Könner in einer oder mehreren Disziplinen war. Das traf auf Leo nicht zu. Er war der Mann für alle Fälle. Er war auch Dimitris Mann für alle Fälle. Und im Moment hatte er wieder einen solchen Fall.

Dimitri war der Botschafter. Der Botschafter der russischen Mafia für die Bundesrepublik Deutschland.

„Dieser Überfall ist ein schwerwiegendes Problem für mich“, räumte Dimitri ein. „Nicht, dass viel kaputtgegangen wäre. Und selbst wenn. Das lässt sich reparieren, das braucht nur ein wenig Zeit und eine angemessene Menge Geld. Aber der Reputationsschaden, den dieser Vorfall verursacht hat, der lässt sich nicht so einfach mit Geld reparieren. Das schadet unserem Ansehen, das gefährdet unser Geschäft, das ermutigt unsere Konkurrenten. Und wenn unser Geschäft gefährdet ist, bin auch ich gefährdet. Ich habe meine Vorgaben. Auch ich bin nur ein ausführendes Organ. Und wie für jedes Organ gilt auch für mich: Fehler werden nicht toleriert. Und für den Botschafter gilt, dass er, wenn er die Ziele nicht erreicht, abberufen wird. Und Leo, Du weißt was das bedeutet, wenn der Botschafter abberufen wird. Der Ruf bedeutet das Aus. Und häufig nicht nur im geschäftlichen Sinn.“

„Und was erwartest Du von mir?“, fragte Leo.

„Leo. Ich möchte wissen, wer das war. Wer das gemacht hat und wer das beauftragt hat. Und ich möchte das bald wissen, sehr bald.“

„Das wird nicht billig“, startete der Consultant.

„Leo“, unterbrach ihn der Botschafter. „Ich kenne Deinen Preis. Und ich gehe davon aus, dass Du meine Situation nicht als Notlage betrachtest, die Du ausnutzen kannst.“

„Nein. So meine ich das nicht“, antwortete der Consultant. „Wir werden investieren müssen. In Technologie, externen Sachverstand und Informanten. Wir müssen in Regionen forschen, in denen wir nur begrenzte Erfahrungen und Freunde haben.“

„Etwas hat uns der Junge, den wir geschnappt haben, ja schon verraten“, setzte Leo fort, nachdem ihn der Botschafter nur fragend angesehen hatte. „Er hat den Auftrag über das Internet bekommen. Das Darknet, um genau zu sein. Er wurde dort online rekrutiert, hatte nur online Kontakt mit seinem Auftraggeber und hat auch seinen Auftrag auf diesem Weg bekommen. Und daher werden wir im Internet nach den Antworten auf Deine Fragen suchen müssen. Deine Hausaufgaben hast Du schon gemacht?“, wandte sich der Consultant an den Botschafter.

„Natürlich. Die Videos aus dem Club haben wir ausgewertet, allerdings keine brauchbaren Hinweise erhalten. Hereingekommen sind sie durch die Tür. Ob der Doorkeeper mit ihnen gemeinsame Sache gemacht hatte oder nur unaufmerksam war, haben wir bereits recherchiert. Er wurde verhört. Ich denke, er hat sich nur überrumpeln lassen. Daher bekam er einen schnellen Tod. Auch den Sicherheitschef haben wir entsorgt. Er hatte einen Mann an die Tür gestellt, von dem wir kein Pfand in der Heimat hatten. Keine Eltern, Geschwister, Kinder, Frau, Freundin, nichts. Ein nicht entschuldbarer Fehler. Alle anderen, die dort beschäftigt waren, sind in die Heimat versetzt worden, die Mädchen haben wir weiter verkauft, nach Südeuropa. Aber wir kennen von allen den Aufenthaltsort, falls Du noch mit einer von ihnen sprechen willst. Aber setze nicht zu viele Hoffnungen da hinein. Wir waren schon gründlich. Aber Du hast gesagt, er hat sie online rekrutiert und geführt. Wie geht das denn?“

„Es hat mich auch überrascht. Das war auch für mich neu. Zumindest in diesem Zusammenhang. Online-Rekrutierung? Okay! Aber für die Verpflichtung und Steuerung von Gesetzesbrechern? Das scheint mir wirklich neu. Und wir müssen herausbekommen, wie er das macht, wie das funktioniert. Vielleicht lernen wir ja auch noch was für unser Geschäft. Mafia 2.0. Aber erst müssen wir investieren. Wie ich Dir schon gesagt hatte.“

„Ich gebe Boris Bescheid. Sag ihm, was Du brauchst. Er wird sich darum kümmern.“

21.

Das war nun also sein neues Leben. Stundenlang durch die feuchte Kälte latschen. Kaum jemand sonst schien sich dies anzutun, jedenfalls war die Gegend beinahe menschenleer. Was konnte man auch erwarten, es war ein lausiger Novembermorgen in Köln, in einer Gegend, in der man um diese Tageszeit nicht viel zu erwarten hatte. Für Party zu spät, zum Shoppen zu früh. Eigentlich war es schön, zumindest war es anders, als er es sonst kannte. Natürlich war er schon hier gewesen, hundertmal, tausendmal, wer zählt das schon. Zu Zeiten, in denen die Straßen gut frequentiert waren, manchmal so gut, dass es fast kein Durchkommen gab. Doch irritierender als die Leere war die Stille. Nichts, außer von leise und aus der Ferne kommendem Gemurmel, Gebrumme und Geklapper, verursacht durch die Straßenreiniger und ihre Maschinerie, war zu hören. Er schlug den Kragen hoch und die Mütze tiefer in das Gesicht, konnte aber die Kälte nicht aussperren. Mehr als eine Stunde schlich er nun schon um die Häuser. Doch er kämpfte nicht nur gegen die Kälte und die Müdigkeit, da war mehr, da war noch Angst. Der Meister hatte ihn instruiert, dass sie kommen würde, ihn beruhigt, dass sie unnötig wäre und ihm gesagt, wie er sie bekämpfen sollte. Leicht gesagt, leichtgläubig gehört. Schwer getan. Die Angst erwischt zu werden, war nicht das dominierende Kriterium. Nein, die Angst zu versagen, ließ ihn zittern, ließ ihn zaudern. Er hatte nur diese eine Chance, sein Leben zu ändern, ihm einen Sinn zu geben, Teil von etwas Großem zu werden. Diese Gedanken gaben ihm den entscheidenden Impuls.

Er beschleunigte seine Schritte. Noch zwanzig Meter. Seine Hand umklammerte den Gegenstand, den er schon die ganze Zeit in seiner Jackentasche verborgen hatte. Noch fünfzehn Meter. Sein Atem ging schneller, seine Sinne fokussierten sich nur auf das Eine, auf das Ziel. Seine Umwelt nahm er nur noch am Rande wahr, als wenn sie in einer Schneekugel gekapselt wäre. Noch zehn Meter. Seine Hand packte den Gegenstand in seiner Tasche noch kräftiger, sodass seine Finger förmlich schmerzten. Er beschleunigte nochmals, brachte sich auf Angriffsgeschwindigkeit. Noch fünf Meter. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er zog seine rechte Hand aus der Tasche. Dazu musste er den Griff um den Gegenstand etwas lockern. „Verliere ihn bloß nicht“, ermahnte er sich selber. Alles gut. Er hob den Arm. Den Gegenstand nun wieder fest in der Hand umklammert, fixierte das Ziel, bewegte den Arm mit maximaler Geschwindigkeit Richtung Ziel und ließ den Gegenstand zum exakt richtigen Zeitpunkt los. So wie er es trainiert hatte, immer wieder. Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einem infernalischen Scheppern rief ihn zurück in die Realität. Er hatte die Scheibe mit dem Stein ziemlich genau in der Mitte getroffen. Die Aufschlaggeschwindigkeit und das Gewicht waren völlig ausreichend gewesen. Der Stein hatte ein mehr als faustdickes Loch in die Scheibe geschlagen, die darauf gesplittert war und sich in unzählige Bestandteile zerlegt hatte, deren Kontakt mit dem Boden das Scheppern verursacht hatte.

„Nichts wie weg!“, sagte er zu sich selbst, drehte sich nach rechts und rannte, so schnell er konnte. Er nahm den ersten Abzweig, den er erreichte, es ging nach rechts, aber die Richtung war ihm egal. Er wollte nur aus dem Sichtfeld des Tatorts heraus. Was ihm gelang, auf dem Weg, den er sich vorher ausgeguckt hatte. So wie der Meister es ihm empfohlen hatte. Noch ein kurzer Sprint in den nächsten Abzweig nach links, dann verlangsamte er sein Tempo. Er war weit genug weg, drehte sich sicherheitshalber nochmals um, um festzustellen, ob er verfolgt wurde. Nein. Dann galt es nun nur noch nicht aufzufallen. Erst jetzt registrierte er, dass sein kleines Herz scheinbar bis zum Hals schlug. Doch das beruhigte sich schnell, der Blutdruck sank mit jedem Schritt. Genauso wie sein Stolz mit jedem Meter wuchs, den er sich mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht weiter vom Tatort entfernte. „Gut!“ Es war nur eine kleine Aufgabe gewesen. Aber er hatte die Mission erfolgreich abgeschlossen, sich als verlässliches Mitglied der Gemeinschaft gezeigt und sich für weitere Missionen empfohlen.

22.

„Es hatte doch so ausgesehen, als wäre alles glattgelaufen“, dachte er sich. Kurz nach dem geplanten Termin des Anschlags waren zwei positive Rückmeldungen gekommen. Beide Assassinen hatten übereinstimmend gemeldet, dass der Club vorschriftsmäßig zerstört wurde. Na ja. Vorschriftsmäßig ist vielleicht nicht das ideale präzisierende Adjektiv für eine Zerstörung. „Ein Spaziergang“, „überraschend einfach“ und „hat Spaß gemacht“ waren andere Teile der Vollzugsmeldungen, die er erhalten hatte. Soweit so gut. Wenn da nicht die fehlende, dritte Rückmeldung wäre. Auch der Novize, Marc Johann war der Name, wenn er sich recht erinnerte, hätte eine Rückmeldung geben sollen. Hatte er aber nicht, jedenfalls bis jetzt nicht. Und einfach vergessen hatte der Junge das bestimmt nicht. Denn natürlich hatte er schon nachgehakt. Immerhin war der Überfall jetzt schon mehr als drei Tage her. Und schon vorgestern hatte er versucht, Kontakt mit dem Jungen aufzunehmen. Doch das Ergebnis war das Gleiche wie gestern und heute. Nichts. Der Junge hatte einfach nicht reagiert. Obwohl er ihn über alle ihm zur Verfügung stehenden Kanäle angefunkt hatte. Eigentlich war das unvorsichtig gewesen. Aber der Meister brauchte Klarheit. „Was konnte passiert sein?“, fragte er sich, spielte immer wieder alle ihm erdenklichen Szenarien durch. Er hatte zwischenzeitlich auch mittels aller ihm verfügbarer Medien und Wege recherchiert und keine diesbezüglichen Meldungen gefunden. Zuerst war er nur wütend, anfänglich auf den Jungen, ob seiner Fahrlässigkeit in puncto Kommunikation, dann auf sich selbst, weil er Zeit, viel Zeit für die Recherchen verschwendete, ohne den geringsten Hinweis zu finden. Dann fing er an, sich Sorgen zu machen. Zuerst nur um den Jungen. Was, wenn er verletzt oder gefangen war? Dann über die Auswirkungen auf sein Geschäft. Was, wenn er redete? Was wusste er? Was konnte er verraten? Plötzlich wechselte die Sorge zu Panik. Denn ihm war etwas aufgefallen. Er hatte nicht nur nichts über den Jungen finden können, nein, der gesamte Überfall war nirgends erwähnt worden. So, als hätte er nie stattgefunden. Unmöglich. Seine Gefolgsleute waren zuverlässig, würden nie lügen. Doch heutzutage wurde doch über alles berichtet. Jeder Einsatz von Polizei, Feuerwehr oder anderen Einheiten tauchte irgendwo auf. Es sei denn, es hätte gar keinen Einsatz gegeben. Aber ein brachialer Überfall auf einen renommierten Club. Wenn da die Alarmglocken läuten, ist doch auch die Journaille gleich vor Ort. Es sei denn, die Glocken hätten gar nicht geläutet. Vielleicht waren die Einsatzkräfte nie alarmiert worden. Aber warum nicht? Keine Polizei, keine Schadenmeldung an die Versicherung, kein Schadenersatz. Wer …? Die Panik schwoll an.

Mit unglaublicher Geschwindigkeit flogen seine Finger über die Tasten, sein Blick wechselte ständig zwischen Bildschirm und Tastatur. Und mit jeder Website, die er aufrief, wuchsen Panik und Gewissheit. Die Gewissheit, dass die Panik zu Recht vorhanden war. Es hatte keine zehn Minuten gedauert und er wusste, was er besser schon vorher recherchiert hätte. Bevor er den Auftrag für den Überfall angenommen hatte. Jetzt konnte er sich vorstellen, was dem Jungen passiert sein könnte. Jetzt konnte er nur hoffen, dass sie ihn nicht lebend gefangen hatten. Er konnte aufhören nach dem Jungen zu suchen. Und er musste prüfen, dass es wirklich keine Spuren zu ihm und anderen Mitgliedern der Gemeinschaft gab. Und ab jetzt musste er vorsichtiger sein, die Aufträge kritischer prüfen. „Noch mehr Arbeit“, stöhnte er vor sich hin.