Hexenhammer 1 - Die Inquisitorin

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Lotte hatte ihm in der letzten Zeit des Öfteren ein heimliches Lächeln geschenkt, um ihn aufzumuntern. Seitdem suchte er ihren Blick, wenn sie das Refektorium betrat. Sie hoffte nur, dass eine der Schwestern sie nicht irgendwann dabei beobachtete.

Sobald auch die Mädchen auf den harten Bänken Platz genommen hatten, betrat eine der Schwestern das Refektorium. An diesem eiskalten Morgen war es Schwester Hildegard, die ihnen aus der Schwarzen Bibel vorlas.

Schweigend und ehrfürchtig wie immer nahmen die Kinder die Weisheiten auf, wussten sie doch, dass es ein Privileg war, dass sie im haus zur heiligen dreieinigkeit die Worte des HERRN erfahren durften.

Lottes Magen knurrte. Sie hoffte, dass es Schwester Hildegards Stimme nicht übertönte, denn dann würde sie zur Strafe aufs Frühstück verzichten müssen, wie es ihr schon mehrmals passiert war.

Die neben ihr sitzende Rebecca warf ihr einen tadelnden Blick zu. Vor Rebecca musste sie sich in Acht nehmen. Das Mädchen mit den struppigen roten Haaren war eine Petze, die sie nur zu gern für eine Belobigung bei den Schwestern angeschwärzt hätte.

Aufstehen. Antreten. ASMODI UNSER …

Schwester Hildegard hatte die Schwarze Bibel beiseitegelegt und zum Gebet aufgerufen. Sie faltete die Hände auf dem Rücken und begann zu beten. Die Kinder taten es ihr gleich und sprachen die Worte mit.

»Asmodi unser …«

Oft schon hatte sich Lotte gefragt, wie er wohl aussah, dieser Asmodi. Wie er wirklich aussah. In den Lehrbüchern gab es viele Bilder von ihm, ebenso im Gebetsraum, doch ein jedes zeigte ihn anders. Mal als gelehrten, grimmig dreinschauenden Herrn mit langem weißem Bart, mal als schwarze Gestalt mit Hörnern und glühenden Augen. All diese Bilder flößten ihr Respekt ein, während das Wesen, dessen Namen niemand der Schwestern jemals über die Lippen brachte, ein ganz und gar schreckliches sein musste. Und sie warnten auch die Kinder davor, seinen Namen nur ja niemals zu erwähnen, denn dann würde man auf der Stelle in Flammen aufgehen und …

DER DU WANDELST AUF ERDEN …

Ihr Bauch knurrte erneut. Diesmal so laut, dass es auch Schwester Hildegard gehört hätte, wenn sie noch aus der Schwarzen Bibel vorgelesen hätte. So aber übertönte der Gebetschor der Kinder ihre Missetat. Nur Rebecca warf Lotte einen erneuten Blick zu.

Lotte kam es vor, als zöge sich das Gebet heute endlos. Ihre Gedanken drifteten ab, sie dachte an Angela, die sich fiebernd auf dem Lager wälzte. Sicherlich würde sich Schwester Gertrud erst nach dem Frühstück um sie kümmern.

Erneut hob sie den Blick und schaute auf den hässlichen Jungen. Auch er schaute sie an, unverblümt. Sie schüttelte den Kopf, um ihm begreiflich zu machen, dass es Strafe nach sich zog, wenn die Schwestern sie während des Gebetes bei einer Unaufmerksamkeit erwischten.

Sie senkte den Kopf, spürte aber, dass er sie nach wie vor anstarrte.

Aufstehen. Antreten. Asmodi unser, der du wandelst auf Erden. TROCKEN BROT …

Es dauerte ewig, aber endlich gab Schwester Hildegard mit einem Nicken den Befehl, die Speisen hereinzutragen. Die zwei Jungen, die heute Morgen dafür eingeteilt waren, sprangen sogleich auf und eilten in die Küche.

Als sie zurückkamen, trugen sie gekochte Eier und herrlich duftenden Speck auf einem Tablett. Wurst und Käse befanden sich ebenso darauf wie dicke Scheiben frischen Brotes.

Lotte hätte fast einen tiefen Seufzer ausgestoßen, als sie den Speck roch. Aber natürlich waren diese verlockenden Speisen allein für Schwester Hildegard bestimmt, die sich auch sogleich schmatzend darüber hermachte. Dazu trank sie aus einer Karaffe, die gefüllt war mit einer roten Flüssigkeit.

Lotte nahm sich vor, später auch Ordensschwester zu werden. Dann würde man auch ihr solche Köstlichkeiten servieren, und sie würde niemals mehr hungern müssen.

Erst nachdem Schwester Hildegard den beiden Jungen zugenickt hatte, teilten diese nun auch das Brot für die Kinder aus. Es war hart und schimmelig, aber trotz allem schlangen sie es herunter wie Verhungernde.

Für Melisende musste es eine Tortur bedeuten, mit leerem Magen den anderen beim Essen zuzusehen. Niemand wagte, ihr etwas abzugeben. Die meisten dachten aber auch gar nicht daran.

Lotte brach dennoch ein Stück der harten Rinde ab und verbarg es in der Tasche ihrer Kutte. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, es Melisende zuzustecken.

Rasch schaute sie umher, ob es jemand bemerkt hatte. Nein, alle waren sie zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Kanten zu verschlingen.

Nur einer starrte sie so offen an, dass ihr angst und bange um ihn ward: der hässliche kleine Junge. Begriff er denn nicht, dass er jeden Moment Schwester Hildegards Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte? Vielleicht war er ja nicht nur körperlich versehrt, so wie Lotte, sondern auch noch geisteskrank? Obwohl …

Sie hätte fast aufgeschrien, um ihn zu warnen, als sein Nachbar ihm mit einer blitzschnellen Bewegung das Brot aus der Hand stahl.

Der hässliche kleine Junge schaute verängstigt, wagte nicht, das Brot zurückzuverlangen, während der andere nun genüsslich hineinbiss.

Lotte kannte seinen Namen. Vincenz. Er war als Rüpel bekannt. Seltsamerweise ließen die Schwestern manches bei ihm durchgehen. Ja, sie schienen es sogar zu mögen, wenn er wieder einmal über die Stränge schlug. Vor allem die Schwester Oberin hatte einen Narren an ihm gefressen.

Höhnisch schaute er nun den kleinen Jungen an, der sich tiefer und tiefer vor ihm zu ducken schien.

Aber nicht nur Lotte hatte den dreisten Raub beobachtet. Auch Schwester Hildegard hatte es mitbekommen. Doch anstatt die Missetat zu tadeln, sandte sie ein verständnisvolles Lächeln in Vincenz’ Richtung. Der fing es auf und grinste selbstgefällig, während er am fremden Brot kaute.

Verreck daran, du Dieb!

Kaum hatte sie den Gedanken geboren, bereute Lotte ihn schon wieder. Das war nicht richtig, dass sie sich anmaßte, über dem HERRN stehen zu wollen. Denn allein Asmodi, der alles sah und über alles richtete, stand ein Urteil zu.

Am liebsten hätte sie sich schnell bekreuzigt, nicht in der Art, wie es die verfluchten Katholiken taten, sondern in der richtigen Weise. Aber das hätte alle Aufmerksamkeit nur auf sie gezogen.

Noch während sie ihren lästerlichen Gedanken bedauerte, keuchte Vincenz auf. Er sprang von seinem Platz auf, wankte ein paar Schritte vorwärts und fiel röchelnd auf die Knie. Mit den Händen umfasste er seinen Hals, während sein Kopf blau anlief.

Die Jungen, die neben ihm gesessen hatten, sprangen ebenfalls auf, ein paar der Jüngeren begannen zu weinen.

Mit energischen Schritten stampfte Schwester Hildegard auf Vincenz zu und zog ihn am Ohr hoch. Vincenz würgte. Erst jetzt begriff sie, dass er zu ersticken drohte.

Sie schlug ihm auf den Rücken, aber auch das half nicht. Hilflos schaute sie umher, während Vincenz sich auf dem Boden zusammenkrümmte und immer schrecklichere Laute von sich gab. Es erinnerte an das Grunzen eines Schweins.

Asmodi hilf!

Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte Lotte auf den Jungen. Das hatte er nicht verdient. Das nicht! Und schuld war allein sie, sie, sie …

Immer mehr Kinder umringten ihn.

»Es ist das Werk des Namenlosen!«, schrie Schwester Hildegard, und damit erschreckte sie die Kinder nur noch mehr. Sie schauten sich gegenseitig hilfesuchend an, stoben umher wie aufgeschreckte Hühner oder versteckten sich ängstlich unter dem Tisch.

Nur einer handelte.

Es war der hässliche kleine Junge, dem Vincenz das Brot gestohlen hatte. Er sprang zu Schwester Hildegards Platz, ergriff das Messer, mit dem diese gerade noch den Speck geschnitten hatte, und rannte damit zu Vincenz.

Er will ihn umbringen!

Mit Entsetzen sah Lotte, wie der Junge Vincenz herumwarf, sodass dieser auf dem Rücken lag, und sich über ihn beugte. Er riss ihm das Gewand vom Oberkörper, und mit einer blitzschnellen Bewegung stach er ihm in den Halsansatz!

»Was passiert hier?« Die Schwester Oberin kam hereingestürzt. Sie und die anderen Schwestern speisten in einem Nebenraum. Der Lärm hatte sie alarmiert.

Mit einem Blick erfasste sie die Situation.

Aber auch sie konnte nicht verhindern, dass der Junge in die Wunde an Vincenz’ Hals fasste, einen blutigen Klumpen herausholte und ihn sich in den Mund steckte.

Er hat sich wiedergeholt, was ihm gehörte, erkannte Lotte bestürzt.

In der nächsten Sekunde hatten gleich mehrere Schwestern die beiden Jungen erreicht. Eine fegte den hässlichen Jungen mit einem Fußtritt zur Seite, sodass er jaulend auf dem Steinboden zu liegen kam. Die Schwester Oberin beugte sich zu Vincenz herab. Sie legte die Hände auf die klaffende Wunde und murmelte einen Heilzauber.

Vincenz hatte die Augen geschlossen. Aber er röchelte nicht mehr und schnappte auch nicht mehr nach Luft. Sein Atem ging gleichmäßig.

Zwei der Schwestern nahmen sich den hässlichen Jungen vor und nahmen ihm das Messer ab. Als sie ihn jedoch züchtigen wollten, hielt ein Ruf der Schwester Oberin sie davon ab.

»Halt! Albert hat versucht, Vincenz das Leben zu retten – wahrscheinlich aus Mitleid! Dafür hat er eine schlimmere Bestrafung verdient!«

Ein erneutes Raunen ging durch die Reihen der Zöglinge und Schwestern.

»Vincenz ist nur durch Asmodis Gunst errettet worden! Asmodi sei Dank!«

»Asmodi sei Dank!«, wiederholten die Anwesenden, während Schwester Hildegard den hässlichen Jungen hinausführte. Lotte erfuhr nie, worin die schlimmere Bestrafung bestand.

 

Auch sie dankte dem HERRN. Er hatte ihren Fluch nicht zugelassen.

Und das war gut so.

Der kleine hässliche Junge hatte also einen Namen, und alle Mädchen kannten ihn nun: Albert.

Keines von ihnen schloss aufgrund der Tat mit ihm Freundschaft. Eher fürchtete man ihn, soweit Lotte es mitbekam.

Vincenz erholte sich und saß nach einer Woche bereits wieder im Refektorium. Doch er konnte fortan nur flüssige Nahrung zu sich nehmen. Zudem hatte es ihm die Sprache verschlagen, er konnte nur noch stammelnde Laute von sich geben.

Die hasserfüllten Blicke, mit denen er Albert bedachte, ließen Lotte schaudern. Sobald sich eine günstige Gelegenheit ergab, würde er sich rächen, das spürte sie.

Doch Albert schien sich nicht darum zu scheren. Zu gern hätte sie ihn gewarnt, sich vor Vincenz in Acht zu nehmen, aber es ergab sich keine Gelegenheit. Und so konnte sie nur hoffen und zum HERRN beten, dass ihr lästerlicher Fluch nicht noch weiteres Unheil auf sich zöge.

Aber zumindest eines hatte er bewirkt: Niemand wagte es mehr, Albert das Brot zu stehlen oder auf andere Weise seinen Zorn auf sich zu ziehen.

Kapitel 2

Aufstehen. Antreten. Asmodi unser, der du wandelst auf Erden. Trocken Brot und Haferschleim.

Das Abendessen fiel heute aus, denn die Nacht des Vollmonds war angebrochen. Noch nie zuvor hatte sich Lotte so davor gefürchtet wie diesmal.

Sie hatte Schuld auf sich geladen.

Und sie war nicht die Einzige, die es wusste. Albert starrte sie noch immer während der Mahlzeiten an, noch unverblümter als zuvor. Einmal lächelte er ihr sogar scheu zu. Es war ein dankbares Lächeln. Wusste er, dass sie Vincenz den Tod gewünscht hatte?

Und auch Vincenz’ Blick erhaschte sie ein Mal. Er war voller Hass. Ahnte er, dass sie für sein Martyrium die Verantwortung trug?

Eine ahnte es ganz bestimmt: die Schwester Oberin. Auch sie schaute Lotte oft auf eine so merkwürdige Art an, mit einem Lächeln auf den Lippen, so als wüsste sie Bescheid.

Lotte lief jedes Mal rot an, und es blieb ihr nicht viel mehr, als den Kopf zu senken und zu hoffen, dass die Schwester Oberin nicht ihre allerheimlichsten Gedanken las.

Sie alle, die hier im haus zur heiligen dreieinigkeit den Glauben des HERRN erfuhren, waren spezielle Kinder. Sie alle besaßen eine Gabe. Über welche Gabe Lotte verfügte, wusste sie nicht. Sie war noch jung, die Gabe, so sagten die Schwestern, komme erst allmählich zum Vorschein, so wie eine Blume sich zunächst mühsam aus dem Erdreich nach oben graben müsse, um schließlich im Lichte zu erblühen. Doch um die Gabe zu fördern, war es erforderlich, den Schwestern jede nur mögliche Missetat zu beichten.

Die Schwester Oberin rief die Kinder in die Krypta. So standen sie um den gläsernen Schrein, in dem eine Kralle Asmodis aufbewahrt wurde. Die Gesänge und Gebete zu Ehren Asmodis dauerten Stunden. Zum Höhepunkt wurde ein schwarzer Ziegenbock geschlachtet und zerteilt. Das Blut wurde sorgsam in Kelchen aufgefangen. Nicht ein Tropfen spritzte auf den Mosaikboden, auf dem Asmodis Höllenscharen verewigt worden waren.

»Besser als Haferschleim, was?«, flüsterte Melisende und stupste Lotte an.

Lotte erwiderte nichts. Ihre Kehle war jetzt schon wie zugeschnürt, wenn sie an die Beichte dachte.

Die Schwestern gingen zu jedem Kind und drückten ihm ein Stück blutiges, warmes Fleisch in den Mund und segneten es dabei. Das Fleisch war der Leib Asmodis, und indem sie es in sich aufnahmen, wurden sie des HERRN selbst leibhaftig.

Jedem Kind setzten die Schwestern einen Kelch mit dem Blut an die Lippen, damit es davon trinken konnte. Auch das war eine Spende des HERRN, und sie alle drückten ihre Dankbarkeit mit umso hingebungsvolleren Gebeten aus.

Lotte ließ ihren Blick umherschweifen. Ja, auch Angela war gekommen. Sie hatte das todkranke Mädchen seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Nun schien es wieder bei Kräften zu sein. Schwester Gertruds Heilkünste hatten Wunder gewirkt. Die roten Wangen sprachen Bände. Ebenso wie die Striemen an ihren Armen, die von Schwester Adelheids Gerte zeugten.

Als sie alle auf Geheiß der Schwestern ihre Gewänder ablegten und splitternackt vor dem Schrein standen, sah Lotte, dass nicht nur Angelas Arme von Schwester Adelheids Austreibungen gezeichnet waren. Beide Schwestern hatten auf ihre Art die Krankheit aus Angela getilgt.

Die Schwestern begleiteten die Kinder zum Teufelshügel unweit des Klosters, um dem Mond so nah wie möglich zu sein.

Sie alle waren aufgeregt und gespannt, die Jungen waren besonders vorlaut, aber heute wurde manche Verfehlung geflissentlich übersehen, selbst unerlaubt das Wort zu ergreifen, wurde nicht wie sonst auf der Stelle bestraft.

Auch Lotte spürte die verlockende Berührung des Mondes. Die feinen Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf, als sein Licht auf sie fiel. Gleichzeitig fühlte sie eine unerfüllte Sehnsucht, die der Mondschein in ihr entfesselte, wie ein leises, aber dringliches Flüstern, dass da eine noch viel tiefere Wahrheit war als jene, die die Schwestern im haus zur heiligen dreieinigkeit verkündeten.

Für ein paar Momente vergaß Lotte sogar die Furcht vor der Beichte. In der aufgekratzten Stimmung fühlte sie sich stark genug, der Schwester Oberin ihre Sünden zu gestehen und eine jede Strafe zu ertragen. Strafen waren etwas Vergängliches, doch der Mond und die Gefühle, die er in ihr hervorrief, waren ewig.

Sie alle spürten seine prickelnde Macht. Einige der Kinder wälzten sich wie junge Hunde auf dem schneebedeckten Boden, andere tanzten und jauchzten, bis die Schwester Oberin sie endlich zur Ordnung rief.

»Wir alle müssen nun Asmodi, unserem Herrn, Zeugnis ablegen von unseren Verfehlungen.«

Mit diesen Worten begann zunächst die Befragung der Schwestern durch die Schwester Oberin. Wie immer waren sie rein und hatten keinerlei Schuld auf sich geladen.

Einige der Kinder beichteten hernach, unreine Gedanken gehegt zu haben, wie die Arbeit niederzulegen oder während des Unterrichts wegzuhören.

Ein Junge bekannte, den Schwestern die üppigen Speisen geneidet zu haben, ein anderer sprach davon, dass er im Traum den Wunsch verspürt habe, einen Menschen zu töten.

Sie alle kamen mit milden Strafen davon. Schwester Adelheid verpasste ihnen einige Schläge, und ein paar von ihnen mussten zwei Tage lang ohne Brot oder Haferschleim auskommen. Einem anderen Kind wurde eine glühende Nadel in die Zunge gestochen, weil es sich während der Morgenandacht beim Gebet versprochen hatte …

»Damit du nie wieder die Worte des HERRN vergisst«, sprach die Schwester Oberin. Sie strich mit der Hand ein Mal über die Opfernadel, die sogleich gleißend hell erglühte, und stieß sie in die ausgestreckte Zunge des Mädchens und segnete es mit den Worten: »Im Namen des HERRN, des Allmächtigen und Gewaltigen, dessen Kraft alles Körperliche und Geistige übertrifft, dass ihr keine Erdenmacht verglichen werden kann, nach dem Worte: Es ist keine Macht auf Erden, wie sie größer nicht existiert. Nema.«

»Nema«, antworte ihr der Chor der Kinder und Schwestern.

Als Nächstes ließ die Schwester Oberin Angela vortreten. Sie kniete nieder, den Kopf gesenkt.

»Was hast du dem HERRN zu beichten?«

Angela hob den Kopf und sagte: »Ich habe zugelassen, dass die Krankheit in meinen Körper kriecht. Er, dessen Name verflucht ist, hat sie mir geschickt.«

Die Schwester Oberin strich ihr über den Kopf. »Du bist noch unreif und auf dem Wege, mein Kind. Ein Dämon entbehrt aller körperlichen Eigenschaften, deshalb empfindet er weder Schmerz noch Krankheit, wenn er den Weg zur höchsten Vollkommenheit beschritten hat. Du wirst die Exerzitien nun strenger befolgen. Schwester Adelheid wird dich durch ein Tal der Schmerzen führen, doch am Ende wirst du Seligkeit erlangen.«

Angela lächelte ergeben, und Schwester Adelheid bekräftigte: »Sie ist bereits auf gutem Wege, Schwester Oberin.« Um ihre Worte zu untermauern, versetzte sie Angela einen besonders schmerzhaften Hieb mit der Gerte.

Angela lächelte noch immer.

Vincenz trat vor. Er war nicht mehr der Haudrauf, der er vormals gewesen war. Er warf sich vor der Schwester Oberin in den Schnee und sah sie hündisch ergeben an.

»Was hast du zu beichten?«, fragte sie lächelnd.

Gutturale Laute entrangen sich seiner Kehle.

»Ich verstehe dich sehr gut«, sagte die Schwester Oberin. »Du befürchtest, dass nicht nur dein Körper versehrt wurde, sondern auch dein Geist. Der, dessen Namen so unrein ist wie der Kot eines Hundes, vermag auf mancherlei Weise Einfluss auf uns zu gewinnen. Ist er erst in deinen Leib gefahren, so ist es ein Leichtes, auch deinen Verstand zu vergiften.«

Sie sah Schwester Gertrud an, die sogleich bestätigend nickte: »Ich sehe die Anzeichen bei ihm. Er ist der normalen Sprache nicht mehr mächtig. Es könnte sein, dass der, dessen Namen unrein ist, bereits in seinem Kopfe wütet.«

»Wir werden den Keim des Bösen mit der Nadel aus ihm vertreiben«, entschied sie. »Aber nicht heute, ich muss mich nun noch mit einer besonderen Sünderin befassen.« Lotte klopfe das Herz bis zum Hals, als die Schwester Oberin sich ihr zuwandte. »Nun, was hast du dem HERRN zu sagen?«

»Ich … ich …« Lottes Kehle war wie zugeschnürt, obschon sie selbst nicht wusste, warum. War die Beichte nicht etwas Befreiendes? War Strafe nicht etwas, das einen näher und näher zu Asmodi, dem HERRN, führte, wie die Schwester Oberin stets betonte? Warum aber konnte sie dann nicht sprechen?

»Nun, sind deine Sünden so zahlreich, dass du nicht weißt, wo du beginnen sollst?«

»Ich habe nichts zu beichten, Ehrwürdige Mutter«, log sie und wusste doch, dass sie ihre Gedanken diesmal nicht vor der Schwester Oberin verbergen konnte.

»Aber Kind, du weißt sehr wohl, dass die Lüge zwar eine Tugend ist, doch der Pfad zu ihr ist die Wahrheit. Hier, vor mir und dem HERRN, musst du Wahrheit sprechen, um die Vollkommenheit der Lüge zu erlangen.«

Es waren Worte, wie Lotte sie sehr wohl kannte, wenngleich sie sie nicht in vollem Umfang verstand. Und wieder versuchte sie, ihre Verfehlungen laut herauszuschreien, doch erneut kam nicht eine Silbe über ihre Lippen. Etwas – oder JEMAND – hinderte sie daran. War gar derjenige, dessen Name so unrein war wie der Kot eines Hundes, auch in sie gefahren?

»Deine Gedanken sagen mir, dass du mehrmals schwer gefehlt hast!«, fuhr die Schwester Oberin in strengem Ton fort. »Dein Trotz wird dich teuer zu stehen kommen. Noch bin ich mir nicht sicher, ob er aus dir selbst kommt oder die Beharrung einer Austreibung bedarf. Bis dahin werde ich dich einer zeitlichen Bestrafung unterziehen. Kommst du zur Einsicht, so wird diese sehr kurz sein. Wenn nicht …«

Sie kam nicht zur Einsicht.

Schwester Oberin, ja, ich habe gefehlt, mehrmals schwere Sünde auf mich genommen, indem ich mich den Ratten entgegengestellt und Vincenz mit einem Fluch beladen habe. Ich habe gefehlt, indem ich Mitleid gezeigt und mehrmals die Gebete nicht mitgesprochen habe. Ich habe gefehlt, weil ich die Beichte verweigert habe. Ich habe gefehlt, weil ich bin, wie ich bin. O Schwester Oberin, führe mich zurück auf den Weg des alleinigen HERRN, des Allmächtigen und Gewaltigen …

Das Loch war unter allen Kindern der gefürchtetste Ort auf Asmodis Erden. Die Älteren erzählten sich Geschichten von jenen, die in dem Loch gesessen hatten. Nur wenige hatten es darin lange ausgehalten. Sie hatten um Gnade und Vergebung geschrien. Ihre Schreie waren sogar in den Schlafsälen zu hören gewesen. Jeder, der einmal im Loch gewesen war, war danach geläutert. Es hieß, dass die Ratten einem dort bei lebendigem Leibe die Zehen abfraßen. Es hieß, dass in den Wänden Wesen hausten, die einem Gift desjenigen, dessen Namen man nicht aussprechen durfte, ins Herz spritzten. Es hieß, dass aus der Tiefe Ghoule sich nach oben gruben, weil sie die Nähe des Todgeweihten spürten und ihm schaurige Geschichten von seinem nahenden Ende zuflüsterten. Tag und Nacht.

Doch im Loch machte es keinen Unterschied, denn darin war es immer Nacht.

Es hieß zudem, nicht jeder käme aus dem Loch auch wieder hervor. Manche wurden darin vergessen, andere kamen nicht unbeschadet an Körper und Geist wieder ans Tageslicht.

Alles in allem galt das Loch als Vorstufe zur ewigen Verdammnis, die hier schon begann, eine Art Vorhimmel, der einem vor Augen führte, was man erst im Himmel werde erleiden müssen, wenn man Asmodis Pfad nicht folgte.

 

»Die Menschen sind verblendet«, hatten die Schwestern in den Unterrichtsstunden erklärt. »Sie glauben, dass der Himmel etwas Wunderbares wäre, dabei ist es umgekehrt. Doch lassen wir sie in dem Glauben, auf dass sie dort schmoren sollen!«

»Und die Hölle? Gibt es die Hölle?«, hatte Lotte einmal wissbegierig gefragt.

»Hölle und Erde sind eins«, hatte die Antwort gelautet. »Zumindest sind die Grenzen durchlässig, sonst würde es auch uns nicht geben. Die Grenzen zum Himmel dagegen sind verschlossen. Wer hätte je vernommen, dass der, dessen Namen wir nicht nennen, hier etwas vollbracht oder gar Wunder gewirkt hätte so wie Asmodi unser?«

»Aber die Menschen kommen trotzdem in den Himmel. Wie kann er dann verschlossen sein?«, hatte Lotte sich gewundert.

»Erst nach ihrem Tod gelangen ihre Seelen dorthin, deshalb wird der, dessen Namen wir nicht nennen, auch der Seelenverzehrer genannt.«

»Kommen auch wir in den Himmel?«

»Niemals, denn wir sind entweder unsterblich oder Asmodi nimmt sich unserer Seelen an. Nur wenn jemand unrein ist, kommt er zur Strafe in …«

Das Loch.

Das Loch war der Himmel.

Der Himmel war das Loch.

Die Finsternis war allgegenwärtig. Die Wände um sie herum rund und aus Lehm, der so feucht und glitschig war, dass er sich wie etwas Lebendiges anfühlte.

Kaum ein Laut drang an ihre Ohren, nur ab und zu das Plätschern eines Wassertropfens.

Irgendwann hatte sie begonnen, die Tropfen zu zählen, doch sie musste immer wieder von vorn beginnen, weil sie nur bis 99 zählen konnte.

Der Gestank der Fäkalien war zunächst allgegenwärtig, aber nach einiger Zeit nahm sie ihn nicht mehr wahr.

Nichts nahm sie mehr wahr.

Zu unregelmäßigen Zeiten wurde aus der Finsternis über ihr ein Seil mit einem Korb daran herabgelassen. Mit Heißhunger machte sie sich über das verschimmelte Brot und die Kartoffelschalen her. Es war kaum mehr als Schweinefutter. Vielleicht sogar noch schlechter.

Das Wasser in den Krügen roch, als hätte man es aus einer Latrine abgefüllt. Manchmal blieb Lotte vor Durst nichts anderes übrig, als mit der Zunge über die feuchten Lehmwände zu lecken.

Aufstehen. Antreten. Asmodi unser, der du wandelst auf Erden. Trocken Brot und Haferschleim …

Was hätte sie dafür gegeben! Manchmal stellte sie sich eine Schale voll davon vor. Oder eine Handvoll. Nur eine winzige Handvoll. Selbst in ihren Träumen spielte Haferschleim eine Rolle.

Manchmal hörte sie den Gong. Sie wusste, dass sie ihn sich nur einbildete. Er war der Nachklang eines früheren, glücklicheren Lebens. Dennoch erwachten dann ihre Sinne, richtete sich ihr Körper automatisch auf und …

Aufstehen. Antreten. Asmodi unser, der du wandelst auf Erden. Trocken Brot und Haferschleim. Asmodi unser …

Gott war böse.

Ja, Gott war böse, dass er sie derart leiden ließ.

Asmodi war gut. Asmodi war …

Asmodi unser …

Gott war böse.

Asmodi war …

Und dann stand er plötzlich vor ihr. So als hätte sie ihn herbeibeschworen. Es war doch Asmodi, oder? Diese dunkle Gestalt, die noch schwärzer als die Schwärze um sie herum war. In der nur die Augen wie zwei glühende Rubine feurig funkelten und auf sie herabblickten.

Es konnte nur Asmodi sein.

»Bist du es wirklich?«, fragte sie dennoch mit heiserer, krächzender Stimme, die sie selbst nicht mehr als die ihrige erkannte.

»Du hast mich gerufen, erinnerst du dich schon nicht mehr?«

»Ich habe gebetet!«

»Du hast gesündigt. Ich weiß um deine Sünden.«

Natürlich wusste er davon. Er wusste alles, was auf Erden geschah. Auf Erden und in der Hölle, die eins waren.

»Ja, ich habe gesündigt und nehme meine Strafe an.«

Was würde er nun mit ihr anstellen? Sicherlich war er nicht gekommen, um ihr Vergebung zu gewähren. Er war gekommen, um ihr seine Gnade zu entziehen, so wie es der ersten geistigen Strafe entsprach, die die Schwestern sie gelehrt hatten. Wenn er ihr wohlgesonnen war, würde er sie nur läutern und ihr die Schuld austreiben, und sicherlich würde dies nicht schmerzlos geschehen. Doch jeder Schmerz war ihr willkommener als der Nicht-Schmerz, das Nicht-Gefühl, das Nicht-Sein, das sie hier unten immer mehr umfing.

»Ich lese deine Gedanken, und sie sind rein. Aber noch lese ich darin auch etwas Verborgenes, einen freien Willen, der mir nicht gefällt.«

»Dein Wille geschehe«, sagte Lotte schnell. »Meiner sei wie eine Laus, die man zerdrückt.«

»So ist es recht, wenn es denn der Wahrheit entspricht. Was ist dein größter Wunsch? Verrate ihn mir!«

»Ich bin hungrig«, bekannte sie. »Und ich habe Durst. Ist das ein Vergehen?«

»Nein, ich denke nicht.« Ihre Antwort schien ihn zu erheitern. »Ich werde deinen Wunsch auf der Stelle erfüllen. Folge mir!«

Er wandte sich um – Lotte erkannte es nur daran, dass die Augen plötzlich nicht mehr zu sehen waren. Sollte sie wirklich …?

»Nun komm schon!«, hörte sie seine ungeduldige Stimme, die jedoch weit entfernt klang.

Zögernd machte sie einen Schritt vorwärts. Und noch einen … Eigentlich hatte sie damit gerechnet, gegen die feuchte Lehmwand zu stoßen, die ihr Gefängnis begrenzte.

Aber da war keine Wand mehr! Da waren …

Lichter! Blau-rote Flämmchen, die vor ihr in der Luft tanzten und ihr den Weg wiesen. Sie folgte ihnen einen Gang entlang und mehrere steile Treppen hinauf, und schließlich stand sie draußen unter dem funkelnden Sternenzelt. Es erschien ihr nach der langen Zeit in der vollkommenen Dunkelheit gleißend hell, sodass sie geblendet die Augen schloss.

Als sie sie wieder öffnete, stand Asmodi vor ihr.

»Hier draußen wirst du nichts finden, das deinen Hunger stillt. Also komm!«

Seine Geduld schien nicht grenzenlos zu sein. Wieder schritt er so schnell voran, dass sie ihm kaum folgen konnte. Sie war schwach und unsicher auf den Beinen.

Als sie vor dem Eingang zum haus zur heiligen dreieinigkeit stand, war er erneut verschwunden.

»Nun tritt schon hindurch!«, hörte sie seine Stimme, die aus dem Inneren drang.

Ein Schrecken durchfuhr sie. Wenn sie seine Stimme durch die schwere Holzpforte hindurch so deutlich vernahm, so wurden sicherlich auch die Schwestern davon wach. Und ganz bestimmt die Ratten, die viel feinere Ohren hatten.

»Die … die Pforte …«, flüsterte sie. »Sie ist verschlossen.«

»So tritt hindurch. So wie du dein Gefängnis verlassen hast. Nun mach schon!«

Lotte schloss die Augen, streckte die Arme vor und machte einen Schritt auf die Pforte zu. Wie zuvor stießen ihre Hände auch diesmal auf kein Hindernis. Es war, als stünde die Pforte sperrangelweit offen.

Verwundert machte sie die Augen wieder auf und sah sich in der Eingangshalle stehen, die von Dutzenden der tanzenden Flämmchen erhellt wurde.

Asmodi stand bereits am anderen Ende der Halle, dort, wo die Treppe zur Küche hinabführte.

»Ich glaube, ich muss dich an die Hand nehmen«, rief er gereizt. »Dein Hunger scheint nicht so groß zu sein wie deine Angst.«

»Es ist nur …«

Da sah sie die Schatten. Zwei Ratten kamen herangehuscht. Sie kannte ihre Namen nicht. Die Ratten trugen Hüte wie die Wachsoldaten in der Stadt, und an ihren Gürteln waren kurze Schwerter befestigt.

»Was ist hier …«, begann die eine mit piepsiger Stimme und verstummte mitten im Satz, als sie Asmodi gewahrte. Ängstlich quiekte sie auf. Beide Ratten fielen auf die Knie und senkten die Köpfe.

»So ist es recht«, dröhnte Asmodis Stimme. »Bleibt, bis ich euch befehle, euch fortzubewegen.«

»Wir gehorchen, Herr!«, bekräftigten sie.

Derart unterwürfig hatte Lotte die Ratten noch nie erlebt. Es gab Dutzende von ihnen, und sie waren die willfährigen Gehilfen der Schwestern. Doch selbst vor den Schwestern fielen sie nicht auf die Knie.

Lotte beeilte sich, um den HERRN nicht weiter zu verärgern. Sie folgte ihm humpelnd, so schnell sie konnte.