Feindbild China

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Aber trotzdem seien unter seiner Regierung Millionen Menschen verhungert oder unter anderen schrecklichen Umständen zu Tode gekommen, warf ich ein. Etwa während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 … »Dafür ein Mausoleum?«

Ich würde das als Ausländer nicht verstehen, sagte Yin und beendete das Gespräch.

Das hätten unsere russischen Freunde auch immer gesagt, wenn wir sie vorsichtig kritisierten, hielt ich dagegen. Und sie hätten als letztes Argument angeführt: Das hat bei uns keine Tradition. Damit lasse sich immer alles erklären und entschuldigen.

In der Folgezeit nutzte ich jede Gelegenheit, um mit jüngeren, aber vor allem mit älteren Chinesen darüber zu sprechen, weshalb sie Mao trotz seiner nachweislichen Fehler derart verehrten. Meine fehlenden Sprachkenntnisse schränkten die Möglichkeiten stark ein, zumal auch nicht viele Chinesen in meinem Bekanntenkreis ausreichend Englisch sprachen. Übersetzer mochte ich nicht einsetzen, da ich glaubte, dass sie gegenüber anderen Chinesen gehemmt seien oder diese hemmten, sich gegenüber einem Ausländer offen mitzuteilen.

Aber nach und nach, selbst aus anekdotischen Erzählungen, begann sich ein anderes Bild herauszuschälen.

Meine damalige Sekretärin, Frau Gui, sprach gut Deutsch, da sie deutsche Literatur studiert hatte. Sie erzählte mir einmal, dass ihre Eltern selten Fleisch aßen, und wenn, dann allenfalls gekochte Schweineschwänze. Als Kind habe sie Fleisch nur in Form von Schweineschwänzen gekannt.

Naja, warf ich vorlaut ein, dann sei es ihnen noch immer besser gegangen als Millionen anderen Chinesen.

Damit hatte ich bei ihr einen Exkurs in chinesischer Geschichte ausgelöst.

Die Volksrepublik sei zunächst von der Sowjetunion mit Wirtschaftshilfen unterstützt worden, die habe Spezialisten geschickt, damit China eine eigene Industrie aufbauen konnte, es kamen Wissenschaftler, Ingenieure und Militärberater. Doch damit sei man erneut in die Abhängigkeit einer ausländischen Macht geraten. Und diese wollte für ihre Unterstützung bezahlt werden, vorrangig mit Lebensmitteln, denn auch die Sowjetunion litt unter den Folgen des Krieges. Die chinesisch-sowjetische Freundschaft gründete zwar auf gleichen Überzeugungen, aber sie sei von den Russen beendet worden. Nachdem die KPdSU mit Stalin gebrochen und ihn verurteilt hatte, sei sie von dem gemeinsamen Ziel der Weltrevolution abgerückt. Das sei mit der Kritik an Mao verbunden gewesen. Moskau habe die wissenschaftlich-technische Unterstützung beendet und alle Experten zurück­geholt. Damit sei die in Entwicklung befindliche Schwer- und ­Ölindustrie zusammengebrochen, Millionen Werktätige ­verloren ihre Arbeit. China aber musste noch weiter Getreide an die Sowjetunion liefern, um seine Schulden zu be­gleichen.

Mao und seine Führung standen vor der Situation, dass China einerseits von den USA und allen westlichen Ländern boykottiert und sanktioniert wurde, andererseits von der Sowjetunion zur Rückzahlung der Hilfen gepresst wurde. ­Dadurch sei China in eine tiefe wirtschaftliche und politische Krise geraten. In dieser Situation habe Mao Ende der fünfziger Jahre die Flucht nach vorn angetreten, indem er den »Großen Sprung« initiierte. Er schickte Millionen arbeitslose Arbeiter aufs Land, um die Bauern anzuleiten, Stahl in einfachen Öfen zu produzieren und sie gleichzeitig zu ernähren. Alles ging schief, der produzierte Stahl war unbrauchbar, und die Felder wurden nicht bestellt. Die Hungerjahre von 1959 bis 1962 rafften Millionen dahin.

Ja, meinte Frau Gui, es war ein Fehler zu glauben, dass man auf diese Weise das Land vorwärtsbringen und zu den westlichen Industrieländern aufschließen würde. Aber diese Entscheidung wurde nicht aus Menschenverachtung oder Zynismus getroffen, wie unterstellt werde. Maos Führung traf keine falsche Entscheidung mit Vorsatz, sondern weil sie die ganze Situation falsch einschätzte. Dafür könne man Mao nicht als Verbrecher oder gar Mörder verurteilen. Vielleicht waren dreißig Prozent seiner Entscheidungen falsch, siebzig Prozent hingegen richtig. Und dafür verdient er den Respekt und die Achtung der Chinesen.

Diese Formel hörte ich von Frau Gui zum ersten Mal. In der Folgezeit begegnete sie mir immer wieder.

Mit einem Bandscheibenvorfall begab ich mich in die Hände einer Ärztin, die nach der traditionellen chinesischen Medizin behandelte. Ich erhielt mehrere Behandlungen mit Akupunktur und speziellen therapeutischen Massagen. Während sie mir die Nadeln da und dort in die Haut bohrte, erzählte sie mir etwas über die vielen Epidemien, die China seit Anbeginn seiner Geschichte heimgesucht hätten. Etwa die Beulenpest (»bubonic plague«), die immer wieder ausgebrochen sei, zuletzt 1946. Man habe die Toten nicht gezählt, sie gingen vermutlich in die Millionen. Eine der ersten Maßnahmen, die Mao nach Errichtung der Volksrepublik durchgesetzt habe, sei die systematische Bekämpfung epidemischer Krankheiten durch Prophylaxe gewesen. Es erfolgten massenweise Impfungen, die Einrichtung von Wohngebietskliniken und der Aufbau von Strukturen zur Gesundheitskontrolle. Das sei, so die Ärztin, im Vergleich mit den westlichen Ländern damals auf niedrigem Niveau erfolgt, aber es geschah. Im Vergleich mit den Verhältnissen zuvor bedeutete das einen gewaltigen Fortschritt.

So konnten nach wenigen Jahren Krankheiten wie die Bilharziose, die Malaria, die Filariasis, die Pocken, die Tuberkulose, sexuell übertragbare Krankheiten – im Englischen STD genannt – und andere bakterielle Krankheiten unter Kontrolle gebracht werden. In vergleichbaren Ländern, etwa in Indien oder in Afrika, bestünden solche Systeme bis heute noch nicht, sagte die Ärztin nicht ohne Stolz. Dafür achte und anerkenne sie Mao, obwohl er nachweislich auch Fehler beging.

Einige Monate später, noch immer im Lernmodus, traf ich eine chinesische Bekannte, die im Kulturbereich in Deutschland arbeitete. Sie besuchte ihre Eltern in Peking und lud mich zu einem Abendessen daheim ein. Ihr Vater, schon hoch in den Siebzigern, erzählte seine Lebensgeschichte. Er stamme aus einer bürgerlichen Familie, berichtete er, habe Geographie und Kartographie studiert. Das brachte ihn in der Kulturrevolution in Schwierigkeiten, aber er habe, wie ich sehe, überlebt. Auf meine Frage ob er sich mit der Kommunistischen Partei und deren Vorsitzenden Mao ausgesöhnt habe, antwortete er: »Aber sicher.«

Am Koreakrieg habe er als »Freiwilliger« teilnehmen müssen. Da er bürgerlicher Herkunft war, durfte er keine Waffe tragen. An der Front habe er Lageskizzen für die Offiziere gezeichnet. »So trug ich mit dazu bei, dass erstmals eine ausländische Macht von einer chinesischen Armee besiegt werden konnte.«

Der Sieg über die amerikanische Übermacht in Korea habe nicht nur ihm, sondern nach seiner Überzeugung allen Chinesen das seit den Opiumkriegen verloren gegangene Selbstvertrauen zurückgegeben. »Dieser Sieg war dank der Politik Maos möglich«, sagte er. Welche Fehler Mao auch später machte, sie verblassten alle dahinter. »Dieser Sieg war eine seiner größten Leistungen. Er hob China wieder auf die Bühne der starken Nationen, musste von den USA, der Sowjetunion und allen Staaten beachtet werden. Auf Grund des Sieges gab die Sowjetunion 1955 Port Arthur, das heutige Dalian, zurück. Die Hafenstadt stand nach 1945 unter sowjetischer Verwaltung, weil sie nach der Jahrhundertwende von den Japanern besetzt worden war. Zuvor nämlich hatte es der russische Zar okkupiert, nachdem die Briten im Zweiten Opiumkrieg Port Arthur zu ihrer Kolonie gemacht hatten …«

Er sei stolz auf Mao, erklärte der Veteran. Wenn ich es ihm erlaube, möchte er mir einige Lieder der Volksbefreiungsarmee vorsingen.

Es lag nicht nur am Reisschnaps, den wir gemeinsam tranken, dass mir die Kampflieder aus vergangenen Jahren gefielen.

Begegnungen wie diese trugen dazu bei, dass ich das Bild von Mao, das ich in Europa gewonnen hatte, einer Revision unterzog. Es schien mir doch ein wenig einseitig und tendenziös zu sein. Es war gleichgültig, ob Maos Fehler kleiner oder größer waren als seine positiven Leistungen. Trotz aller Widersprüche hatte er eine solide Basis für den weiteren erfolgreichen Aufbau des Landes, für die Reformen unter Deng Xiaoping und damit für die Erfüllung des chinesischen Traums gelegt. Und dieser Auffassung war ganz eindeutig auch eine qualifizierte Mehrheit von über einer Milliarde Chinesen. Sie waren nicht Opfer der Propaganda, sondern folgten der eigenen Überzeugung.

Mein Joint Venture

Das kleine Repräsentanz-Büro, das ich 1990 übernahm, gehörte zu den ersten ausländischen Vertretungen und bestand seit Mitte der achtziger Jahre. Die deutsche Mutterfirma beschäftigte sich im Wesentlichen mit Eisenbahn- und Straßentransporten zwischen der Bundesrepublik und Osteuropa. Vereinzelt wurden Transporte auch über längere Entfernungen, so von und nach China, im Auftrage deutscher Unternehmen abgewickelt. Dabei bestand unsere Aufgabe in der Vermittlung zwischen den deutschen und den chinesischen Partnern. Viel zu tun gab es nicht.

Über Jahre wurden billige Textilien für deutsche Importeure in Containern über die Landverbindung abgewickelt. Die Transsibirische Eisenbahn war in jenen Jahren gegenüber dem Seetransport konkurrenzfähig. Allerdings war das Volumen im Vergleich zur Seeschifffahrt recht bescheiden. Unser in drei Monaten über die Transsibirische Eisenbahn abgewickeltes Transportvolumen entsprach der Ladung eines großen Containerschiffes von heute. Doch das genügte, um Gewinn für die Repräsentanz zu machen. Perspektivisch erwartete die Geschäftsleitung in Folge der chinesischen Reformen einen starken Anstieg des Handelsvolumens. In den deutschen Niederlassungen baute man bereits das Marketing aus und kreierte neue Geschäftsstrategien. Voller Optimismus schaute man in die chinesische Zukunft.

 

Dann jedoch kam 1989/90. Am 4. Juni erfolgten die gewalttätigen Ausschreitungen in Peking, weshalb man mit China nichts mehr zu tun haben wollte. Schließlich überlagerte der Fall des Eisernen Vorhangs in Europa alles andere. Die Sowjetunion, inzwischen selbst ausgezehrt, hatte ihre Verbündeten aufgegeben, die Karten auf dem Kontinent wurden neu gemischt. Auch das Geschäftsfeld der Muttergesellschaft in Westdeutschland veränderte sich schlagartig. Transporte zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen Deutschland und den osteuropäischen Ländern schienen nun lukrativer. Bisherige Strategien für Transportverbindungen mit China, Nord- und Südkorea, Japan oder Afghanistan waren obsolet. Die Marketingmitarbeiter verkauften keine China­transporte mehr. Gleichzeitig verschlechterte sich die Qualität des Eisenbahnservices durch die sowjetische Staatsbahn. Auf Bahnhöfen wurde gestreikt, die kommerzielle Arbeit an den Grenzübergängen vernachlässigt, es wurde überall nach demokratischen Reformen gerufen, aber an ökonomische Konsequenzen dachte niemand. Die Transitzeiten verdoppelten sich, Container, ja ganze Züge verschwanden über Wochen im sowjetischen Eisenbahnnetz. Die Folge: Anfang der neunziger Jahre lehnten mehr und mehr Kunden die Route über die unsicheren Transportwege in der Sowjetunion ab und wechselten von der Schiene aufs Wasser. Das Transportvolumen über Land ging binnen eines Jahres dramatisch zurück.

Das war die Situation, die ich vorfand. Nichts traf mehr zu, was vor einem halben Jahr noch richtig und wichtig war. In Deutschland hatte man 1990 andere Pläne und Träume, als Container von China nach Deutschland auf der Schiene zu befördern. Die alten Kunden wurden nicht kontaktiert und gepflegt, neue Kunden nicht geworben. Meine Tätigkeit beschränkte sich auf wenige Besuche bei unseren Partnern und auf das Warten, dass sich die Situation bessern würde. Die Gesellschaft verlor mit dem China-Geschäft immer mehr Geld. Mir war bewusst: Änderte sich nichts in kurzer Zeit, würde man gewiss die Repräsentanz schließen. Eine Rückkehr nach Deutschland schloss ich aus. Ich sah auch aus der Ferne, wie dort alles den Bach runterging, der Ausverkauf der DDR war im vollen Gange, für das Verkehrskombinat Deutrans interessierten sich verschiedene Speditionsunternehmen. Mein auf Containerverkehr spezialisierter Betrieb, der VEB Deutrans-Transcontainer, wurde kleingeschrumpft und zwischenzeitlich als Unternehmen der Deutschen Reichsbahn der DDR und später von der Bundesbahn übernommen. Und die reichte den Betrieb an eine ihrer Töchter weiter.

Ich nutzte die untätige Zeit für die Sondierung von Möglichkeiten, die ich als Logistiker anderenorts einsetzen könnte. Ich besaß noch meinen DDR-Dienstpass, mit dem ich ohne Visum in die Sowjetunion reisen konnte. Also fuhr ich nach Moskau, um einen dortigen Kollegen zu besuchen. Einen ehemaligen Kollegen, musste ich wohl sagen.

Eines der Hauptprobleme bestand damals darin (und es existiert noch immer), den sogenannten unpaarigen Container-Austausch zu regeln, d.h. leere Container nach China zu bringen, die zuvor mit Ladung von China per Schiff nach Westeuropa gebracht worden waren. Ich schlug vor, stattdessen russische Bahncontainer in Sibirien, beispielsweise im Bahnknotenpunkt Chita, aufzunehmen und nach China zu bringen. Dort würden sie mit Textilien nach Deutschland verschifft und leer von Deutschland an die polnisch-sowjetische Grenze gebracht werden, wo sie die sowjetische Bahn übernehmen würde.

Nach langen Verhandlungen mit der staatlichen sowjetischen Speditionsfirma und dem »Containerfürsten« des sowjetischen Eisenbahnministeriums, den ich seit vielen Jahren gut kannte, gelang mir der Deal. Ich konnte die »Freunde« mit der Zusage eines persönlichen Bonus überzeugen.

Das zweite Problem war die Organisation der reibungslosen Übergabe der leeren Container am Grenzübergang Zabaikalsk/Manchouli an die chinesische Bahn bzw. an den Grenzspediteur Sinotrans. So reiste ich im Juni nach Man­chouli und nach Zabaikalsk in Sibirien. In jener Zeit waren solche Reisen abenteuerlich. Abgesehen davon, dass ich mehrere Tage unterwegs war, so waren die Bedingungen in den Zügen und in den Hotels an der Strecke, nun ja, nicht unbedingt mit mitteleuropäischen Maßstäben zu messen. Die internationalen Züge für die transsibirische Route waren zudem für den nationalen Verkehr nicht offen.

Obwohl ich 1. Klasse (»Softseat«) reiste, durfte ich mir das Abteil mit drei chinesischen Mitreisenden teilen. Einer war Experte von Sinotrans, der kein Englisch sprach, ein kommerzieller Mitarbeiter sowie einer, der gar nichts sagte. Für die persönliche Versorgung musste man selbst aufkommen, im öffentlichen Angebot war lediglich heißes Wasser.

Die karge Landschaft im Nordosten Chinas, der Inneren Mongolei, flog am Fenster vorbei. Grasland! Alles Grasland, nur war wenig Gras zu sehen. Es sah aus wie eine Wüste. Dann tauchten Streifen neu gepflanzter Bäume auf. Später erfuhr ich vom landesweiten Programm, Bäume zu pflanzen, um die Versteppung des Graslandes aufzuhalten.

Wir passierten Dörfer und kleine Städte, sie wirkten sehr arm und bescheiden. Schon Peking hatte mich erschreckt, das aber erschreckte mich noch mehr. Obwohl es schon Frühsommer war, herrschten Staub und eine kahle Landschaft vor. Die Dörfer waren baumlos, die Häuser eigentlich Katen. Die Menschen, die ich vom Fenster aus sah, aber auch die im Zug waren sehr einfach gekleidet, nicht wenige trugen »Mao-Look«. Sie betrachteten mich wie einen Außerirdischen. Über die Toiletten in den Zügen will ich lieber nichts schreiben …

Nach drei Tagen traf ich in Manchouli ein, wo ich wie ein Staatsgast begrüßt wurde. Chinesische Gastfreundschaft ist großartig. Ich fühlte mich fantastisch, insbesondere nach den umfangreichen Mittag- und Abendessen mit den entsprechenden Mengen an Alkohol.

Aus Berichten wusste ich: ohne Alkohol keine Freunde. Aber Freunde brauchte ich für mein Vorhaben, den transsibirischen Eisenbahnverkehr China-Deutschland wieder zu beleben. Der Höhepunkt war ein Essen mit fast dem gesamten Leitungsteam unseres lokalen Partners und den Honoratioren der Stadt. Wir saßen an vier großen Tischen unter freiem Himmel. Es gab frischen Fisch aus dem Dalai-See. Der, auf den die Augen des zubereiteten Fisches schauten, musste ein Glas Baijiu leeren, das war ein 56-prozentiger Reisschnaps. Seltsamerweise schauten alle aufgetischten Fische auf mich. Was für ein Zufall.

Glücklich über den Verhandlungserfolg nahm ich die Herausforderung mit den entsprechenden Folgen an – sehr zur Freude meiner neuen Freunde.

Künftig sollte eine gesonderte Abteilung zur Abfertigung der leeren sowjetischen Bahn-Container eingerichtet werden. Die Anzahl der Mitarbeiter und die Ausstattung des ­Büros spiele keine Rolle, erklärte man mir.

Ich bewunderte die Flexibilität des Managements. Ich hatte aufgrund meiner Erfahrungen mit langen Verhandlungen und Streit um Kleinigkeiten gerechnet. Hier war das ganz anders. Man verstand den Sinn einer schnellen Grenzabfertigung. Diesem Ziel musste alles andere untergeordnet werden. Auch mit der russischen Seite würde man sofort Gespräche aufnehmen.

Zu jener Zeit war das Verhältnis zur sowjetischen Seite noch recht gespannt. Die Grenze war gut bewacht und selbst für den lokalen grenzüberschreitenden Verkehr kaum durchlässig. Ich solle mir aber keine Sorgen machen, man werde es versuchen, und wenn der erste Anlauf nicht erfolgreich sei, dann gebe es einen zweiten. Erstmals wurde ich mit dem heute üblichen Prinzip »trial and error«, Versuch und Irrtum, konfrontiert.

Zurück in Peking akquirierte ich die ersten Transporte.

Obwohl im August 1990 mit dem Überfall des Irak auf das benachbarte Kuweit der Krieg am Golf begann – und im Frühjahr 1991 die USA mit einer von ihr geführten internationalen Militärkoalition Kuweit »befreiten« –, wuchs der Containerverkehr auf der Schiene kaum. Nicht nur ich hatte darauf spekuliert, dass aus Sorge, der Suez-Kanal könnte wie schon 1967 nach dem sogenannten Sechstagekrieg Israels gegen seine arabischen Nachbarn für Jahre geschlossen werden, die europäischen Unternehmen den sicheren Weg über die Transsib bevorzugen würden. Nein, das Risiko eines Transits durch die zerfallende Sowjetunion schien ihnen ungleich größer als ein versperrter Suez-Kanal.

Meine Wettbewerber verließen den Markt. Die größeren orientierten sich auf andere Geschäftsfelder, die kleineren schlossen ihre Vertretungen in Peking.

China indessen wuchs und erholte sich stetig von der internationalen, richtiger: westlichen Ausgrenzung. Die Community der ausländischen Geschäftsleute, der Expats, nahm zu. Es tauchten immer mehr russische Geschäftsleute auf, darunter auffällig viele Frauen. Deren Betätigungsfeld war der »Russenmarkt« in Sanlitun, dem Diplomatenviertel im Zentrum Pekings. Sie kauften dort Textilien und Haushaltswaren billig ein und beförderten sie in großen Säcken in ihre Heimat. Das Geschäft schien gut zu laufen, denn der Markt erweiterte sich ständig, die Zahl der Händler wuchs von Woche zu Woche.

Das weckte meine Neugier. Ich verfügte über Container, hatte Kontakte zur chinesisch-sowjetischen Grenze, da sollte sich doch etwas arrangieren lassen. Allerdings war mir als Repräsentant einer ausländischen Firma nicht erlaubt, selbst aktiv zu werden. Meine Anfragen beim staatlichen Spediteur, meinem offiziellen Partner, schlugen fehl. Das chinesische Headoffice winkte ab. Dafür gebe es keine Bestimmungen, auch keine Lager- oder Sammelstellen. Ich verhandelte wochenlang ohne jeden Erfolg.

Meine Mitarbeiter führten in meinem Auftrag Gespräche mit lokalen Niederlassungen der staatlichen Spedition. Die Leute dort waren flexibler als die Behörde in der Hauptstadt. Sie hatten nicht nur Fantasie und Kreativität, sondern auch Lagerhäuser und das Bedürfnis, Geld zu verdienen. Das war ihnen inzwischen von der Zentralregierung gestattet worden, Peking erlaubte lokalen und regionalen Institutionen mehr Eigenständigkeit.

Diese Situation nutzte ich, ohne Kenntnis der Hintergründe, im vollem Maße aus. Damit aber verstieß ich gegen den Status meines Aufenthaltes. Denn die Freiheit, die den eigenen Institutionen im Rahmen der Reformen eingeräumt wurde, galt nicht automatisch auch für die ausländischen Unternehmen. Ich bekam richtig Ärger. Man drohte mir, die Repräsentanz zu schließen und mir das Aufenthaltsrecht zu entziehen.

Die für mich zuständige Behörde hielt mir vor, dass ich mit den Niederlassungen der mit uns kooperierenden Spedition in den Provinzen Hebei und Jiangsu einschließlich Shanghai Geschäfte gemacht habe, indem ich mit ihnen verschiedene Hersteller kontaktiert und Verabredungen getroffen hatte. Die Produzenten beluden die Container, die dann direkt in die Sowjetunion gingen. Und weil die Rechnungslegung via Zentrale in Deutschland aufwendig und langwierig war, legte ich selber Rechnung. Die Überweisungen erfolgten auf das Firmenkonto in Deutschland. Das ging über Monate gut, ich hatte sogar neue Mitarbeiter einstellen müssen. Meine deutsche Gesellschaft war erfreut über die gute Entwicklung der China-Niederlassung. Sie verdiente, obwohl keine Transporte nach Deutschland stattfanden.

Das allerdings missfiel den Chinesen. Der für mich zuständige Manager des Landbrücken-Departments lud mich im Auftrage des Generaldirektors zum Gespräch. Er forderte mich unmissverständlich auf, meine Aktivitäten zu beenden. Entweder würden künftig alle Transporte wieder, wie früher üblich, über die Zentrale abgewickelt werden, oder ich sollte das Geschäft an sie übergeben, also unseren Laden dichtmachen.

Die Ansage machte mir klar, dass die bis dato sehr unbewegliche Zentrale rasch gelernt und kapitalistischen Geschäftssinn entwickelt hatte.

Die Lage war eindeutig. Im gesamten Servicesektor einschließlich Transport und Spedition, insbesondere im grenzüberschreitenden Verkehr, gab es keine Genehmigungen für ausländische Firmen, operativ tätig zu werden. Und nichts deutete darauf hin, dass diese jemals erteilt werden würden. Die Volksrepublik China wollte die absolute Kontrolle über den grenzüberschreitenden Handel behalten. Das schloss auch die Transportabwicklung, also meine Tätigkeit, mit ein.

Theoretisch kannte ich diese Position. Ich hatte an der Hochschule für Verkehrswesen »Friedrich List« in Dresden studiert und im staatlichen Speditionsbetrieb Deutrans gearbeitet, der de facto ein Unternehmen des DDR-Außenhandels war. Da lief es nicht anders. Alles musste durch den Flaschenhals, Export und Import, über den der Staat wachte. Dafür gab es Gründe, vornehmlich den Schutz der eigenen Wirtschaft. Die Chinesen handelten nicht anders. Das entsprach natürlich nicht den Gesetzen der »freien Marktwirtschaft«, auch nicht den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO), die Mitte der neunziger Jahre gegründet werden sollte.

 

Der deutsche Nationalökonom Friedrich List hatte den beginnenden kapitalistischen Verdrängungswettbewerb durch den Freihandel im frühen 19. Jahrhundert studiert und leitete daraus den Schluss ab, den Nationalstaat durch den Schutz der nationalen Wirtschaft zu stärken, indem Schutzzölle erhoben würden. Damit, so meinte er, würden die Unterschiede bei der ökonomischen Entwicklung der einzelnen Staaten sukzessive überwunden werden, erst dann wäre ein gleichberechtigter Wettbewerb international möglich. Bis dahin müssten die Handelsbeschränkungen flexibel eingesetzt werden, um nicht den Transfer von Wissen – heute nennt man das Knowhow – zu verhindern. Eine Abschottung, lehrte List, würde Nachteile bei Produktionskosten und der Qualität der Erzeugnisse mit sich bringen, was aber nach Erreichen des internationalen Niveaus wieder ausgeglichen werden könnte.

Wenn man sich die Geschichte der heute führenden Industriestaaten anschaut, wird man feststellen, dass diese genau so handelten. England, wo im 18. Jahrhundert die Dampfmaschine erfunden worden war, untersagte die Ausfuhr. Preußen schickte »Spione«, um die »Feuermaschine« zu studieren und nachzubauen. Ende des 19. Jahrhunderts beschloss das englische Parlament, sich vor billigen und schlechten Waren aus dem Ausland, insbesondere aus Deutschland, mit der ­Bezeichnung des Herkunftslandes zu schützen. »Made in England« sollte dagegen ein Qualitätssiegel sein. Die Kennzeichnungsvorschrift wurde alsbald auch von anderen ­Staaten übernommen. (Im Zuge der Globalisierung erledigte sich bei sehr vielen Erzeugnissen eine nationale Kennzeichnung, denn die Herstellung etwa eines Autos erfolgt im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung an verschiedenen nationalen Produktionsstandorten auf mehreren Kontinenten.)

Nahezu gleichzeitig mit der Einführung der Kennzeichnungspflicht durch die Engländer führte Deutschland Schutz­zölle auf Stahlprodukte ein, um die nationale Eisen- und Stahlindustrie vor der ausländischen Konkurrenz zu schützen. Beispiele dieser Art lassen sich bis heute in der Wirtschaftspolitik finden. Diese Maßnahmen waren stets eingebettet in nationale Bemühungen zur Kontrolle der Landes­währungen …

Die Volksrepublik China handelte nunmehr ebenso, auch wenn es konkret mich persönlich traf. In der Tat war durch die Reformen der chinesische Speditionsmarkt nicht für das westliche Kapital geöffnet worden. Denn hätte man das getan, wäre der chinesische Transportmarkt sofort unter die Kontrolle der internationalen Speditionsunternehmen und Reedereien geraten, und der Staat hätte sie verloren.

Das galt auch für die Industrie. Diese war bei Beginn der Reformen absolut rückständig und bedurfte der proportionalen Entwicklung unter eigener Kontrolle. Das war nur möglich mit gelenkten Investitionen. Ebenso bedurfte es eines gezielten Zuwachses beim wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Ohne zentrale Steuerung funktionierte das nicht.

China hatte aus der Geschichte der anderen Staaten gelernt. Man wusste: Der Freihandel zwischen Partnern mit unterschiedlich entwickeltem technischen Niveau und daraus resultierenden Unterschieden bei der Produktivität wirkte sich immer zum Nachteil des rückständigeren Landes aus. Der Stärkere wurde stets reicher, der Schwächere unterlag. Das musste so lange verhindert werden, bis das technische Niveau und die Produktivität internationalen Maßstäben genügten.

Mein Wissen beschränkte sich damals auf die Lehren von Friedrich List, und ich trat die Flucht nach vorn an. Ich akzeptierte die Bedingung, nur noch mit der Zentrale zusammenzuarbeiten und damit mein eigenes Geschäft abzugeben. Gleichzeitig bereitete ich mich aber auf den Wettbewerb mit der staatlichen Spedition vor, die früher oder später konkurrenz­fähig sein würde. Bis dahin wollte ich mir den innovativen Vorsprung bei der Grenzabwicklung und der Containerbereitstellung erhalten und ausbauen. Dazu brauchte ich jedoch eine legale Möglichkeit, um offiziell operieren zu können. Ich brauchte ein Joint Venture außerhalb des Monopols der Staatsspedition.

Ein Vertreter einer deutschen Stahlhandelsgesellschaft, tätig in Zhuhai, einer Sonderwirtschaftszone im Süden Chinas, empfahl mir einen Partner in einer dieser Sonderzonen zu suchen. Die Privilegien der Unternehmen in diesen Zonen beschränkten sich zwar nur auf die Sonderwirtschaftszonen, aber es war davon auszugehen, dass sich nach und nach die Spielräume erweitern würden. In der Hafenstadt Tianjin, es war der nächstgelegene Hafen von Peking, war 1984 die Tianjin Economic and Technological Development Area (TEDA) gegründet worden, eine der fünf Sonderwirtschaftszonen, die als erste installiert worden waren. (Shenzhen in der Provinz Guangdong, Xiamen in Fujian, Pudong in Shanghai und auf der Insel Hainan waren die anderen.)

Ich fuhr also nach Tianjin und war entsetzt. Im Hafen erfolgte der Umschlag von Kohle – ungeschützt. Die gesamte Umgebung war schwarz. Selbst in den Restaurants bedeckte eine feine Staubschicht die Tische. Man atmete auch Kohlenstaub. Von Ansiedlungen in der Sonderwirtschaftszone war nichts zu entdecken. Ich sah einige ­abgetrennte Flächen, in denen offenkundig Salz aus Meerwasser gewonnen wurde.

Mein optimistischer Begleiter erklärte mir, dass diese Flächen trockengelegt werden würden, im kommenden Jahr gingen die dann dort errichteten Gewerbeeinrichtungen in Betrieb. Trotz meiner Zweifel blieb mir nichts anderes übrig, als daran zu glauben. Außerdem hatte ich grünes Licht aus Deutschland bekommen, mit den bisherigen »Russentransporten« war genügend Geld verdient worden, das ich als Gründungskapital für ein Joint Venture einsetzen konnte. Als erstes brauchte ich qualifizierte Mitarbeiter, die mich bei den Verhandlungen mit potentiellen Partnern sachkundig unterstützen konnten.

Soviel hatte ich inzwischen in China gelernt, dass unter »sachkundig« vor allem die Kenntnis der chinesischen Besonderheiten zu verstehen war. Mit dem Wissen, was mir von der deutschen Gesellschaft vermittelt worden war, konnte man vielleicht daheim, nicht aber hier landen.

Ausländische Repräsentanzen durften Mitarbeiter nur mit Hilfe der staatlichen Arbeitsorganisation FESCO einstellen. Mein Antrag war wohlwollend entgegengenommen worden. Danach stand mir ein Interview-Marathon bevor. Im Gegensatz zu heute gab es nur wenige Chinesen mit guten Englischkenntnissen sowie wirtschaftlichem oder/und juristischem Wissen. Ich entschied mich für eine junge Frau, die soeben aus den USA zurückgekehrt war, wo sie für die Weltbank gearbeitet hatte. Obwohl Frau Wei für meine Anforderungen weit überqualifiziert schien, akzeptierte sie das Angebot. Sie reize die Herausforderungen eines Joint Ventures auf dem Gebiet des Speditionsservice in einer Sonderzone, erklärte sie mir ihre Zusage.

Die Suche nach einem potentiellen Partner gestaltete sich schwerer als erwartet. Es bedurfte vieler Gespräche mit anderen »Expats« und mit lokalen Institutionen vor Ort im Hafen von Tianjin, in Tanggu. Ein Joint Venture auf dem Gebiet des Transportservice existierte bereits, es war ein Gemeinschaftsunternehmen zwischen einer großen holländischen Reederei und der TEDA selbst. Dieses Unternehmen war aber auf den chinesischen Transit in die Mongolei spezialisiert, also kein Konkurrent für uns.

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