Feindbild China

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Einmal war ich mit meiner späteren chinesischen Ehefrau im offenen Wagen – dem damals verbreiteten Army-Peking-Jeep – auf der Insel Hainan unterwegs. Abseits der Hauptstraße gab es fast nur schmale, unbefestigte Wege, die die Dörfer verbanden. In einer der Siedlungen musste ich vor einer Gruppe spielender Kinder stoppen. Sie blickten auf, sahen mich und liefen schreiend davon. Meine Begleiterin klärte mich sehr verlegen auf: Die Kinder hatten vermutlich noch nie eine »Langnase« gesehen.

Ähnliches wiederholte sich einige Wochen später. Ich besuchte die Familie eines Mitarbeiters. Oma und Opa aus einem Dorf in Südchina waren da, seine Frau und ihre Tochter, keine drei Jahre alt. Als sie mich erblickte, brach sie in panikartige Schreikrämpfe aus. Erst nachdem ich den Raum verlassen hatte, beruhigte sich das Kind. Mein Mitarbeiter entschuldigte sich und erklärte es damit, dass ihre Tochter die meiste Zeit bei ihren Großeltern lebe, die ihr Dorf nunmehr zum ersten Mal verlassen hätten. Sie seien liebenswerte, aber ungebildete Menschen und Analphabeten und hätten gelegentlich der Tochter gedroht, dass sie der »weiße Teufel« hole, wenn sie nicht artig sei. Und nun war dieser durch die Tür gekommen …

Ich tröstete ihn mit dem Hinweis, dass in Deutschland jahrhundertelang Kindern mit dem »Schwarzen Mann« gedroht worden sei.

Ausländer riefen bei den Chinesen allerdings nicht nur Schrecken, sondern auch Zuneigung hervor. Sie galten gemeinhin als kultiviert und höflich, insbesondere die ­Chinesinnen schätzten ihr gutes Benehmen. Die Regierung tat dies auch, weil sie das allgemeine Kulturniveau des ­ganzen Volkes heben wollte; sie förderte die Anerkennung der Ausländer, weil sie auf deren positives Beispiel setzte. Das war mit Privilegien verbunden, die ich durchaus schätzte. Wollten Ausländer einen Tempel, ein Museum oder eine Behörde besuchen, an deren Eingang eine Schlange stand, wurden sie vorbei geleitet, sie mussten nicht warten. Ausländer wurden auch in Restaurants bevorzugt bedient.

In den ersten Jahren meines Aufenthaltes erfuhr ich nie eine unhöfliche Behandlung oder gar Diskriminierung. Im Gegenteil. Stoppte mich die Verkehrspolizei wegen eines Verstoßes, wurde zwar meine Fahrerlaubnis kontrolliert, doch man wünschte mir eine »Gute Fahrt« und beließ es bei einem Lächeln. Nur einmal musste ich mich dem chinesischen Verkehrserziehungsprogramm unterwerfen. Weil ich irrtümlich in einer Einbahnstraße in der falschen Richtung unterwegs gewesen war, wurde ich zu einer Strafe verdonnert: Ich musste mit einer roten Armbinde einem Polizisten assistieren und Fußgänger an der Kreuzung bei Rot stoppen. Da ich aber als verkehrsregelnde Langnase für Aufsehen und Heiterkeit sorgte, dauerte meine Verkehrserziehung nur wenige Minuten, dann durfte ich die Armbinde abstreifen.

In den folgenden Jahren änderte sich alles sehr rasch. Es kamen immer mehr Ausländer, und nicht alle waren sehr fein. Es setzte Gewöhnung auf beiden Seiten ein. Heute unterscheiden die Chinesen kaum noch. Aber rassistische Entgleisungen gibt es weit weniger als in anderen Ländern.

Überall, auch in China, dreht sich alles ums Geld

Wie auf Kuba, das hatte ich bei früheren Reisen erfahren, gab es in der Volksrepublik eine spezielle Währung. Damit wollte man den Devisenverkehr besser kontrollieren und die nationale Währung schützen. Mit den Foreign Exchange Certificates (FEC) bezahlte man als Ausländer alle Geschäftskosten einschließlich der Ausgaben für Lebensmittel in den speziellen Friendship Stores. Die Freundschaftsläden erinnerten mich an die Intershops in der DDR, in denen mit Forum-Schecks gezahlt worden war. In allen für Ausländer zugelassenen Hotels und Bankfilialen konnte man D-Mark und US-Dollar gegen FEC tauschen oder diese retournieren. Die Ausfuhr der FEC war nicht erlaubt, aber auch sinnlos, da diese Währung außerhalb Chinas de facto wertlos war.

Auf diese Weise hatte die Bank of China in der Tat eine komplette Übersicht über den Import von Devisen beim Reise- und Geschäftsverkehr.

Da man mit dem FEC die objektiv begrenzten Zug- und Flugtickets bevorzugt kaufen konnte, waren besonders vor den chinesischen Reisefeiertagen zum Neujahrsfest im Februar, am 1. Mai und 1. Oktober die FEC auch bei Chinesen gefragt. Teure Geschenke wie importierte Genussmittel, Luxusartikel und Kosmetika, die es nur in den Freundschaftsläden gab, trieben die Nachfrage nach FEC auch in die Höhe. Um jedoch den illegalen Handel zu unterbinden, war der Umtausch außerhalb der zugelassenen Hotels und Bankfilialen streng verboten und wurde geahndet, wenn es publik wurde.

Der normale, staatlich sanktionierte Kurs lag bei 1 zu 1,6, bei inoffiziellem Tausch auf der Straße bei 1 zu 4.

Ich ließ mich auf den illegalen Umtausch nicht ein, da ich als in China akkreditierter Geschäftsmann nicht in Konflikt mit dem Staat geraten wollte. Außerdem steckte noch die DDR in mir: Was untersagt war, unterließ man. Man beschiss nicht den Staat, den man nicht als Gegner, sondern als den eigenen betrachtete. Dem griff man nicht in die Tasche.

Die Bedeutung und den hohen Wert des FEC lernte ich bei einer Begebenheit sogar schätzen. Als privilegierter Ausländer verbrachte ich die Freizeit oft mit meinesgleichen in Erholungszentren der Fünf-Sterne-Hotels. Ich war darum Mitglied des Fitness-Clubs im Shangrila Hotel geworden. Mindestens drei Mal in der Woche besuchte ich den Club nach der Bürozeit, um für den nächsten Marathonlauf zu trainieren. Eines Abends fand ich auf der Zufahrt zum Hotel ein Bündel FEC-Scheine im Wert von zehntausend Yuan, das waren umgerechnet mehr als sechstausend Dollar – damals in China ein Vermögen. Ich lieferte die Scheine beim Hotelmanagement ab – und wurde mitleidig belächelt. Nicht von den Chinesen, sondern von den ausländischen Managern, die mich für töricht hielten, als sie davon hörten.

Ich reiste unmittelbar danach dienstlich für etwa eine Woche in die Mongolei, fuhr nach der Rückkehr nicht gleich ins Büro, sondern suchte ein Restaurant auf, in dem man europäisch speisen konnte. Nach dem fetten mongolischen Hammelfleisch in unterschiedlichen Zuständen wollte ich mich mit einem guten Steak belohnen. Darum traf ich um einige Stunden später als angekündigt im Büro ein. Ich wurde dort aufgeregt von meinen Mitarbeitern begrüßt, seit Stunden werde ich von einem General und dessen Gefolge erwartet, sagten sie. Ich erschrak. Vor Jahresfrist war ich an der chinesisch-russischen Grenze beim Joggen verhaftet worden – kam da jetzt was nach?

Entschlossen betrat ich mit meiner Sekretärin mein Büro. Ein General mit Uniform und Orden saß in meinem Stuhl. Er sprang auf, umarmte mich, schüttelte meine Hand, redete und redete. Ich verstand nichts. Meine Sekretärin übersetzte: Er danke dafür, dass ich ihm, dem Militärkommandeur der Provinz Ningxia, den Kopf und den Dienstgrad gerettet habe. Das Ausländergeld, das ich gefunden und an der Rezeption abgegeben hatte, war ihm – vermutlich beim Aussteigen aus dem Auto – aus seiner Tasche gerutscht. Es war bestimmt zur Finanzierung eines Empfangs für eine ausländische Militärdelegation.

Der überglückliche General überreichte mir eine Messingtafel, »Dank dem edlen Goldfinder, der für Andere Opfer bringt«. Ich sei ein ausländischer Léi Fēng. (Das war ein selbstloser, bescheidener Soldat, der mit 21 Jahren von einem Telegrafenmast erschlagen worden war, als er einen LKW einwies. Als vorbildlicher Soldat wurde er postum zum Vorbild erklärt und 1963 eine landesweite Kampagne nach ihm benannt: »Vom Genossen Léi Fēng lernen.«)

Ich könne, wenn ich Hilfe benötige, immer auf ihn und die Volksbefreiungsarmee zählen, versicherte der General, als er sich hochgestimmt von mir verabschiedete.

Diese Begebenheit trug dazu bei, mich etwas mehr mit den Fragen der Währungswirtschaft Chinas zu beschäftigen.

Das koloniale Verhalten der Westmächte im 19. und 20. Jahrhundert hatte nachhaltige Spuren bei den Chinesen hinterlassen, darunter eben das verständliche Bemühen, nach dem von Deng 1978 eingeleiteten Kurswechsel die vollständige Hoheit über die eigene Währung zu erlangen.

In den ersten Jahren der Volksrepublik schien man die Abhängigkeit von fremden Währungen noch zu unterschätzen, es fehlten auch die Erfahrungen im Außenhandel. Man importierte zu viele Waren, was eine galoppierende Inflation verursachte. Erst mit den Reformen Ende der siebziger Jahre wurde die eigene Währung unter Kontrolle genommen und durch einen künstlich niedrig gehaltenen festen Wechselkurs stabilisiert. Gleichzeitig wurde die Ein- und Ausfuhr der Devisen mit der Einführung des FEC im Jahr 1980 reguliert.

Die chinesische Exportwirtschaft erlangte durch den niedrigen Umtauschkurs einen entscheidenden Vorteil, was ihr insbesondere vom Westen als Subvention und damit staatliche Protektion vorgeworfen wurde. (Was natürlich auch Heuchelei war: Die USA und die EU subventionierten selbst ganz gehörig ihre Exportgüter.) Die geringen Produktionskosten aufgrund niedriger Löhne zielten weniger auf die globale Konkurrenz, um diese mit Dumpingpreisen auszuschalten, sondern auf die eigene Volkswirtschaft. Diese sollte entwickelt werden. Was auch geschah. Deren Produktivität wuchs geradezu treibhausmäßig. Denn die kapitalistische Konkurrenz entdeckte China als Billiglohnland, die hochentwickelten Wirtschaften verlegten die Wertschöpfung immer mehr nach China, was die nationalen Industrien schrumpfen ließ, insbesondere in den USA. Dort setzte man nun auf den Dienstleistungssektor. Das führte zwangsläufig dazu, mehr und mehr Erzeugnisse in China zu kaufen, mehr, als man dorthin exportierte. Der jährliche Exportüberschuss Chinas – bei einem Handelsvolumen von etwa 600 Milliarden USD jährlich – wuchs Jahr um Jahr auf mehr als 200 Milliarden USD. Die Volksrepublik China hielt 2018 bereits ­US-Staatsanleihen in Höhe von 1100 Milliarden Dollar und war damit der größte Gläubiger der Vereinigten Staaten.

 

Die Wechselkurse wurden auf der Basis des anfänglich bestehenden Produktivitätsniveaus festgelegt. Dessen Anstieg hätte stetig durch die Zentralbank angepasst werden müssen, was aber unterblieb. Um im Inland Disparitäten zu vermeiden, wurden die Einkommen erhöht, was wiederum zu einer gewissen Inflation führte. Dem versuchte die chinesische Zentralbank entgegenzusteuern, indem sie Geld dem Markt entzog.

Das System der künstlich niedrig gehaltenen festen Wechselkurse widerspricht der traditionellen kapitalistischen Währungstheorie. Ihr zufolge müssten die Wechselkurse entsprechend dem Produktivitätsniveau regelmäßig angepasst werden. Länder mit niedrigerem Niveau sollen Kredite zur Erhöhung ihrer Produktivität aufnehmen, womit sie aber abhängig werden von Geldgebern wie etwa von der durch die USA beherrschten Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Dem verweigerten sich jedoch die chinesische Regierung und ihre Zentralbank.

China öffnete 2008 seine Währung für Handelspartner, die in China einkaufen wollten, so für Südkorea, Japan, vor allem aber für den Iran, über den die USA ein Ölembargo verhängt hatten. Der globale Ölhandel wird auf Dollar-Basis abgewickelt, daher Petrodollar. Aufgrund der westlichen Sanktionen gegen den Iran brachen dessen Exporterlöse weg. China half mit dieser Maßnahme.

Das Beispiel machte Schule. Vier Jahre später wurde der wechselseitige Außenhandel zwischen den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), der 42 Prozent des Welthandels ausmachte, weniger auf Dollar-Basis, sondern mehr in Landeswährungen abgewickelt, d.h. er wurde dem Einfluss des von den USA unverändert beherrschten internationalen Finanzmarkts entzogen. Und seit jenem Jahr verschärften sich die politischen Auseinandersetzungen der USA mit China und Russland. Das machte man an Personen fest. In Russland war Wladimir Putin zum Präsidenten gewählt worden, in China Xi Jinping zum Generalsekretär der Partei (im Jahr darauf auch zum Staatschef).

Die seinerzeitige Entscheidung der Volksrepublik China, ihre eigene Währung der Kontrolle durch andere Staaten zu entziehen und mit der nationalen Währung auch internationale Geschäfte zu tätigen, war und ist richtig. Denn dass die sogenannte Weltwährung Dollar als Waffe gegen missliebige Staaten eingesetzt wird, sahen wir in Kuba, in Venezuela, in Iran und in anderen Staaten. Und jene, die diesen halfen, wurden ebenfalls sanktioniert. Als 2008 die Finanzkrise, ausgehend von den USA, global wütete, wurde die Volksrepublik zwar nicht von ihr verschont, aber nicht so hart getroffen wie andere. Und mit dem von ihr eingeleiteten Struktur- und Investitionsprogramm verhinderte sie, dass die Weltwirtschaft in eine noch tiefere Krise geriet. Ähnliches beobachten wir aktuell bei der Pandemie und deren Folgen. Der Spiegel artikulierte die Hoffnung stellvertretend für den Westen auf dem Höhepunkt der zweiten Welle: »Die Weltwirtschaft lahmt. Die Volksrepublik zieht an. Zieht sie den Rest des Planeten mit?«

Die USA halten sich bei China mit Währungssanktionen einzig deshalb zurück, weil die Volksrepublik über eine gewaltige Menge an US-Staatsanleihen verfügt. Stellte sie diese fällig oder brächte sie alle auf einmal auf den Weltmarkt, würde vermutlich das Dollar-System und mit ihm die USA kollabieren. Allerdings würde dies auch die Volksrepublik China nachhaltig treffen. Im Prinzip gleicht die Situation dem atomaren Patt zwischen den USA und der Sowjetunion in der Zeit des Kalten Krieges. Die Möglichkeit der wechselseitigen Vernichtung sorgte damals für militärische Zurückhaltung und sicherte den Frieden. Jede Seite war sich bewusst: Drückte sie als Erste auf den Knopf, würde sie den Gegenschlag nicht überleben.

Wir sind Zeugen einer fortgesetzten »Entdollarisierung«, es findet ein Wechsel in andere Reservewährungen statt, zunehmend auch in den chinesischen Renminbi (RMB), der umgangssprachlich auch Yuan heißt.

Die Berliner Mauer, der Tiananmen und Mao

Als ich im Frühjahr 1990 als DDR-Bürger, angestellt bei einem westdeutschen Logistikunternehmen, nach China kam, lag der sogenannte Fall der Mauer kein halbes Jahr zurück. Der Prozess der Beendigung der deutschen Zweistaatlichkeit lief bereits, bei den Volkskammerwahlen im März hatten jene Parteien eine Mehrheit erhalten, die für eine schnelle Vereinigung standen. Die Chinesen interessierten sich spürbar für alles, was dort im fernen Europa augenblicklich geschah. Vor allem wurde beifällig registriert, dass es vergleichsweise friedlich und gesittet zuging. Es wurde gestritten, Millionen Menschen waren in Bewegung, aber es wurde nicht geknüppelt und geschossen. Kein Blut war geflossen. Welch hohes zivilisatorisches Niveau! Die vierzig Jahre sozialistischer Erziehung waren ganz offensichtlich erfolgreich gewesen, auch wenn die Entwicklung nicht unbedingt von vielen so gewollt war.

Die Neugier der Chinesen zeigte sich in Interviews und TV-Gesprächen mit in China lebenden Deutschen, vornehmlich mit Journalisten. Der Tenor glich dem, welcher die deutschen Medien daheim beherrschte: euphorisch und optimistisch.

Nestler, der Handelsrat der DDR-Botschaft in Peking, präsentierte im Landmark-Hotel vor Geschäftsleuten aus beiden deutschen Staaten seine Vorstellungen über eine künftige Kooperation der beiden deutschen Staaten und ihrer in China tätigen Abgesandten. Die Atmosphäre war ausgesprochen freundlich. Niemand sprach von einer Vereinigung, gar von einem Beitritt der DDR zur BRD. Alle, mit denen ich mich austauschte, erwarteten ein langsames Zusammenwachsen. Gleichwohl stand ich vor dem Problem, von welcher deutschen Botschaft ich mich künftig vertreten lassen wollte? Ich besaß einen DDR-Pass, aber einen westdeutschen Arbeitsvertrag … Ich hielt zur Botschaft der DDR, so lange sie mein Land noch vertrat.

Die Diskussionen mit den chinesischen Partnern waren durchweg von Verständnis und freudigem Mitgefühl gekennzeichnet. Deutschland gehöre zusammen, meinten sie. Die Trennung sei durch einen Krieg erfolgt, die ausländischen Mächte hätten die Teilung veranlasst. Das habe nicht dem Willen des deutschen Volkes entsprochen. Eine friedliche Vereinigung habe darum höchste Priorität.

Nun, ganz so einfach war das doch nicht, aber aus der Distanz und frei von politischem und rationalem Denken, wie man es auf dem Kontinent der Aufklärung pflegte, konnte man das so sehen. Erst mit der Zeit wurde mir bewusst, dass die Chinesen zwar über Deutschland sprachen, aber China meinten. Die Besetzung Hongkongs und Macaos von fremden Mächten und die Abtrennung Taiwans infolge des Bürgerkriegs empfanden sie als eine widernatürliche Entwicklung, die revidiert werden musste. Das war alles China und gehörte nicht von Briten, Portugiesen und Amerikanern beherrscht.

Nach dem 3. Oktober 1990 änderte sich merklich die Stimmung. Wie konnte ein erfolgreiches sozialistisches Land wie die DDR sich aufgeben, fragten Chinesen plötzlich. Zwar blieb es beim Verständnis für die Wiedervereinigung, aber dass sie unter diesen Bedingungen erfolgte, verstanden sie nicht. Deutschland war das Land von Marx und Engels. Wenn Deutschland – womit man die DDR meinte – seine Ideale aufgebe, wie solle dann China seinen Weg weiter erfolgreich gehen? Ich weiß nicht, ob meine Erklärungsversuche überzeugten. Als im Dezember 1991 die UdSSR ebenfalls die Segel strich, glaubten auch die Chinesen, dass es wohl am sowjetischen Staats- und Wirtschaftssystem gelegen haben musste, dem auch die DDR gefolgt war. Es lag also offenkundig nicht an der Idee, sondern am Moskauer Modell. Das hatte ja auch Mao schon kritisch gesehen und darum eine chinesische Kopie abgelehnt.

Im Kontext des Untergangs des Realsozialismus in Europa wurden auch wieder die Vorgänge um den 4. Juni 1989 auf und um den Platz des Himmlischen Friedens diskutiert. Vielleicht lag es daran, dass es in meinem chinesischen Bekanntenkreis keine Oppositionellen gab, zumindest äußerte sich mir gegenüber keiner systemkritisch. Aber selbst Teilnehmer der Proteste auf dem Tiananmen tendierten zu der Auffassung, dass jegliche Unruhen und Auseinandersetzungen vermieden werden müssten, die zu einer Desintegration, vergleichbar der in der Sowjetunion, führen könnten. In China, einem Zentralstaat, lebten mehr als ein halbes Hundert Ethnien mit unterschiedlichen Kulturen und Ansprüchen. Sie sollten friedlich unter einem gemeinsamen Dach glücklich werden. Und das ging nur mit- und nicht gegeneinander, in Harmonie und ohne hegemoniale Ansprüche. Das schien Konsens und eine der Schlussfolgerungen zu sein, die man aus dem Untergang der Sowjetunion und des von ihr geführten Bündnisses zog.

Mao Zedong habe sich beizeiten aus der Moskauer Vormundschaft gelöst, konstatierten meine chinesischen Partner. Und Deng Xiaoping habe mit seinen Reformen für Wachstum, Stabilität und Souveränität gesorgt. Unruhen in China würden zu noch größeren Problemen führen als in der Sowjetunion, es fiel das Wort vom Bürgerkrieg. Ich meinte, dass das Schicksal der Sowjetunion auf die Chinesen beruhigend wirkte insofern, als die Unzufriedenheit und der weit verbreitete Unmut über die von den Reformen verursachten Preissteigerungen, die wachsenden Wohlstandsunterschiede zwischen Küsten- und Inlandregionen, die Zunahme der ­Arbeitslosigkeit usw. schwanden. Im Interesse der Stabilität des Landes wurde dies alles akzeptiert und hingenommen. Bei den Protesten war es immer um soziale Ungleichheit und die Folgen der wirtschaftlichen Umstrukturierung gegangen. Nur eine intellektuelle Minderheit hatte mehr demokratische und individuelle Freiheiten gefordert. Sie sind bis heute nicht einmal eine marginale Strömung in der chinesischen Gesellschaft, auch wenn sie im Westen aufgewertet und in den Medien als eine Massenerscheinung dargestellt werden. Etwa neunzig Prozent der Chinesen stehen hinter der Führung, wie selbst anonyme Untersuchungen ergaben.

In den ersten Monaten nach meiner Ankunft erfuhr ich mehr und vor allem Authentisches über das sogenannte Tiananmen Square Massaker. Ich traf zwei Studenten, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens gezeltet hatten, sprach mit Anwohnern und hörte auch, was mein Vorgänger beobachtet hatte.

Während der achtziger Jahre erfolgte die Umsetzung der im Dezember 1978 von Deng Xiaoping vorgeschlagenen Reformen in der Wirtschaft und der Gesellschaft. Die Öffnung des Landes für Kapital aus dem Westen hatte zu einer schnellen Abwertung der Währung und zu einem Anstieg der Lebenshaltungskosten geführt. Das führte verständlicherweise zu Unzufriedenheit, mancherorts kam es sogar zu Arbeitsniederlegungen. Es gärte im Lande. An den Universitäten verlangten Studenten, dass es neben der wirtschaftlichen Öffnung auch eine politische geben müsse, ohne dass sie erklären konnten, was sie darunter verstanden. Das war alles reichlich nebulös. Dennoch entwickelten sich aus kleinen lokalen Demonstrationen und Veranstaltungen in mehreren Wochen eine Bewegung. Im Mai, im schönsten Monat in Peking, zogen einige Studenten mit Decken und Büchern auf den Tiananmen. Aus Neugier gesellten sich viele Jugendliche hinzu, andere Hauptstädter versorgten die jungen Leute. Wochenlang ließ die Parteiführung sie gewähren. Warum sollten sie nicht ihre Unzufriedenheit über die ­Veränderungen im Lande zeigen? Aber irgendwann war Schluss, die Nachsicht hatte sich erschöpft. Keine Staatsführung auf der Welt nimmt es hin, wenn ein zentraler Ort in der Hauptstadt anderthalb Monate blockiert und für Unmutsbekundungen genutzt wird.

An den Platz grenzten das Eingangsportal zur Verbotenen Stadt, von dem aus 1949 der Staatsgründer Mao Zedong die Volksrepublik proklamiert hatte. Am gegenüberliegenden Ende befand sich dessen Mausoleum. Auf der rechten Seite erhob sich die Große Halle des Volkes, und auf der vierten Seite das Chinesische Nationalmuseum. Inmitten des Platzes ragte das Monument für die gefallenen Volkshelden, an denen Staatsgäste ihre Kränze niederlegten. Am 15. Mai war Gorbatschow in Peking – dieser Programmpunkt musste gestrichen werden, und in die Große Halle, wo er die politischen Gespräche führen wollte, gelangte er nur durch den Hintereingang.

Vertreter von Staat und Partei sprachen mit den Studenten, um ihre Motive zu erfahren, Lösungen zu suchen und nicht zuletzt um sie zum Abzug zu bewegen. Die Gespräche führten zu keinem Resultat und wurden abgebrochen. Also entschloss sich die Führung, auf andere Weise Ruhe und Ordnung herzustellen – sie beorderte zunächst unbewaffnete Militäreinheiten ins Zentrum. Dabei handelte es sich, was nicht bedacht worden war, mehrheitlich um 18-jährige Soldaten, die keinerlei Erfahrungen und Ausrüstungen für einen solchen Einsatz hatten. Als auf dem Weg ins Stadtzentrum die Militärfahrzeuge angegriffen wurden und es unter den Soldaten Todesopfer gab, rückten am Abend bewaffnete Einheiten durch die mit Protestierenden und Neugierigen verstopften Seitenstraßen vor und forderten die Studenten auf, den Platz zu verlassen. Einige kamen dieser Aufforderung nach. Viele blieben.

 

Die Berichte darüber, was auf dem Tiananmen und auf den Straßen um den Platz dann passierte, sind sehr widersprüchlich, aber als sicher kann gelten, dass es keinen von der Staats- und Parteiführung angeordneten Einsatz von Waffengewalt gab. Die Situation eskalierte offensichtlich dadurch, dass die gereizte Stimmung von Kräften, die der Regierung feindlich gegenüberstanden, absichtsvoll forciert wurde.

Unweit des Platzes befand sich das Hotel »Peking«, das Hotel für Ausländer, von dessen Dach ein Teil des Platzes überblickt werden konnte. Dort und an den Fenstern standen die Bildreporter aus der ganzen Welt und verfolgten das Geschehen. Es gibt nach meiner Kenntnis nicht ein Foto, das Panzer zeigt, die Menschen überrollten. Es existieren vom 5. Juni Aufnahmen von gepanzerten Fahrzeugen auf der Chang’an und eines unbekannten Mannes, den später die Weltpresse »Tank Man« nannte. Mit einer Plastiktüte und der Jacke in der Hand baute er sich vor einem auf dem Boulevard Chang’an heranrollenden Panzer auf. Der versuchte auszuweichen, der Mann im weißen Hemd folgte ihm, sprang vor den Ketten hin und her. Dann stoppte der Panzer, Passanten überredeten den »Tank Man«, die Straße zu verlassen, was er auch tat.

Man kennt den Fotografen Jeff Widener, der damit eines »der wichtigsten Fotos aller Zeiten« (Times) geschossen hat. Er trug den Film in die US-Botschaft, die übermittelte es an die Nachrichtenagentur Associated Press (AP), und die verbreitete es von New York in alle Welt. »Am nächsten Morgen traute Widener seinen Augen kaum: Dutzende Zeitungen weltweit hatten sein Foto auf dem Titel«, schrieb am 4. Juni 2019 die Tagesschau auf ihrer Homepage.

Hingegen verbreiteten westliche Nachrichtenagenturen nicht die Bilder von den verbrannten chinesischen Soldaten, wie The Japan Times ein Vierteljahrhundert später berichtete (www.japantimes.co.jp; What really happend at Tiananmen). Dort hieß es auch, dass nicht die Soldaten, die in Bussen heran­geführt worden waren, das Feuer eröffnet hätten, wie immer behauptet, sondern dass die Busse angegriffen wurden. Dutzende Soldaten seien darin verbrannt, und erst danach sei geschossen worden. Der Autor Gregory Clark, ein ehemaliger australischer Diplomat, schrieb, er hätte, wenn er ein chinesischer Student oder Bürger gewesen wäre, garantiert mitprotestiert. Aber er bezweifle die Darstellung der Zusammenstöße. »Kein einziger westlicher Reporter in ­Peking scheint sich in jener Nacht die Mühe gemacht zu haben zu überpüfen, was tatsächlich passiert ist. Vermutlich fanden sie mit ihren Geschichten von Blut und Gewalt ein größeres Publikum.«

Und Clark argumentierte logisch: »Warum sollte das Regime unter Deng Xiaoping, das Reformen in so vielen Bereichen der chinesischen Gesellschaft anstrebte, so grausam harmlose Studenten angreifen wollen, die traditionell die Reformbewegungen in China angeführt haben?«

Wenn man der Führung etwas vorwerfen könne, dann allenfalls, dass sie versäumt habe, ihre Streitkräfte für eine solche Maßnahme vorbereitet und ausgerüstet zu haben. Es entbehre nicht einer gewissen Ironie, so Clark in der Japan Times, dass Großbritannien die Lieferung solcher Ausrüstung verweigert hatte, nachdem die Chinesen ihr Versäumnis erkannten und nachrüsten wollten. Die Ablehnung wurde damit begründet, das diese Ausrüstung unter das westliche Waffenembargo falle …

Am Platz des Himmlischen Friedens, am Eingangstor zum Kaiserpalast, hängt unter dem Staatswappen das Porträt von Mao Zedong. Die hohe Achtung, die ihm von der chinesischen Bevölkerung unverändert entgegengebracht wurde, beschäftigte mich sehr. Aufgewachsen in der DDR, hatte ich in der Schule gelernt, dass Mao China befreit habe, dann aber dem Personenkult erlegen, der Sowjetunion in den Rücken gefallen sei und sich den in Vietnam kriegführenden USA angedient habe. Wir kannten Fotos mit eifernden Jugendlichen, den Roten Garden, die ein kleines Büchlein in den Himmel reckten, das »Rote Buch« mit den Losungen des Großen Vorsitzenden.

Aus der 68er Studenten-Bewegung im Westen glaubte ich einige Grundsätze des Maoismus erfahren zu haben, etwa die kollektive Kindererziehung, die Absage an traditionelle, feudale Denkweisen und Verhaltensmuster, die Verurteilung der bürgerlichen Ideologie und dergleichen. Das passte eigentlich auch in mein Weltbild. In der Vorbereitung auf meinen Job in China studierte ich Bücher und Medien, die die westliche Sicht auf Mao zeigten: Mao sei ein brutaler Diktator gewesen, vergleichbar mit Hitler und viel schlimmer als Stalin. Da mischten sich antikommunistische Vorurteile mit rassistischen Denkmustern. Der Chinese sei von Natur aus grausam und rücksichtslos bei der Durchsetzung von Interessen, besonders sichtbar in der Person von Mao, der seit 1943 an der Spitze der Kommunistischen Partei gestanden habe. Millionen Menschen seien seinem Ehrgeiz zum Opfer gefallen, mit einem »Großen Sprung« und schließlich mit einer »Kulturrevolution« eine kommunistische Diktatur zu errichten. Nach seinem Tode 1976 hätten seine Nachfolger versucht, die schlimmsten Auswüchse zu korrigieren, ohne jedoch einen radikalen Bruch vorzunehmen, wie man ja am 4. Juni 1989 erleben konnte. So die gängige Lesart.

Als ich nach meiner Ankunft in Peking auf dem Airport ins Taxi stieg, entdeckte ich eine am Rückspiegel hängende Mao-Plakette. Später sah ich sie in fast allen Taxis. Und in der Stadt begegneten mir einige überlebensgroße Statuen des Staatsgründers, am Tor zur Verbotenen Stadt hing sein Porträt. Wie das? Wie konnte man einen angeblichen Massenmörder derart viel Zuneigung entgegenbringen?

Ich fing an, mich vorsichtig zu erkundigen. Als ersten fragte ich meinen Mitarbeiter, Herrn Yin. Er verstand meine Frage nicht. Wieso solle Mao ein schlechter Staatsmann, gar ein Mörder sein? Wie käme ich dazu, so etwas zu behaupten?

»Er hat Hungersnöte verschuldet, es sind Millionen Menschen durch seine Politik gestorben.« Ich zählte auf, was man über ihn alles in Europa verbreitete.

Yins Reaktion war heftig. Das sei Unsinn. Die Geschichte Chinas reiche über fünftausend Jahre zurück, es habe immer Not geherrscht, doch inzwischen sterbe niemand mehr in China vor Hunger. Natürlich habe es auch nach Gründung der Volksrepublik immer wieder Hunger- und Naturkatastrophen gegeben, aber für die könne man weder eine einzelne Personen noch eine Partei verantwortlich machen. Tatsache sei, dass eine der ersten Maßnahmen nach Gründung der Volksrepublik die Bodenreform war. Etwa 120 Millionen Bauern hätten Land zum Bewirtschaften erhalten. Die letzte große Hungerkatastrophe aufgrund einer jahrelangen Dürre begann 1943 – da kämpfte die Volksbefreiungsarmee unter Mao gegen die japanischen Okkupanten. Dieser Krieg, das stünde vermutlich nicht in den deutschen Geschichtsbüchern, hat vermutlich bis zu fünfunddreißig Millionen Chinesen das Leben gekostet.

Yin redete sich in Rage.

»Mao hat es geschafft, das chinesische Volk zu vereinen! Das kostete Opfer.«