Das Proust-ABC

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Birne


Louis-Philippe, Karikatur von Honoré Daumier (1831) (metmuseum.org / CC0 1.0 Universal)

Frucht absolutistischer Herrschaft mit Neigung zum Sadismus. Die Beziehung mit dem Violinisten Morel ist für Charlus zunächst von Macht- und Besitzgelüsten geprägt, später von Unterwerfung und Selbstaufgabe. Morel bedient die sadistischen Gelüste des Barons, die auch seinen eigenen Neigungen entsprechen, um von dessen gesellschaftlichen Kontakten zur Aristokratie zu profitieren. Bei einem gemeinsamen Abendessen in einem feinen Restaurant kommt es zu einer dieser »Art schwarzer Messen, bei denen er sich darin gefiel, noch die heiligsten Dinge zu besudeln«: Morel entwirft den Plan, ein hübsches Mädchen zu deflorieren und noch am gleichen Abend sitzenzulassen; der Baron empfindet bei dieser Vorstellung höchste Lust, steigt aber aus der sadistischen Phantasie aus, als Morel die Tochter Jupiens als Opfer vorschlägt: »Danach waren seine Sinne für einige Zeit entspannt, und der Sadist (und dieser war wirklich ein Medium), der sich für einige Augenblicke an die Stelle von Monsieur de Charlus gesetzt hatte, war geflohen und hatte das Wort an den wahren Monsieur de Charlus zurückgegeben, den voller künstlerischer Verfeinerung, Sensibilität und Güte.«

Man darf den versöhnlichen Worten des Erzählers hier nicht uneingeschränkt glauben, denn die folgenden kunst- und kultursinnigen Ausführungen des Barons setzen das sadistische Spiel lediglich unter dem Deckmantel der »Verfeinerung« fort. Mit Belehrungen zu Rosensorten und Kritik an Morels musikalischen Auftritten demütigt der künstlerische Dilettant Charlus den im aristokratischen Milieu unsicheren Morel durch die fortwährende Zurschaustellung höfischer Kultur; die Szene gipfelt in einem bizarren Birnendialog zwischen Charlus, Morel und dem Kellner: »[…] denn Monsieur de Charlus sagte gebieterisch zu ihm: ›Fragen Sie den Oberkellner, ob er Gute Christen dahat.‹ – ›Gute Christen? Ich verstehe nicht recht.‹ – ›Sie sehen doch wohl, dass wir beim Obst angekommen sind. Es ist eine Birne. Seien Sie versichert, dass Madame de Cambremer welche hat, denn die Gräfin von Escarbagnas, und eine solche ist sie nun einmal, hatte welche. Monsieur Thibaudier schickt sie ihr, und sie sagt: ‚Hier haben wir einen Guten Christen, der obendrein sehr schön ist.‘‹ – ›Nein, das wusste ich nicht.‹ – ›Ich stelle darüber hinaus fest, dass Sie gar nichts wissen. Wenn Sie nicht einmal Molière gelesen haben … Nun gut, da Sie vom Bestellen kaum mehr verstehen dürften als von allem anderen, verlangen Sie ganz einfach eine Birne, die gerade hier in der Gegend geerntet wird, die Gute Luise von Avranches.‹ – ›Die …?‹ – ›Warten Sie, da Sie so ungeschickt sind, werde ich selbst nach anderen fragen, die ich lieber mag: Oberkellner, haben Sie die Doyenné des Comices? Charlie, Sie sollten die hinreißende Passage lesen, die die Herzogin Émilie de Clermont-Tonnerre über diese Birne geschrieben hat.‹ – ›Nein, mein Herr, die haben wir nicht.‹ – ›Haben Sie die Triomphe de Jodoigne?‹ – ›Nein, mein Herr.‹ – ›Oder Virginie-Dallet? Passe-Colmar? Nein? Na gut, da Sie nichts haben, gehen wir eben. Die Herzogin von Angoulême ist noch nicht reif; also los, Charlie, wir gehen.‹«

Die Aufzählung historischer Birnensorten entspringt nicht nur der Wortgewalt und Sprachlust des Barons – er stellt in dieser Szene sein ganzes aristokratisches Erbe aus, die edlen ►Namen der Birnen ersetzen ihm die Aufzählung von Adelsgeschlechtern, deren ►Genealogien ihm ebenso vertraut sind wie die natürlichen Reifezeiten der Früchte. Zusätzlich leitet er dieses Wissen her aus seiner intimen Kenntnis klassisch höfischer Literatur – mit seinem Zitat einer Birnenszene bei Molière schüchtert er Morel und den Kellner weiter ein, bevor er nach vollem Auskosten seiner sozialen wie kulturellen Überlegenheit den Abgang befiehlt. Prousts eigene, unverkennbar lustvolle Inszenierung dämpft allerdings den Triumph des Barons. Scheinen dessen Auftritte häufig dem klassischen Theater entlehnt – erinnern zum Beispiel seine rasenden Wutanfälle an Szenen vernichtender Leidenschaft aus Racines Phädra –, so gestaltet Proust den Birnenauftritt des Barons wie eine Szene aus einer Komödie Molières: Im hemmungslosen Ausleben seines aristokratischen Dünkels, in seiner Selbstberauschung an der Pracht adeliger Namen wird Charlus zu einer so tyrannischen wie komischen, seiner Adelsobsession und seinem Kulturfetischismus blind verfallenen Figur, die sich in ihrer verbalen Entgleisung vor einem ›vernünftigen‹ Publikum (Morel, der Kellner, der Leser) selbst bloßstellt. Der triumphale Abtritt von der Bühne bereitet insofern schon die Verstoßung des lächerlichen Charakters (dem dennoch die Sympathie des Erzählers gehört) im letzten Akt des Romans vor.

Nicht nur die Anspielung auf Molière setzt die Szene in einen absolutistischen Rahmen: Die erstgenannte »Gute Christen« (»Bon Chrétien«) war die Lieblingsbirne von Louis XIV, der sie in Versailles anbauen ließ; der »Bürgerkönig« Louis-Philippe wurde später von Honoré Daumier als Birne karikiert – zu Prousts Zeiten war »poire« als Bezeichnung für einen einfältigen Menschen gebräuchlich. In der Geschlechtersymbolik assoziiert die sich nach oben verjüngende Birne einen effeminierten, kraftlosen Körper, der in umso schärferem Kontrast zur absoluten Macht des höfischen Geistes steht, die Charlus hier beansprucht. Wie jener Szene, in welcher Marcel den ►Hut des Barons zerstört, liegt auch dieser ein minimales biographisches Ereignis zugrunde: Proust schildert, dass Robert de Montesquiou selbst bei einer Birnenbestellung seine literarischen Anspielungen nicht lassen konnte, und schreibt ihm das Molière-Zitat zu. Proust aß sehr gerne Birnen, die Céleste ►Albaret bei den besten Restaurants und Händlern von Paris für ihn beschaffte.

Bloch, Albert

Freund und zugleich Lieblingsfeind des Erzählers, den er mit seinen schlechten Manieren, seiner Aufdringlichkeit und seiner Verlogenheit ständig provoziert. Zunächst lässt sich der junge Marcel von der Belesenheit und Welterfahrenheit des älteren Bloch beeindrucken – Bloch führt ihn in die Welt der Literatur ein, indem er ihm Bergotte zu lesen gibt, und in die Welt der Sinne, indem er ihn in ein Bordell mitnimmt –, später aber stört sich der Erzähler zunehmend an Blochs ►Snobismus und seinem politischen Opportunismus, der ihn in Balbec antisemitische Reden schwingen lässt, während er in der Pariser Gesellschaft für Dreyfus Partei ergreift. Auch Blochs literarische Erfolge, die er sich während des Krieges als Theaterautor erwirbt, haben ihr negatives Gegenstück in seinem Neid, der ihn die Erfolge Marcels nie anerkennen lässt. Obwohl Bloch alle Untugenden dieser Welt auf sich zu vereinen scheint, bleibt der ►Erzähler sein Freund, sucht trotz oder vielleicht wegen der ständigen Provokationen immer wieder seine Nähe und zeigt sich sogar betrübt, als die Freundschaft aufgrund eines Missverständnisses (an dem Albertine schuld ist) in Gefahr gerät.

Ein Schlüssel für diese merkwürdige ständige Anziehung und Abstoßung liegt in einem der frühesten Auftritte Blochs, als dieser bei Marcels Familie eingeladen ist und mit seinem durchaus originellen, aber auch unverschämten Verhalten alle vor den Kopf stößt: Auf die Frage des Vaters, wie das Wetter sei, antwortet er: »Ich lebe so entschieden jenseits der physikalischen Zufälligkeiten, dass meine Sinne sich nicht die Mühe machen, mich zu benachrichtigen«; die Großmutter hält ihn für manieriert, weil er auf ihre Bemerkung, sie fühle sich nicht wohl, ein Schluchzen unterdrückt, und die Eltern setzen ihn bei einem zweiten Besuch vor die Tür, weil er behauptet, die Großtante der Familie habe eine stürmische Jugend hinter sich – eine Annahme, die nach Marcels eigener Einschätzung durchaus berechtigt ist. Unabhängig von der moralischen Bewertung seiner Handlungen wird klar, welche Rolle Bloch hier für Marcel spielt: Er ist sein böses Alter Ego, der ungehorsame Sohn, der Vater und Mutter nicht achtet, die Familie verleumdet und verleugnet, hysterischen Anfällen ungehemmt ihren Lauf lässt und die höfliche Konversation über das Wetter verweigert – alles Dinge, die der gute Sohn Marcel nicht darf und auch nicht tut. Dies ist die Quelle der geheimen Anziehungskraft, die Bloch so beständig auf Marcel ausübt: Er tut das offen, was Marcel verdrängt; er tut stellvertretend das, was Marcel missbilligt, aber heimlich auch begehrt. Trotz der vernichtenden Urteile über seinen Charakter lässt Bloch den Erzähler öfter an den moralischen und ästhetischen Maßstäben seiner eigenen Erziehung zweifeln, ja lässt ihn manchmal sogar vermuten, der frivole Bloch könne der Welt von Kunst und Genialität näher sein als die von Mutter und Großmutter bewunderten Vorbilder: »Als wir nach dem Essen wieder oben waren, sagte ich zu meiner Großmutter, dass jene Eigenschaften der Madame de Villeparisis, die uns so sehr an ihr gefielen, ihr Takt und ihr Scharfsinn, ihre Diskretion und vornehme Zurückhaltung, vielleicht gar nicht so wertvoll waren, dass diejenigen, die sie in besonders hohem Maße besaßen, nur Persönlichkeiten wie Molé oder Loménie waren, und dass ihr Fehlen, selbst wenn es den alltäglichen Umgang unangenehm machte, einen Chateaubriand, Vigny, Hugo, Balzac nicht daran gehindert habe, zu werden, was sie waren, eitle Menschen ohne Urteilsvermögen, worüber sich leicht spotten ließ, wie Bloch … Aber beim Namen Bloch erhob meine Großmutter Einspruch. Sie pries Madame de Villeparisis.« Allein durch die Erwähnung von Blochs Namen kann der Erzähler hier seine Großmutter und das von ihr vertretene vornehm-feinsinnige Mittelmaß provozieren, ihn selbst inspiriert Bloch zu dem Gedanken, dass ►Kunst und Moral eben nichts miteinander zu tun haben – ein Befund, der sich wiederum bestätigt, wenn Proust dem »neuen Autor«, den der Erzähler so bewundert, die unsympathischen Züge Blochs verleiht.

 

Nicht nur das moralisch-ästhetische Weltbild des braven Marcel bringt Bloch ins Wanken, er überführt ihn all jener Laster, von denen Marcel nur Bloch befallen glaubt. Scharfsichtig entlarvt er die Vorliebe Marcels (und der Großmutter) für aristokratischen Umgang, und auf die direkte Frage Blochs, ob er ein Snob sei, muss sich Marcel nach langer Verteidigungsrede eingestehen, dass sein eigenes Verhalten, selbst wenn es ihm nicht snobistisch erscheint, nach außen hin das gleiche ist wie Blochs. Auch später, als ihre Freundschaft zerbricht, mag man als Leser den Beteuerungen Marcels Glauben schenken, er habe Blochs Vater nur wegen Albertine nicht gegrüßt – aber schließlich hat jede andere snobistische Figur des Romans immer gute Gründe für ihren ►Snobismus. Wie man es wendet, jeder Kontakt mit Bloch bringt die dunklen Seiten des Erzählers zum Vorschein. Und nicht genug damit, dass Bloch Marcels guter Erziehung und Moral einen provokanten Zerrspiegel vorhält, auf einer höheren Ebene parodiert Blochs Sprache auch den Erzählstil des Romans. Als er seine erste Begegnung mit Charlus schildert, brüskiert er damit nicht nur dessen Neffen ►Saint-Loup – er wiederholt auch in einer vulgären und spöttischen Tonart genau jenen Bericht, den uns der Erzähler kurz zuvor von seinem ersten Zusammentreffen mit dem Baron gegeben hat. Da Bloch sich in seiner Parodie die Pose eines Schriftstellers gibt, wird noch deutlicher, dass es sich hier um die Karikatur einer literarischen Beschreibung handelt: »›[…] er hat außerordentlichen Schick und eine unbezahlbar bescheuerte Visage von der allerfeinsten Provenienz.‹ – ›Da täuschen Sie sich gänzlich, er ist höchst intelligent‹, gab Saint-Loup erzürnt zurück. – ›Schade, dann ist er weniger vollkommen. Ich würde ihn übrigens gern kennenlernen, denn ich bin sicher, ich würde recht treffende Stücke über solche Leutchen schreiben wie den. Ihn nur vorbeigehen zu sehen ist schon zum Totlachen. Aber in dieser Fratze, die mich, Sie müssen entschuldigen, zuerst einfach umgehauen hat, würde ich die karikaturistische Seite, die ja im Grunde für einen Künstler, der sich der plastischen Schönheit der Sätze verpflichtet fühlt, etwas Verächtliches ist, zurücktreten lassen und mehr die aristokratische Seite Ihres Onkels herausarbeiten, die alles in allem eine bombige Wirkung ergibt und, wenn der erste Lachanfall vorbei ist, durch ihren großartigen Stil besticht.« Und wenn Marcel und Saint-Loup sich noch so entrüsten – dies ist eine saloppe Version von Marcels eigener Beschreibung, in deren Verlauf er Charlus zunächst als einen Verrückten, dann als einen Verbrecher und zuletzt als einen edlen Aristokraten sieht. Auf ähnlich unverschämte und erfrischende Weise wie Albertine bei ihrer Eisbeschreibung mokiert sich Bloch hier über das ausgeprägte Stilbewusstsein des Erzählers. Trotz seiner eher seltenen Auftritte wird Bloch damit zu einer der wichtigsten Figuren im Roman: Als böses Alter Ego und ›agent provocateur‹ verunsichert er immer wieder den Erzähler, hält dessen Selbstreflexion in Gang und sorgt für die sprachlichen Registerwechsel, die Proust so wichtig sind. Sein den Erzähler in gleichem Maße irritierendes und entlarvendes Benehmen gründet dabei nicht zuletzt in den Zwängen zur Anpassung und Selbstverleugnung, denen der ►Antisemitismus die Familie Bloch unterwirft – am Ende des Romans wird Bloch zur Figur einer identitätsvernichtenden Assimilation.

Botanik

Proust besaß eine ganze botanische Bibliothek und kannte sich bestens auf diesem Gebiet aus. Es unterlaufen ihm keine Fehler, was Blütezeit, Befruchtung, Farben und Formen der im Roman beschriebenen Pflanzen angeht. Swann, der in Combray mit der Herzogin von Guermantes botanische Spaziergänge unternimmt, ist auch in dieser Hinsicht ein Abbild Prousts. Das Combray von Marcels Kindheit erscheint als ein Blütenmeer wildwachsender Pflanzen wie ►Weißdorn, Flieder, ►Apfelbäume und Seerosen – später in Paris begegnet er vor allem den zeitgenössisch beliebten Treibhausblumen, mit denen die Großbourgeoisie im Winter ihre Häuser schmückte: ►Chrysanthemen und Orchideen wie den ►Cattleyas. Dieser Einteilung entsprechen auch die thematischen Assoziationen, die sich mit den Pflanzen verbinden: Während Weißdorn, Flieder und Apfelblüten die eher unschuldige, schüchterne Liebe Marcels zu ►Gilberte begleiten und der Irisduft der kleinen Dachkammer seinen ►Masturbationen einen natürlichen Reiz verleiht, seine erotischen Phantasien in eine sommerliche Natur integriert, umgibt sich die Femme fatale Odette mit gezüchteten Chrysanthemen und Orchideen – ab Sodom und Gomorrha schließlich wird die zweigeschlechtliche, selbstbefruchtende Orchidee vollends zum Symbol sowohl der männlichen als auch der weiblichen ►Homosexualität. Eine Ausnahme bildet Albertine; da sie in der Phantasie Marcels immer vor der Kulisse des Meeres erscheint, vor dem er sie das erste Mal erblickt hat, stehen für ihre Schönheit – und für ihre geschlechtliche Unbestimmtheit – jene »Orchideen des Meeres« ein, die ►Quallen.

Für die Szene zwischen Jupien und Charlus zu Beginn von Sodom und Gomorrha studierte und beschrieb Proust genauestens die verschiedenen Formen der Fremd- und Selbstbestäubung bei Orchideen, vor allem zog er dazu L’intelligence des fleurs von Maurice Maeterlinck zu Rate. Die durchgängige, wissenschaftlich genaue botanische Metaphorik ermöglicht Proust hier mehrerlei: Erstens kann er ohne Zensurgefahr einen Sexualakt in ziemlich expliziten Worten schildern (weibliche Pflanzen scheiden Nektar aus, Blüten nehmen mit Freuden lange Griffel in sich auf …), zweitens entschärft er die voyeuristische Perspektive seines Erzählers, wenn dieser eine wissenschaftliche Pose in der Tradition ►Balzacs einnimmt, sich selbst als »menschlichen Pflanzenkundler« bezeichnet, und drittens enthebt ein solcher wissenschaftlich-neutraler Standpunkt den Erzähler (und damit auch Proust) der Notwendigkeit, moralische Bewertungen zu treffen. Der Blütenreichtum des Romans ist damit sehr viel mehr als ein zeittypischer literarischer Jugendstilschmuck – er trägt ein ganzes Netz von Leitmotiven und macht Proust tatsächlich zu einem »Botaniker der Seele«.

Bruder

Die Bruderlosigkeit des Erzählers im Roman beschäftigt die Proustforschung, seit sie besteht, hat doch Proust seine ganze übrige Familie und deren Haushalt mehr oder weniger getreu abgebildet. Die biographischen Erklärungen für die Eliminierung des Bruders reichen von der angeblichen Eifersucht des älteren Marcel auf den Nachgeborenen, der ihm den Platz bei der geliebten Mutter streitig machen könnte, bis zur Annahme einer tiefgehenden Abneigung zwischen den charakterlich ungleichen Brüdern. Die inzwischen weitgehend veröffentlichten Briefe Prousts lassen zwar keine allzu große Liebe Marcels für Robert erkennen, die weitaus beste Erklärung für die Abwesenheit des Bruders liegt aber in der perspektivischen Anlage des Romans: In ►Jean Santeuil, einem frühen unvollendeten Roman Prousts, der die meisten Themen, Motive und Episoden von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vorwegnimmt, sich aber nicht als Erinnerung eines Ich-Erzählers präsentiert, hat der Held Jean noch einen Bruder. Das Verschwinden des Bruders geht also offenbar einher mit dem Erscheinen der Erinnerung als strukturierendem Leitmotiv des Romans und dem Auftreten einer Ich-Figur, die zugleich erlebender Held und rückblickender ►Erzähler ist. Dass eine solche Ich-Instanz, aus der sich das ganze subjektive Universum des Romans wie aus einer Quelle, einem Keim (oder auch jener berühmten Tasse Tee) entfaltet, keine gleichaltrige, gleichgeschlechtliche Figur gleicher sozialer Herkunft neben sich dulden kann, scheint auf Anhieb einsichtig – jede Möglichkeit, dass ein Zweiter die Perspektive und die Erinnerungen Marcels (vor allem die der Kindheit) teilen könnte, müsste die großangelegte Suche nach der verlorenen Zeit entwerten.

Camembert

Der Liftpage im Grand-Hotel in Balbec nennt die Marquise de Cambremer wiederholt »Marquise de Camembert« – als Marcel ihn liebenswürdig über seinen Irrtum aufklärt, zeigt der Page sich fest davon überzeugt, die Marquise habe sich ihm unter diesem Namen vorgestellt. Der Erzähler überlegt anschließend, dass es in der Welt des Pagen durchaus folgerichtig und keineswegs abwertend erscheinen mag, wenn ein »allgemein bekannter Käse« seinen Namen mit einer Grafschaft teilt, ja vielleicht am Ursprung eines Adelsgeschlechts steht. Die hartnäckige Fehlwahrnehmung des Pagen illustriert zum Ersten, wie in sich geschlossen und unverbunden die subjektiven »Universen« sind, in welche unsere Wahrnehmungen eingebettet sind, und macht dabei zum Zweiten deutlich, dass unter ihnen das eine nicht »wahrer«, logischer oder wirklicher als das andere ist. In diesem Licht erscheint der Stolz der snobistischen Marquise auf ihren »uralten« Titel, in den sie in Wahrheit eingeheiratet hat, genauso willkürlich wie der soziale »Hörfehler« des Pagen. Marcels eigene Unfähigkeit, die Ursache der Bedrückung des Pagen darin zu erkennen, dass er ihm kein Trinkgeld gegeben hat, bestätigt abermals die Inkompatibilität der Welten, ihren je eigenen ►Snobismus und die bei allem Wohlwollen eingeschränkten Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Und natürlich ergötzt sich Proust hier nicht zuletzt am eigenen Spiel mit Namens-Assoziationen, wenn er die Marquise des »sich bäumenden Meeres« zur Herrscherin über einen Weichkäse abstürzen lässt.

Cattleya

Gattung aus der Familie der Orchideen, prachtvolle Gewächse im tropischen Amerika, auf Bäumen und Felsen wachsend, mit steifen, konsistenten Blättern und prächtig gefärbten Blüten, deren sehr große, kapuzenförmige, an den Rändern wellig gekräuselte Lippe nach oben gerichtet ist. Die Cattleya-Arten blühen leicht und lassen sich selbst im ►Zimmer kultivieren, so Meyers Konversationslexikon von 1899.

Cattleya-Blüten ermöglichen Swann die erste Berührung der begehrten Odette: Als das Gespann der Kutsche scheut, in der sie beide sitzen, gerät Odettes Blumenschmuck durcheinander, und unter dem Vorwand, das Gesteck in ihrem Ausschnitt wieder zurechtzurücken, liebkost Swann ihren Hals, ihre Schultern und ihre Brüste. Für beide ist diese Form der indirekten Annäherung etwas Besonderes: für Swann, weil er auf diese Weise bis in die erotische Berührung hinein die begehrte Frau als Kunstwerk empfinden kann – die prächtigen, aber geruchlosen und künstlichen Blüten verleihen ihr den Charakter eines kostbaren Blumenarrangements –, und für Odette, weil sie es nicht gewohnt ist, dass Männer viele Umstände machen. So bleibt die erste Berührung deswegen reizvoll, weil sie den Umweg »durch die Blume« nimmt, noch keinen endgültigen Besitz bedeutet – weil die Blumen den individuellen Phantasien und Sehnsüchten der Liebenden eine Projektionsfläche bieten. Als die Liebe zwischen Swann und Odette erkaltet und Sex längst zur körperlichen Routine geworden ist, bewahren zwei Dinge noch die Erinnerung an eine einzigartige Leidenschaft: Die kleine Phrase aus der ►Musik Vinteuils und der Ausdruck »Cattleya machen«, den Odette und Swann seit der ersten Berührung für die körperliche Liebe verwenden. Weit mehr als bloß prüde Metapher für einen obszönen Vorgang, bezeichnet der Ausdruck jenen Augenblick, in dem die Liebe nicht mehr nur Phantasie, aber noch kein Besitz ist, jenen kurzen Augenblick, in dem das Begehren seinen ureigenen Gegenstand zu finden scheint: »Zitternd hatte er an jenem Abend gehofft […], dass es der Besitz dieser Frau sein würde, was aus den großen malvenfarbenen Blütenblättern hervorginge; und die Lust, die er bereits verspürte und die Odette, so dachte er, vielleicht nur duldete, weil sie sie noch nicht bemerkt hatte, erschien ihm gerade deswegen […] wie eine Lust, die es zuvor noch nicht gegeben hatte, die er zu erschaffen versuchte, eine Lust – deren besonderer Name, den er ihr gab, eine Spur davon bewahrte –, die ganz und gar einzigartig und neu war.«

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