Glaube Liebe Stigmata

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KAPITEL 14

»Frances … äh … Fra Pio, komm, die Laudes sind beendet«, sagte Padre Carmelo und stellte sich vor ihn. Fra Pio kniete in der Kirchenbank und betete immer noch. »Es gibt Frühstück.«

Er hob langsam den Kopf. »Gelobter Gott, erleuchte die Dunkelheit meines Herzens«, murmelte er, die Hände gefaltet vor sich auf der Bank. Sein Blick war starr, Padre Carmelo war, als sähe Fra Pio durch ihn hindurch, auf das Kruzifix über dem Altar.

Fra Pio blinzelte. »Amen.« Er bekreuzigte sich und stand auf.

»Komm, Fra Pio«, sagte Padre Carmelo noch einmal. »Später in der Kontemplation kannst du weiterbeten. Aber Gott möchte sicher nicht, dass du mit leerem Magen deine Aufgaben verrichtest.«

»Ich bin nicht hungrig«, sagte Fra Pio und folgte Padre Carmelo aus der Kirche. Schweigend schritten sie durch die dunklen, feuchten Gänge mit den kleinen Fenstern und den Kreuzgang mit den schmucklosen Säulen und dem versiegten Brunnen in der Mitte, der mit einem Eisengitter abgedeckt war, zum Refektorium.

Padre Carmelo seufzte. Fra Pio aß nie besonders viel. Selbst wenn er ihm etwas von seinem Brot anbot oder Fra Tommaso, der die Speisen zubereitete, um eine besonders große Portion für Fra Pio bat, so verspeiste dieser immer nur ein paar Bissen.Ermahnte er Fra Pio allerdings, er könne ohne Nahrung seine Aufgaben nicht angemessen erledigen, so überwand dieser sich und nahm etwas mehr als gewöhnlich zu sich. Der Junge betete ohne Unterlass. Oder lernte ohne Pause. Wenn er ihn nicht in der Kirche kniend antraf, so fand er ihn in der Bibliothek über die alten Ledereinbände gebeugt.

Stolz auf seinen eifrigen Zögling durchflutete Padre Carmelo, und er lächelte. Hochmut. Er war erneut dem Hochmut verfallen. Diese Todsünde würde er beichten müssen und geloben, sich nur um das Wohlergehen von Fra Pio kümmern zu wollen. Das hatte er Francescos Mutter versprochen, und auch dem Herrn war er es schuldig, dass er Fra Pio zu einem ordentlichen Mönch ausbildete.

Nach dem Frühstück zogen sich Padre Carmelo und Fra Pio in die kleine Bibliothek zum Unterricht zurück. Die dunklen Holzregale an den Wänden reichten bis unter die Decke, jedes von ihnen war mit dicken Folianten in Ledereinbänden und uralten Inkunabeln bestückt. Ein paar der weniger wichtigen Bücher und zerlesene Exemplare stapelten sich auf dem Fußboden. Weitere Anschaffungen durfte Padre Carmelo wirklich nicht machen, der Platz fehlte.

»Heute werden wir uns mit der Bullierten Regel der Franziskaner beschäftigen«, begann Padre Carmelo, während er auf dem Tisch aus dunklem Eichenholz in der Mitte des Raumes eine Kerze entzündete. Das winzige Fenster, das zwischen den Regalen fast verschwand, ließ das ganze Jahr über nie genug Licht zum Lesen herein.

Fra Pio setzte sich an den Tisch.

»Was weißt du über die Bullierte Regel?« Padre Carmelo schlug das Ordensbuch auf. Die ersten Seiten lösten sich aus der Bindung. Er legte sie vorsichtig übereinander.

»Sie wurde am 29. November 1223 von Papst Honorius III. im Lateran gegeben«, sagte Fra Pio. Er drehte das Medaillon vom heiligen Franz in den Händen, das Padre Carmelo ihm geschenkt hatte. So viele von den Medaillons hatte er in seinem Mönchsleben schon verschenkt, damit die Menschen den rechten Weg auch fänden, aber dieses war zu ihm zurückgekommen und hatte ihm seinen vielleicht wichtigsten Schüler mitgebracht.

»Richtig, mein Sohn.« Padre Carmelo schob das Ordensbuch zu Fra Pio. »Und wozu hat der heilige Franz sie geschrieben?«

»Die Bullierte Regel ist das Gesetzeswerk der Franziskaner. Damit ermahnt der heilige Franz seine Brüder, ihr Leben getreu dem Evangelium zu führen. So wie sie es versprochen haben.« Fra Pio sprach jedes Wort deutlich aus, verlieh ihm die Bedeutung, die es für den Orden hatte.

Padre Carmelo nickte. »Schauen wir uns den Text der Bulle einmal genauer an«, sagte er. »Bitte lies von Kapitel eins an.«

Fra Pio räusperte sich, schlug eine der losen Seiten sorgsam um und las: Von der Lebensweise der Minderen Brüder. Durch ein Leben in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit galt es, das heilige Evangelium zu befolgen. Padre Carmelo zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Gehorsam und Ehrerbietung gegenüber dem Papst und seinen rechtmäßigen Nachfolgern sowie der Römischen Kirche mussten sie versprechen. Dem heiligen Franz und dessen Nachfolgern hatten sie zu gehorchen. Er sollte die Brüder viel öfter daran erinnern.

»Weiter«, sagte Padre Carmelo, als Fra Pio zögerte.

Fra Pio las von der sorgfältigen Prüfung des katholischen Glaubens bei neuen Brüdern. Diese sollten keine Ehefrauen haben, oder wenn doch, müssten ihre Frauen in ein Kloster eintreten und das Gelübde der Enthaltsamkeit ablegen. »Und w enn ihre Frauen solchen Alters sind, dass kein Verdacht über sie entstehen kann, sollen sie ihnen das Wort des heiligen Evangeliums sagen, dass sie hingehen und all das Ihrige verkaufen und Sorge tragen, es unter die Armen zu verteilen.« Fra Pios Blick wanderte von links nach rechts, weiter über die Zeilen, als läse er sie noch einmal, als hätte er sie nicht verstanden.

»Ja?«

»Was sind Frauen solchen Alters, dass kein Verdacht über sie entstehen kann?« Fra Pio schob die losen Seiten zu einem geraden Stapel zusammen.

»Ähm, nun, also … das betrifft dich nicht, mein Sohn«, sagte Padre Carmelo. In so jungen Jahren hatte er sich keine Gedanken über Frauen gemacht. Die Mädchen seines Alter waren ihm damals wie unreife Zicklein vorgekommen, die man besser in Ruhe ließ. Nun jedoch, nach all den Jahren nur unter Brüdern hätte ihm eine Frau gleichen Alters wohlgetan. Eine gebildete Frau, so wie seine Tante es gewesen war. Zia Matilda hatte lesen können, obwohl sie vom Land kam, wo dies für die Mädchen zur damaligen Zeit nicht üblich gewesen war. Sie hatte ihm bei ihren Besuchen aus der Bibel vorgelesen, sie war mit ihm durch den Wald und über die Felder und die Wiesen gewandert, hatte ihm die Namen von Blumen und Kräutern gelehrt. Hatte von der göttlichen Einheit von Mann und Frau gesprochen, auf die sie ihre Hoffnung setzte. Immer wenn sie ihn zum Abschied umarmt hatte, duftete sie nach Veilchen und Rosen. Tagelang hatte er diesen Wohlgeruch mit sich herumgetragen und die Wochen bis zu ihrem nächsten Besuch gezählt. Doch eines Tages kam sie nicht, wie es vereinbart war. Vater und er fuhren in ihr Dorf und fanden sie tot in ihrem Bett. Einige Tollkirschen lagen auf ihrem Nachttisch. Mit Belladonna hatte sie sich das Leben genommen. Sie hatte ihr bestes Leinenkleid angezogen und die schwarzen Haare zu einem strengen Dutt gebunden. Ihr Gesicht war glatt und makellos schön, die Haut durchscheinend weiß, die Hände auf der Brust gefaltet. Nur ein dünner angetrockneter Speichelfaden, der aus ihrem Mundwinkel gelaufen war, zeugte von ihrem Todeskampf. In der Küche fanden sie einen Brief, in dem sie in akkurater Schrift erklärte, sie könne nicht mit der Schmach eines unehelichen Kindes leben, von dem der Vater nichts wissen wolle. Sie nannte keinen Namen, verzieh ihm jedoch, dass er sie in diese Lage gebracht und zu seiner Frau und seinen Kindern zurückgekehrt war. Aber sie fühlte sich nicht stark genug, dem Gerede der Leute aus dem Dorf standzuhalten und das Kind einer ungewissen Zukunft auszusetzen. Die Einheit von Mann und Frau hatte ihr kein Glück gebracht. So wollte sie lieber ihrem Schöpfer entgegentreten, seine Strafe annehmen und auf seine Vergebung hoffen. Padre Carmelo hatte damals nächtelang um sie geweint, Rache dem Mann geschworen, sollte er ihn jemals finden. Inständig hatte er für ihre Seele gebetet, damit ihre Höllenqualen nicht zu schlimm würden. Dann hatten seine Eltern ihn ins Kloster geschickt, und er war froh gewesen, dort nicht mehr über das Zusammensein von Mann und Frau nachdenken zu müssen. Doch nun weckte Fra Pio seinen längst vergessenen Schmerz und die längt vergessene Liebe zu dieser Frau. Er verführte ihn mit seiner Frage zu sündigen Gedanken. So erstaunlich der Junge auch war, er machte ihn ständig zum Sünder. »Zur Zeit des heiligen Franz waren manche Mitbrüder verheiratet, bevor sie in den Orden eintraten«, erklärte Padre Carmelo rasch. Er würde später für Zia Matilda beten. »Doch wenn ihre Frauen in dem Alter waren, dass sie nicht mehr bluteten, also keine Kinder mehr bekommen konnten, durften die Brüder mit ihnen verheiratet bleiben.«

Fra Pio runzelte die Stirn. »Aber das ist doch nicht keusch.«

Nein, keusch war das wirklich nicht, dennoch beneidete Padre Carmelo die ersten Franziskaner um diese weniger strengen Regeln. Er selbst hatte gelernt, die Bedürfnisse seines Körpers zu beherrschen. Andere Brüder waren nicht so stark und versündigten sich. Das erkannte er an den Blicken, die sie mit manchen Frauen während der öffentlichen Messe austauschten. Hin und wieder verschwanden manche Brüder, er vermutete, sie verließen dann das Kloster unerlaubterweise. Bei ihrer Rückkehr verrieten ihre Mienen entweder tiefste Scham oder höchste Befriedigung. Padre Carmelo bewunderte sie für ihren Mut und ihre Dreistigkeit und verabscheute gleichzeitig ihr sündiges Verhalten. Hätte er nicht durch den Tod seiner Tante erfahren, welche monströsen Auswirkungen die Verbindung von Mann und Frau haben konnte, vielleicht wäre auch er aus dem Kloster geschlichen und hätte Geheimnisse gehabt. Doch so war er der Regel treu geblieben. Fra Pio allerdings würde mit der Zeit lernen, dass das Klosterleben nicht in allem den Worten aus dem Ordensbuch folgte.

»Nun, heute ist das ja nicht mehr so«, sagte er. »Die Brüder, die dem heiligen Franz folgen, sind nie verheiratet. Die Gefahr der Unzucht besteht nicht. Außerdem erklärt Franz weiter unten: ›Ich befehle streng allen Brüdern, keine verdächtigen Beziehungen mit Frauen zu haben und die Klöster der Nonnen nicht zu betreten.‹ Du siehst, die Keuschheit bleibt gewahrt.«

 

Fra Pio atmete tief aus. Sein Blick wanderte auf dem Text hin und her. Er blätterte eine Seite um, dann noch eine.

Padre Carmelo würde heute Nachmittag bei Padre Superiore beichten müssen. Seine Worte waren gottesfürchtig, doch seine Gedanken waren von Sünde durchsetzt. Wie sollte er Fra Pio ein gutes Vorbild sein, wenn er selbst keine reinen Gedanken hegte?

»Die Brüder dürfen durch die Welt ziehen?«, fragte Fra Pio. »Das steht hier in Kapitel drei.«

Padre Carmelo nickte.

»Ich rate aber meinen Brüdern, warne und ermahne sie im Herrn Jesus Christus, dass sie, wenn sie durch die Welt ziehen, nicht streiten, noch sich in Wortgezänk einlassen, noch andere richten«, las Fra Pio vor. »Vielmehr sollen sie milde, friedfertig und bescheiden, sanftmütig und demütig sein und mit allen anständig reden, wie es sich gehört.« Fra Pio lehnte sich zurück und lächelte. Schließlich presste er die Lippen zusammen und zog die Wangen ein. Alles in seinem Gesicht wurde spitz. »Aber muss ich denn durch die Welt ziehen?«, fragte er, wobei er die Hände unter dem Tisch verbarg und die Schultern hängen ließ.

Der Junge war wirklich sensibel und fast ein bisschen zu fantasievoll. Alles bezog er sofort auf sich. Das zeugte zwar von einer wachen Intelligenz, doch Padre Carmelo war sich nicht sicher, ob das immer vorteilhaft für Fra Pio sein würde. Wenn er nun die falschen Schlüsse ziehen und sich in etwas völlig Widersinniges verbeißen würde, drohte ihm womöglich Gefahr, körperlich wie seelisch. Er würde das bei seinem kommenden Unterricht bedenken müssen, damit es nicht auf ihn zurückfiele, falls Fra Pio etwas zustieß.

»Nein, das musst du nicht. Nur wenn du das Bedürfnis verspürst, das Wort Gottes und die Lehre des heiligen Franz anderen Menschen zu bringen.« Oder wenn ein Kloster geschlossen wurde. Diesem Konvent war das bereits zweimal widerfahren. Das erste Mal im Zuge der Napoleonischen Gesetze 1811, und ein weiteres Mal nach der politischen Einigung Italiens. Padre Carmelo war froh, dass er diese Zeiten nicht hatte miterleben müssen. 1867 hatte man Gesetze erlassen, die den klerikalen Einfluss schwächen sollten, und alle Klöster geschlossen. Wie hätte er sich gefühlt, wenn ihm sein Zuhause wieder und wieder genommen worden wäre? Die Flamme der Kerze flackerte wild. Erst zwanzig Jahre später hatten einige Brüder den Klosterbau wieder erworben und den Konvent neu eröffnet. Wer wusste schon, was die kommenden Zeiten bringen würden? Der Junge musste damit rechnen, nicht immer an einem Ort bleiben zu können. So eine Sicherheit konnte ihm niemand geben. Selbst Padre Carmelo nicht. Er sollte mit ihm die Geschichte dieses Konvents durchnehmen, damit er sich auch darauf seelisch vorbereitete.

»Fra Pio, sorg dich nicht. Du entscheidest das, wenn du den Ruf Gottes vernimmst«, sagte er. »Lesen wir weiter.«

Fra Pio setzte sich wieder gerade hin. »Ist gut. Also. Kapitel vier. ›Die Brüder sollen kein Geld annehmen‹.«

Er las und las. Die Brüder dürften kein Eigentum erwerben, sollten um Almosen bitten und sich den Kranken widmen. Die Kerze knisterte leise, sie war fast heruntergebrannt. Er las, dass er in der Predigt seine Worte wohl bedenken sollte. »Zum Nutzen und zur Erbauung des Volkes, indem die Brüder zu ihnen sprechen von den Lastern und Tugenden, von der Strafe und Herrlichkeit mit Kürze der Rede, weil der Herr auf Erden sein Wort kurz gefasst hat.«

Padre Carmelo holte eine neue Kerze aus dem Schrank, in dem er die Karteikarten für die Bücher aufbewahrte. Fra Pio redete nicht viel. Er würde die Gläubigen nicht mit umständlichen Predigten langweilen, wie es so manche Brüder taten, die sich zu wichtig nahmen. Padre Carmelo entzündete die neue Kerze und steckte sie auf den glimmenden Docht, der im Kerzenhalter im Wachs zu ertrinken drohte.

Fra Pio las das Ende der Regel: »›… immer zu Gott zu beten mit reinem Herzen, Demut zu haben, Geduld in Verfolgung und Krankheit und jene zu lieben, die uns verfolgen und tadeln und beschuldigen, denn der Herr sagt: ›Liebet eure Feinde und betet für jene, die euch verfolgen und verleumden.‹ Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich. Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden.‹«

Im Kerzenschein wirkten Fra Pios Wangen eingefallen. Er hatte den Kopf geneigt wie der Jesus am Kruzifix. Seine Tonsur und die wenigen Barthaare erinnerten an den heiligen Franz. Er kratzte sich den linken Handrücken. Die Kutte schien ihm zu weit zu sein. Da saß ein Junge, der so viel Mitgefühl zu empfinden schien, dass er anscheinend auch den Schmerz der anderen in sich spürte, ohne darüber zu klagen.

Padre Carmelo war, als fielen seine Worte und Lehren auf fruchtbaren Boden. Und die Saat ging mehr und mehr auf.


KAPITEL 15

Die Tage im Kloster änderten sich kaum. Chiara arbeitete im Kräutergarten, wechselte abgebrannte Kerzen aus, füllte Regale mit Weinflaschen, Mehlsäcken, Zwiebeln und Knoblauch auf, ging zur Messe, betete und beichtete. Der Sommer kam, und zusammen mit den anderen Novizinnen besserte sie die weißen Tuniken aus, die Unterkleider der Nonnen. Doch ihre Abmachung mit Anna verlieh dem einförmigen Tagesablauf einen neuen Reiz, so wie die zwei Worte ›Fortsetzung folgt‹ eine gespannte Aufregung erzeugt hatten, über eine ganze Woche, bis sie die nächste Folge in Händen gehalten hatte. Bei jedem Gang zwischen Kapelle und Zelle, von der Zelle zum Refektorium, vom Refektorium zum Garten, zwischen Garten und Arbeitsraum sah Chiara sich genau um. Sie entdeckte Türen, Fenster, Nischen und Gänge, die ihr zuvor nicht aufgefallen waren. Bald wusste sie, welche Türen sich öffnen ließen und wohin sie führten, welche immer abgeschlossen waren. Sie erkannte, wann sich die Schwestern mit Gläubigen von außerhalb unterhielten, das Schweigegelübde missachteten, von Lieferanten Lebensmittel entgegennahmen und neue bestellten, wer auf den Markt ging und zu welchen Anlässen sie Beamte und Würdenträger empfingen. In der freien Zeit nach dem Abendessen saß sie mit Anna zusammen. Bei schönem Wetter gingen sie sogar wieder in den Garten, setzten sich allerdings nicht mehr hinten in der Ecke auf die Steinbank, sondern blieben dort, wo alle sie sehen konnten. Sie saßen im Kreuzgang oder bei Regen im Arbeitsraum, nahmen das Nähzeug zur Hand und besserten unermüdlich die Säume der Tuniken aus.

»Heute war ein Junge bei dem Milchlieferanten. Offenbar sein Lehrling«, flüsterte Chiara eines Abends Anna zu. »Er muss etwas älter sein als wir. Vielleicht kann er uns helfen.«

»Und wie?« Anna blickte von ihrer Tunika hoch.

»Vielleicht kann er uns auf seinem Karren rausschmuggeln.« Chiara fädelte weißes Garn durch eine Nadel.

»Und wenn er uns an die Äbtissin verrät?« Anna ließ die Hände in den Schoß sinken.

Chiara schwieg. Sie konnten niemandem vertrauen, sie hatten keine Freunde im Dorf. Niemand kannte sie. Für die Schwestern waren sie nur Novizinnen, die ausgebildet werden mussten und sich noch nichts im Kloster erarbeitet hatten. Sie zählten nicht.

Schwester Lucia kam auf ihren Tisch zu.

»Ave Maria, gratia plena«, fing Anna an. Chiara stimmte ein.

»Schwestern, es wird Zeit für die Nachtruhe«, sagte sie und eilte wieder davon.

Chiara faltete das Wäschestück zusammen. »Wir müssen es probieren. Wir haben keine andere Chance. Vielleicht sollten wir ihn erst beobachten und mit ihm plaudern. Ganz unverfänglich, um herauszufinden, ob wir ihm vertrauen können. Nächste Woche haben wir zusammen Küchendienst. Du kennst dich doch mit Jungs aus.« Sie grinste.

Anna zog die Brauen hoch. »Ich bin meinem Lucio treu«, erwiderte sie. »Aber ich kann dir ein paar Tricks verraten.«

Der Milchjunge kam in der nächsten Woche wieder, als Chiara die Lieferung annehmen und die neue Bestellung aufgeben musste. Mit seinen muskulösen Armen lud er die vollen Milchkannen von seinem Fuhrwerk und verstaute sie in der Kühlkammer, neben der Küche. Er kannte den Weg. Auf dem Rückweg brachte er die leeren Kannen mit. Während er sie auf den Wagen stellte, trat Chiara neben ihn. Sein weißes Hemd war am Rücken feucht, seine Hose, die von einem Strick gehalten wurde, reichte nur bis zu den Knien und ließ seine sonnengebräunten Waden und Füße sehen. Die beiden Pferde vor dem Fuhrwerk warfen ihre Köpfe auf und nieder und traten mit den Hufen auf das Pflaster. Nach jeder Milchkanne, die er auflud, strich der Junge sich die lange Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Also, beim nächsten Mal wieder vier Kannen, bitte.«

Er nickte. »Natürlich, Schwester, so wie immer.«

Schwester Cecilia, die nebenan in der Küche die Zubereitung des Mittagessens überwachte, kümmerte sich nicht um sie. »Darf ich dich noch was fragen?«, sagte Chiara leise. Wäre Anna an ihrer Seite gewesen, würde ihre Stimme bestimmt nicht so zittern. Aber Anna musste ausgerechnet heute den Keller fegen, zur Strafe, weil sie ihr Bett nicht ordentlich gemacht hatte.

Der Junge zog die Brauen hoch, dann blinkerte er ein paarmal mit den Wimpern über seinen grünen Augen. Er musterte sie vom weißen Schleier bis zu ihren Sandalen. »Ja, was denn?«

»Wie heißt du?« Chiara lächelte. Annas erster Tipp war gewesen, dass sie lächeln sollte, immer lächeln. In der Küche klapperten die Schwestern mit den Töpfen, Schwester Cecilias aufgebrachte Stimme erklang. Heute hatte sie mal wieder einen von ihren boshaften Tagen. Chiara schluckte und lächelte.

»Mauro.«

»Kommst du jetzt öfter, Mauro?« Sie senkte den Blick. Anna hatte gemeint, so wirkte man verlegen, was den Jungs Mut machen würde. Mauros Füße waren grau vom Staub. Glücklicherweise war Schwester Cecilia beschäftigt.

»Ja, ich übernehme die Tour von meinem Onkel. Er hat so viel zu tun.« Er wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Seine Haare fielen ihm gleich wieder ins Gesicht. Er schob die Unterlippe vor und blies die Strähne weg. Tief unten in Chiaras Bauch zog sich etwas zusammen, wie sie es noch nie erlebt hatte. Anna wusste bestimmt, was das zu bedeuten hatte.

»Wie schön. Vielleicht werden wir hin und wieder ein bisschen reden können.« Chiara sah ihn von unten mit einem Lächeln an. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen. Das hatte Anna ihr nicht gesagt, aber es hatte in einem der Romane gestanden. Etwas peinlich war das schon, aber seine Augen wurden größer. Es schien zu wirken. Das Ziehen in ihrem Bauch wurde stärker.

»Äh … ja, gern, … wenn Ihr es wünscht«, sagte Mauro. Er fuhr sich durch die Haare, lächelte kurz. Dann kletterte er auf den Wagen und nahm die Zügel auf. Die Pferde schnaubten. »Ende der Woche komme ich wieder. Mit der nächsten Lieferung.«

»Ich freue mich schon«, sagte Chiara leise und zwinkerte ihm zu. Eine heiße Welle stieg in ihr auf, ihre Wangen wurden warm. Es funktionierte. Und es war gar nicht schwierig gewesen. Es schien ihm sogar zu gefallen, denn er starrte ununterbrochen zu ihr, während er das Fuhrwerk langsam im Hof drehte und schließlich damit hinausrumpelte. Schwester Cecilia hatte nichts mitbekommen. Sie war also doch nicht allgegenwärtig, wie sie immer alle Novizinnen Glauben machte. Chiara musste es sofort Anna erzählen. Sie lief durch die Gänge im Keller, die immer noch ungefegt aussahen, und fand Anna in einer der Kammern, in der die weltlichen Kleidungsstücke der Novizinnen lagerten, gleich neben dem Putzzeug.

Die ersten Sonnenstrahlen wanderten über die Außenmauer, als Chiara und Anna das Tor aufmachten. Mauro stand mit seinem Fuhrwerk bereits davor. Mit einem lauten Schnalzen trieb er die beiden Pferde in den Klosterhof. Anna hakte das Tor fest. Chiara trat an den Wagen und streichelte dem linken Pferd, einem Schimmel, über das weiche Maul. Er stupste Chiara an, knabberte an ihrem Ärmel.

»Nicht«, rief Chiara und trat einen Schritt zurück. »Ich hab nichts für dich. Aber nächstes Mal muss ich wohl einen Apfel mitbringen.« Sie blickte lächelnd zu Mauro, der vom Bock sprang.

»Werte Schwester«, begrüßte er Chiara, »Ihr seht heute noch hübscher aus als sonst. Was ist passiert? Waren die anderen Schwestern gut zu Euch?« Er hob die vollen Kannen so schwungvoll vom Wagen, als seien sie leer. Seine kräftigen Schultern zeichneten sich unter seinem Hemd ab, seine Armmuskeln glänzten.

 

Anna stellte sich neben Chiara, die Hände in den Ärmeln.

»Ach, Mauro, du weißt doch, wie sie sind.« Chiara seufzte. »Nein, es gibt etwas, über das ich mit dir reden möchte. Kennst du Anna eigentlich schon?« Sie zeigte auf Anna, die sich ständig zur Tür und zum Küchenfenster umdrehte. Noch war keine der Schwestern aufgetaucht. Anscheinend vertrauten sie Chiara und Anna endlich.

»Noch so eine hübsche Schwester, was habe ich heute für ein Glück.« Mauro deutete eine Verbeugung an, wobei ihm die Haare ins Gesicht fielen. Seine grünen Augen blitzten. Pfeifend schleppte er die ersten beiden Milchkannen in den Kühlraum. Es klapperte und schepperte, schon kam er mit vier leeren Kannen zurück.

»Mauro, wir wollen dich um etwas bitten, aber du musst schwören, dass du niemandem davon erzählst«, sagte Chiara, während es tief unten in ihrem Bauch zog. Ihr wurde warm. »Schwörst du es?«

»Zwei so netten Schwestern kann ich doch nichts abschlagen, das wäre Sünde und brächte mich in Teufels Küche.« Er lachte, während er die nächsten Kannen wegbrachte.

Anna schüttelte leicht den Kopf. »Na, auf den Mund gefallen ist er ja nicht«, flüsterte sie Chiara zu.

Als Mauro zurückkehrte, grinste er breit.

»Das ist nicht zum Lachen.« Chiara griff ihn am Ärmel und zog ihn neben die Tür zum Hof, so konnte niemand sie von drinnen sehen. Sie spürte seine warme Haut unter dem Stoff und erzitterte. »In diesen Mauern wohnt der Satan.« Anna verzog keine Miene. Abends in ihren Betten hatten sie sich alles zurechtgelegt.

Mauros Grinsen verschwand. »In einem Nonnenkloster? Das kann nicht sein. Wie kommst du darauf?«

»Die Äbtissin hat den bösen Blick. Ist dir schon mal aufgefallen, wie sie schielt? Und wenn eine Novizin nicht das tut, was sie sagt, belegt sie sie mit einem Fluch. Sie ist die Handlangerin von Satan. Nachts ist es besonders schlimm. Da wispert es in den Ecken, und es rumpelt, als würden Dinge kaputtgehen. Dann berät sie mit Satan über ihre nächsten Taten.«

Anna nickte und verzog keine Miene.

»O Gott, ihr Armen! Das ist ja fürchterlich. Das habe ich aber noch nie gehört.« Mauro hob die Hand, als wollte er Chiara über die Wange streichen, doch er hielt inne, ließ sie wieder sinken.

Chiara stockte der Atem. »Kannst du auch nicht. Sie hat alle verhext. Das Schweigegelübde! Niemand darf ein Wort sagen. Ist dir schon mal aufgefallen, alle Schwestern reden immer nur über Gott.«

»Das ist doch normal im Kloster, oder?« Mauro zog die Augenbrauen hoch.

»Meinst du. Hier gibt es eine Strafzelle, von der niemand außerhalb dieser Mauern etwas weiß.«

Anna nickte wieder. »Genau«, sagte sie. »Oder weißt du etwa davon?«

Mauro schüttelte den Kopf.

»Da hängen Ketten drin und merkwürdige Eisengeräte, die bestimmt nicht dafür gemacht sind, nur das Feuer zu schüren oder das Getreide zu mahlen«, erzählte Anna weiter. »Ich habe das genau gesehen.« Sie hob das Kinn.

»Ich habe Angst hier drin«, sagte Chiara. Sie ließ ihre Unterlippe zittern und presste ein paar Tränen heraus. »Ich will nicht verhext werden. Ich will keine Braut Satans werden.«

»Braut Satans?« Mauro schnappte nach Luft. »Wie das?«

»Es heißt, wenn das Noviziat beendet ist«, flüsterte Anna mit zusammengezogenen Brauen, »muss jede Nonne ein Blutopfer bringen. Das besänftigt Satan, damit er kein weiteres Opfer fordert.«

»Weitere Opfer? Was denn für weitere Opfer?« Mauro kratzte sich am Oberarm. Er hatte eine Gänsehaut. Über den Platz draußen ratterten andere Fuhrwerke. Heute war Markttag, Schwester Cecilia besorgte dort frisches Gemüse.

»Letztes Jahr ist eine Nonne gestorben.« Chiara schluchzte. Es hörte sich ganz natürlich an. »Sie wollte weg und kein Blut opfern. Die Äbtissin hat sie nicht fortgelassen, sondern in der Strafzelle eingesperrt. Dort ist sie gestorben.« Chiara schluchzte lauter. Anna legte ihr den Arm um die Schultern.

»Sie hing am Fensterkreuz, als man sie fand«, erklärte Anna, wobei sie Chiara den Rücken streichelte.

»Davon habe ich gar nichts mitbekommen.« Mauro riss die Augen auf. »Warum hat mir mein Onkel nur nichts davon erzählt?«

Chiara schluchzte weiter. Mauro schielte sie von unten an, er wirkte völlig verunsichert.

»Ja, glaubst du denn, die Schwestern erzählen das überall herum?« Anna ließ Chiara los und stellte sich vor Mauro. »Die haben den Mantel des Schweigens darübergebreitet. Das geht ganz rasch hier. Schweigegelübde und Strafe. Und der böse Blick der Äbtissin. Das reicht.« Sie stemmte die Arme in die Hüften.

»Mauro, bitte, du musst uns helfen«, sagte Chiara. Ihre Stimme klang wirklich tränenerstickt. »Wir können niemanden vertrauen. Wir müssen hier weg. Sonst sind wir die nächsten.«

Mauro trat einen Schritt zurück. »Ihr nehmt mich auf den Arm, oder?« Er sah von Chiara zu Anna. »Sagt schon, ihr treibt euren Spaß mit mir, nicht wahr?« Seine Schultern hingen herunter.

Chiara blickte Anna an, deren Brauen eng zusammengezogen waren. Sie hatte fast etwas Dämonisches an sich. Wahrscheinlich hatte das Versteckspiel mit Lucio vor ihren Eltern sie zu dieser guten Schauspielerin gemacht. Chiara sollte sich das von ihr abschauen.

»Leider nicht«, sagte Anna mit Grabesstimme. »Wage es nicht noch einmal, an uns zu zweifeln, sonst trifft dich der böse Blick.«

Chiara bekam eine Gänsehaut. Wenn er ihnen jetzt nicht glaubte, würde er ihnen nie glauben.

Mauro zuckte zusammen. »Schon gut, schon gut.« Er hob die Hände vor die Brust. »Verzeiht. Ich glaube euch ja. Es ist nur so entsetzlich. Zwei so hübsche Schwestern! Ihr tut mir so leid.«

»Dann hilf uns«, presste Chiara heraus. Sie setzte ein trauriges Lächeln auf und blinkerte mit den Wimpern. »Du würdest es auch nicht umsonst machen.«

»Ach ja?« Mauro starrte sie an, aber er sah ihr nicht in die Augen, sondern auf die Lippen.

Chiaras Ohren wurden heiß. Zum ersten Mal war sie froh, dass das Kopfgebinde alles bedeckte und ihre Röte verbarg. Was sollte sie ihm nur geben für seine Hilfe? Darüber hatten sie nicht gesprochen. Es war ihr so herausgerutscht.

»Na, wir würden für dich beten«, sagte Anna schnell, »der himmlische Lohn wäre dir sicher. Und der böse Blick würde dich nicht treffen.« Ihre Brauen waren immer noch zu einem Balken zusammengezogen. Vor dem offenen Klostertor klirrte es. Chiara schrak zusammen. Geschrei erhob sich, ein Weinballon war von einem Fuhrwerk gerutscht und auf dem Pflaster zerborsten. Der Rotwein ergoss sich über den Platz, bildete eine Pfütze.

Mauro verschränkte die Arme vor der Brust. »Och, ich wüsste da schon auch einen weltlichen Lohn.« Blitzschnell fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

Chiara schnappte nach Luft. Das Ziehen im Bauch tat plötzlich weh.

»Schämst du dich gar nicht?«, zischte Anna. »Wir können jeden Moment Satan geopfert werden, und du denkst an so was. Wollust ist eine Sünde. Und wir müssen außerhalb dieser Mauern auf unseren Ruf achten, sonst könnten wir gleich hier bleiben.« Sie hatte rote Flecken auf den Wangen.

»Aber einen Kuss könnte ich doch kriegen, oder? Nur einen … Dann wär ich schon glücklich«, sagte Mauro und zwinkerte Chiara zu. Seine Schultern waren breiter als zuvor. So breit wie die Schultern der Prinzen und Ritter aus den Romanen.

»Seid doch leise! Schwester Cecilia kann jeden Moment kommen.« Immer noch standen die Menschen vor dem Tor um die Scherben des Weinballons herum und stritten. »Mauro, bitte, hilfst du uns?«

Er nickte.

Aus dem Ziehen in Chiaras Bauch entstand ein wohliger Schauer.

Schwester Cecilia tauchte im Tor auf. »Seid ihr noch nicht fertig?« Sie trug zwei Körbe voller Auberginen, Zucchini, Basilikum und Weintrauben. Chiara erstarrte. Mauro verstaute die leeren Milchkannen und stieg auf den Bock. »Die Messe beginnt gleich.« Schwester Cecilia verschwand in der Küche.

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