Glaube Liebe Stigmata

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KAPITEL 13

Mit einem dumpfen Knall schlug das Tor hinter Chiara zu. Das Echo hallte lange durch die Dunkelheit. Ein eisiger Luftzug stieg an ihren Knöcheln unter dem Rock bis zu den Knien hoch. Ihre viel zu dünnen Strümpfe waren heruntergerutscht. Chiara zitterte. In einer Nische flackerte eine Kerze. Sie war fast heruntergebrannt, ihr Schein erhellte ein Kruzifix von unten, das riesige Schatten warf, die sich bis zur Gewölbedecke des Vorraumes ausdehnten. Allmählich erkannte Chiara die Ecken und Winkel, auf der anderen Seite des Raumes gab es zwei Türen aus speckig glänzendem, fast schwarzem Holz mit hängenden schmiedeeisernen Griffen, in der rechten Ecke stand eine Truhe mit groben Eisenbeschlägen. Es roch nach Wachs und Schimmel. Nun konnte sie nicht mehr weg. Mamma hatte sie bis zum Klostertor begleitet und sie dort ohne lange Verabschiedung der Äbtissin übergeben. Chiaras Bitten, sie möge es sich noch einmal anders überlegen und sie wieder mit nach Hause nehmen, hatte sie kurzerhand beiseite geschoben. Dein Vater hat es so bestimmt und so wird es gemacht, hatte sie gesagt.

»Komm, Kind«, sagte die Äbtissin der Klarissen von Cerreto Sannita, eine hagere Frau mit eingefallenen Augen und runzeliger Haut. Sie schielte ein wenig. Ihre Nase hob sich groß von den schmalen Wangen ab. »Die anderen Novizinnen sind schon in der Kleiderkammer.«

Mit gesenktem Blick lief Chiara hinter der obersten Nonne her. Auf den Majolikafliesen am Boden wuchsen trompetenförmige gelbe Blüten aus blauen Kelchen hervor, umwanden sich in vorwitzigen Wellen, schlossen Kreise und ließen neue blaue Blüten mit gelben Ständen entstehen. Mit jedem Schritt wurden die Wellen größer, bildeten Strudel, türmten sich zu unüberwindbaren Höhen auf, umschlängelten ihre Knöchel. Chiara hob die Füße höher. Aber die Strudel kreisten immer schneller, immer fester hielten sie sie, fesselten sie. Als sie die dunkle Tür erreichte, konnte sie die Füße kaum noch vom Boden lösen, wie gefräßige Mäuler verschlangen die gelben Blüten sie.

Die hölzerne Tür öffnete sich, und eine kleine Nonne trat heraus. Die braune Kutte raschelte leise, das weiße Kopfgebinde strahlte in einem faltenfreien Weiß. Selbst an Hals und Stirn lag der steife Stoff wie eine zweite Haut an. Der schwarze Schleier darüber bewegte sich nicht, als sie den Kopf senkte.

»Werte Schwester Lucia, ich bringe dir noch eine Seele, die unserem Kreis beitreten möchte«, sagte die Äbtissin. »Chiara Forgione aus Pietrelcina. Bitte, kümmere dich um sie. Ich muss zurück in mein Büro, es ist Post gekommen.« Damit verschwand sie durch die zweite hohe Tür auf der rechten Seite.

»Nun«, sagte Schwester Lucia und musterte Chiara vom Kopf bis zu den Füßen, »dann befreien wir dich mal von dem weltlichen Tand.«

Sie führte Chiara in einen kleinen, weiß gekalkten Raum, in dem rechts und links lang gestreckte Holzbänke standen. Ein Mädchen faltete ihren Mantel zusammen und legte ihn in ein Regal unter dem winzigen Fenster. Sie mochte so alt sein wie Chiara. Zwei andere Mädchen saßen auf der Bank links. Sie streiften sich die durchgeweichten Schuhe von den Füßen, zogen die Blusen über die Köpfe. Ein viertes Mädchen trug nur noch ihr weißes Unterkleid. Es war an den Ellenbogen fadenscheinig, der Kragen nicht ganz sauber. Sie flocht sich ihre schwarzen Haare zu einem Zopf.

»Bevor ihr die Kutten anlegt, schneidet Schwester Maddalena euch die Haare«, verkündete Schwester Lucia, die Hände in den Ärmeln ihrer Kutte versteckt.

Das Mädchen am Regal drehte sich um, die Stirn gerunzelt. Die eine an der Bank ließ ihren Rock fallen, die andere schlug eine Hand vor den Mund. Auch sie trugen die Haare zu langen Zöpfen gebunden. Nur die Flechtende aber machte still weiter und nickte leicht. Chiara musste schlucken. Unwillkürlich griff sie in ihre wilden Locken, die sie jeden Morgen bändigen musste, und streifte das Kopftuch ab. Ihr Haar machte Arbeit und manchmal, nach dem Waschen am Samstagabend, verfluchte sie es auch, weil sie mit dem Kamm nicht durchkam, aber ihrZopf klatschte beim Tarantellatanzen an den Festtagen immer so schön auf ihren Rücken, feuerte sie an, schneller zu tanzen, sich schneller zu drehen, bis sie keine Luft mehr bekam. Tränen stiegen ihr auf, rasch wischte Chiara sie weg. Sie setzte sich auf die rechte Bank und zog Mantel und Schuhe aus.

»Muss das sein?«, fragte das Mädchen am Regal und ihre hellbraunen Augen blitzten unter den dichten Brauen, die sich in der Mitte fast berührten.

Schwester Lucia spitzte die Lippen. Hörbar sog sie die Luft ein. »Ihr redet nur, wenn ihr gefragt werdet. Sonst nicht.« Sie drehte sich zur Tür. »Schwester Maddalena, die Mädchen sind bereit«, rief sie in den Nebenraum. »Der Haarschnitt ist ein Zeichen der Demut, die alle Klarissen an den Tag legen müssen.«

»Pah«, sagte das Mädchen am Regal leise. Sie war kleiner und stämmiger als Chiara. Tonlos murmelte das Mädchen etwas vor sich hin, ihre Wangen waren gerötet.

Chiara senkte den Kopf, zog Rock und Bluse aus, legte sie sorgfältig zusammen und trug das Wäschepaket zu dem Regal. Sie musste ruhig bleiben. Ganz ruhig.

Das Mädchen, das ungefragt geredet hatte, hieß Anna. Nachdem sie ihre braunen Kutten, die Kopfgebinde und die weißen Novizinnenschleier sowie einfache Ledersandalen erhalten hatten, waren Chiara und ihr eine Zelle zugeteilt worden. Gegenüber der Tür in der Mitte der schmalen Seite ging ein kleines zweiflügeliges Fenster auf den Kreuzgang hinaus. Rechts und links an den langen Wänden standen zwei einfache Betten, über ihnen hing je ein Kruzifix, dazwischen, unter dem Fenster, befand sich ein Nachttisch, den sie sich teilen mussten. Am Ende jeden Bettes gab es eine kleine Truhe für die Habseligkeiten der Novizinnen.

Chiara stand neben ihrem Bett, dem linken, und strich sich über ihre stoppeligen Haare. Das Kitzeln ließ sie erzittern.

»Schlimm?«, fragte Anna, die auf dem Bett gegenüber saß und sich die Sandalen von den Füßen streifte. Die rasierten Haare ließen ihren Kopf wie eine stachlige Kugel aussehen. Den Schleier hatte sie achtlos über ihre Truhe geworfen.

»Ja.« Chiara unterdrückte die Tränen.

»Woher kommst du?« Anna zog die Kutte aus und ließ sie auf den Schleier fallen.

»Aus Pietrelcina«, sagte Chiara, während sie den Gürtel aufknotete.

»Ach, ich bin aus Benevento. In Pietrelcina war ich noch nie. Was soll ich da auch? Da gibt’s wahrscheinlich noch weniger als in Benevento. Na, ich werde nicht lange hierbleiben.« Sie kümmerte sich nicht um das Schweigegebot, das selbst in den Zellen der Nonnen herrschte, wie Schwester Lucia ihnen nach der Einkleidung noch einmal eingeschärft hatte. Bestimmt konnte man Annas Stimme von draußen hören. Anna schob sich das kleine Kissen hinter den Rücken und lehnte sich an das Kopfende des Bettes.

»Nicht?«, fragte Chiara leise und zog die Kutte aus.

Anna schüttelte den Kopf. »Ich verschwinde hier wieder, so schnell es geht, und gehe nach Benevento zu meinem Verlobten. Und dann wandern wir aus.« Sie lächelte, als ob das die einfachste Sache der Welt wäre.

»Du hast einen Verlobten?« Chiara ließ die Kutte sinken, dass sie den Terrakottaboden berührte. »Wie alt bist du denn?«

»Sechzehn, aber mit Lucio bin ich verlobt, seit wir acht waren. Hast du auch einen Verlobten?« Anna schlug die Decke zurück und schlüpfte zwischen die stramm bezogenen Laken.

»Äh. Nein.«

»Warum nicht? Du siehst doch ganz hübsch aus.« Anna strampelte mit den Beinen, um das obere Laken unter der Matratze herauszuziehen.

»Ich weiß nicht … Wohin wollt ihr denn auswandern?« Chiara setzte sich auf ihr Bett. Papà war schon so lange fort, hatte aber immer regelmäßig Geld geschickt. Es musste ihm wirklich gut gehen.

»Nach Amerika natürlich. Hier können wir nicht bleiben.« Anna zog sich die Decke bis unter das Kinn. Das Holz des Bettgestells knarzte. »Unsere Eltern wollen nämlich nicht, dass wir zusammen sind. Da haben meine mich ins Kloster gesteckt. Aber das nützt alles nichts. Denn Lucio und ich, wir sind füreinander bestimmt.«

Langsam kroch auch Chiara unter die Decke, die Laken darunter waren klamm. Durch den Leinenbezug der Matratze stachen die Maisblätter, mit denen sie gefüllt war. Chiara war für niemanden bestimmt, nicht draußen in der Welt. Im Kloster sollte sie für Jesus bestimmt sein. Aber das wollte sie nicht. Sie war keine Braut Jesu. Liebe jenen mit ganzer Hingabe, der sich um deiner Liebe willen ganz hingegeben hat. IHM folge nach. Diesen Spruch der heiligen Klara hatte die Äbtissin ihr und den anderen Novizinnen heute in der Abendmesse gepredigt. Aber das war nichts für sie. Sie wollte Jesus nicht nachfolgen. Schon gar nicht in dieses dunkle, kalte Kloster, in dem sie bestimmt nie richtig froh werden würde. Hier würde ihr Prinz sie doch nie finden, und mit ihren kurzen Haaren würde er sie sicher gar nicht erkennen und sofort wieder die Flucht ergreifen, weil sie so hässlich aussah. Sie schluckte. Die Kälte zog ihr die Beine hinauf.

»Wie willst du denn hier wegkommen?«, fragte sie und rieb ihre Füße so lange aneinander, bis sie wärmer wurden.

Anna stützte sich auf einen Ellenbogen und blies die Kerze auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen aus. Es raschelte, dann klopfte sie auf etwas, vermutlich auf das Kopfkissen. Holz knarzte.

»Das weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich muss ich den ganzen Zirkus erst mal eine Weile mitmachen. Dann sehe ich, wie das alles läuft, und wo es Lücken gibt. Aber wehe, du sagst jemandem etwas!« Annas Augen funkelten in der Dunkelheit.

»Keine Sorge. Ich verrate nichts. Ich will auch weg. Vielleicht können wir ja zusammen gehen?« Chiara faltete die Hände über der Brust. Womöglich würde alles einfacher, wenn sie zu zweit waren.

 

»Hm«, kam es aus dem anderen Bett, »das ist vielleicht gar nicht so dumm. Ich überleg es mir. Gute Nacht.« Die Laken raschelten.

»Gute Nacht«, flüsterte Chiara. In ihrem Bauch kribbelte es, wie damals, als sie mit Silveria zur Contessa gelaufen war. Sie würde sich nicht einsperren lassen, denn irgendwo da draußen wartete ihr Prinz auf sie, und sie musste zu ihm.

Die strengen Regeln der Klarissinnen bestimmten Chiaras Tage. Aufstehen um fünf Uhr. Laudes und Terz. Eucharistiefeier. Frühstück. Arbeit. Sext und Non. Mittagessen. Gemeinsame Rekreation. Stille Zeit. Stundengebet. Arbeit. Kontemplation. Vesper mit der Gemeinde. Abendessen. Freie Zeit. Komplet. Nachtruhe um neun Uhr. Ständig musste sie arbeiten, etwas verrichten, fegen, Tisch decken, Wäsche waschen, beten, kontemplieren. Chiara hasste es. Die Gebete sprach sie mit. Leise murmelte sie die Worte, doch sie sagten ihr nichts, brachten ihr keine Ruhe. Die marmornen Schnecken, die barocken Verzierungen, die Bögen und Blätter, selbst die drei pausbäckigen Engelchen am Hauptaltar der Kirche Santa Maria Mater Christi erfreuten sie nicht. Das Gold der Bilderrahmen, die dunklen Gemälde und die unzähligen Kerzen verschlugen ihr den Atem. Ihr wurde schwindlig. An den Kruzifixen in der Kirche, den Gängen, den Zellen und im Refektorium sah sie vorbei. Noch immer gruselte sie sich vor dem Gekreuzigten, beim Anblick der Nägel in seinen Händen mit den zusammengekrampften Fingern und in seinen knöchernen Füßen musste sie würgen. Das Blut, das unter der Dornenkrone hervorsickerte und seine Stirn besudelte, erzeugte einen metallischen Geschmack in ihrem Mund. Sie starrte dann meist auf einen Punkt am Boden.

Nur wenn sie sich in der freien Zeit nach dem Abendessen von den anderen wegschlich und durch den Kräutergarten schlenderte, konnte sie von ihrem Prinzen träumen, von den eleganten Kleidern, die er ihr schenken würde, den zarten Schuhen, den raffinierten Hochsteckfrisuren mit glitzerndem Perlenschmuck darin, die sie sich machen lassen würde. Sie träumte vom köstlichen Essen in einem Café in Neapel, von Cappuccino und perlendem Champagner, von dem sie glaubte, er schmeckte süß und leicht. In den Romanen tranken die Damen auf den Bällen immer Champagner. Ihr Prinz musste ihr zum Essen auf jeden Fall ein Glas Champagner reichen. Doch oft, wenn sie meinte, in einem Winkel des Gartens oder auch in der barocken Klosterkirche allein zu sein, tauchte eine der Schwestern auf, deren Namen sie sich nie merken konnte, weil die Nonnen für Chiara unter ihren Schleiern alle gleich aussahen.

»Schwester Chiara, was machst du so allein hier?«, sagte diese Schwester. Selbst wenn es verschiedene Schwestern waren, die Chiara im Garten entdeckten, dieser Satz fiel trotz des Schweigegelübdes immer. Alleinsein wurde offenbar nicht gebilligt. Es machte Chiara verdächtig. Doch sie brauchte die Spaziergänge im Garten, den Duft des Jasmins und die Träumerei, damit der Druck auf ihrer Brust, der sie Tag für Tag schon morgens beim Aufstehen überkam, wieder etwas nachließ. Sie konnte sich die raue Leere in sich nicht erklären. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, ein Bett, sie bekam ausreichend zu essen, sogar Wein gab es zum Abendbrot, den sie zu Hause nie hatte trinken dürfen, und doch drückte ihr etwas, sobald sie sich zu den Laudes in die Kapelle begab, die Kehle so zu, dass sie kaum schlucken konnte. Sie sah Mamma vor sich, Matteo, Flora und Pasqualina. Die Hühner, die um das Haus liefen, Francescos Schafe. Silveria und die Romane aus der Zeitung. Zu gern wäre sie zu Signor Caccavo gegangen und hätte langweilige Heiligengeschichten abgeschrieben, zu gern hätte sie Mamma mit Pasqualina und Flora geholfen oder die Küche mit dem alten Reisigbesen ausgefegt, worüber sie sich immer so beklagt hatte, weil der Besen nicht mehr taugte, Mamma aber keinen neuen anschaffen wollte. Doch dabei hatte sie wenigstens reden und lachen und singen können. Singen konnte sie hier nur in der Messe, nur diese langweiligen Kirchenlieder, reden nur in den Pausen, aber auch nur das Nötigste und ganz leise, weil es sonst Sünde war. Und lachen, lachen konnte sie hier gar nicht. Es gab nichts zu lachen. Die Schwestern schienen nicht mal zu wissen, was Lachen eigentlich war. Bummelte Chiara oder redete ein paar Worte zu viel mit Anna, musste sie beichten. Danach hieß es noch mehr beten, noch mehr Vaterunser und Ave-Maria als Buße aufsagen.

»Stelle deinen Geist vor den Spiegel der Ewigkeit, stelle deine Seele in den Glanz der Herrlichkeit, stelle dein Herz vor die Gestalt des göttlichen Wesens und forme dein ganzes Ich durch die Beschauung in das Bild seiner Gottheit um.« Mit diesen Worten der heiligen Klara ermahnte die Äbtissin sie. Chiara konnte sich den Spiegel der Ewigkeit nicht vorstellen, die Herrlichkeit hatte für sie keinen Glanz, sie wollte ihr Ich nicht umformen. Sie wollte bleiben wie sie war. Rasch steckte sie die Hände in die Ärmel der Kutte und schwieg.

Francesco hatte immer viel und gern gebetet. Warum nur? Alle hatten immer den Kopf geschüttelt, aber er hat unbeeindruckt weitergebetet. Francesco hätte Chiara sicher etwas Tröstendes sagen können. Sein Trost war zwar nicht so, wie sie ihn brauchte, aber es war ein Trost. Sie hatte Francesco schon lange nicht mehr gesehen. Ein Jahr vor ihr war er ins Kloster eingetreten. Inzwischen war es Ende Mai, sie war schon fast fünf Monate bei den Klarissinnen. Eine Ewigkeit. Bei Francescos Abschied hatte trotz seiner Traurigkeit so ein Strahlen auf seinem Gesicht gelegen, als dieser Mönch ihn abgeholt hatte. Wie es ihm wohl ging?

»He, psst, Chiara«, flüsterte jemand hinter den Johannisbeersträuchern.

Chiara hob den Kopf. Sie saß auf einer kleinen Steinbank in der hintersten Ecke des Kräutergartens, versteckt zwischen dem blühenden Jasminstrauch und den Kletterbohnen. Hier überraschten die Schwestern sie nicht so oft.

Anna tauchte hinter den Sträuchern auf. »Weißt du eigentlich, die anderen zerreißen sich das Maul und verstoßen damit gegen das Schweigegebot, weil du immer allein sein willst.« Sie setzte sich neben Chiara. »Das fällt langsam auf.«

»Na und?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht anders. Manchmal ist mir einfach nur zum Weinen, und ich ertrage die anderen nicht.« Sie schluchzte leise auf, und obwohl sie die Tränen unterdrücken wollte, löste sich eine. Rasch wischte Chiara sie weg. »Entschuldige.«

»Schon gut. Hör mal, ich habe es mir überlegt«, sagte Anna, wobei sie eine der unreifen Bohnen abriss und auseinanderpulte. »Alleine komme ich hier nicht weg. Es fällt viel zu sehr auf, wenn ich das Kloster auf eigene Faust erkunde. Die anderen Novizinnen sind immer mindestens zu zweit unterwegs, und die behelligen die Schwestern viel seltener.«

»Wirklich?« Chiara drehte sich zu ihr. Anna runzelte die Stirn. Die winzigen Erbsen aus der Bohne lagen verstreut um ihre Füße.

Anna nickte und rupfte die nächste Bohne vom Strauch. »Wir sollten mehr zusammen machen, etwas, das alle sehen können. Dann sind die Schwestern beruhigt. Und du fällst auch nicht mehr so auf. Die Äbtissin lässt dich ja kaum noch aus den Augen. Die wartet doch nur auf eine Gelegenheit, damit sie dich mal richtig bestrafen kann. Nicht nur mit ein paar Vaterunser. Aber ich sag dir, die Strafzelle möchtest du wirklich nicht von innen sehen.«

»Die Strafzelle?« Chiara erschrak. Davon hatte sie noch nie etwas gehört, bisher hatte sie nach der Beichte als Buße wirklich immer nur Ave-Marias und Vaterunser beten müssen.

»Hast du die noch nicht gesehen? Die ist im Keller und ist ziemlich duster.« Anna zertrat die Erbsen auf dem Boden. »Ich bin da neulich mal dran vorbeigelaufen, als ich volle Flaschen aus dem Weinkeller holen sollte. Dabei habe ich einen Gang entdeckt. Der führt zum Hof, wo die Lebensmittel angeliefert werden. Ich hab’s mir genau angesehen.«

Chiara ergriff ihren Arm. »Wenn dich jemand erwischt hätte, Anna! Das war gefährlich.«

»Ach, gar nicht. Schwester Bruna ist schon so alt, die kommt gar nicht hinterher, wenn ich vorauslaufe, um irgendwas zu holen. In den Keller geht sie gar nicht mit, weil ihre Knie beim Treppensteigen immer wehtun, sagt sie.« Anna kicherte leise. »Chiara, wir müssen noch etwas durchhalten. Willst du immer noch mitkommen?« Sie nahm Chiaras Hände in ihre und drückte sie sanft.

»Ja.« Chiara stand auf, wobei nun sie nach Annas Händen griff. »Ich halte es hier nicht aus. Dieses ewige Beten und das Schweigen. Niemand lacht. Es ist alles so, so … traurig. So möchte ich mein Leben nicht leben.« Sie stockte. Ihre Worte waren vermessen. Sie hatte keine Not auszustehen, musste nicht frieren oder hungern. Und die Eltern entschieden, was ihre Töchter im Leben machten. So war das nun mal. Schon immer war das so. Mamma hatte ständig erzählt, ihre Eltern hatten sie mit Papà verheiratet und sie hatte nicht ein Wort mitreden dürfen. Sie war trotzdem glücklich, hatte sie jedes Mal gesagt, weil die Liebe mit der Zeit von selbst kam. Und so würde es bei ihr und ihrem Leben als Nonne auch sein. Da war sich Mamma sicher gewesen. Warum konnte sie sich also nicht mit dem Kloster abfinden? Andere konnten das doch auch. Rita beklagte sich nie. Sie hatte nicht mal bei der Einkleidung gezuckt, als ihnen die Haare abgeschnitten wurden. Es wäre Gottes Wille, dass sie Nonne würde, das hätte Francesco ihr gesagt.

»Na, dann sind wir uns ja einig«, sagte Anna und machte sich von ihr los. »Am besten verbringen wir die nächsten Pausen zusammen. So überzeugen wir die Äbtissin, dass wir beide fleißige Novizinnen sind. Und ganz nebenbei finden wir heraus, mit wem die Schwestern noch so Umgang haben, außer mit den Gläubigen in der Messe. Einverstanden?« Um Annas Augen entstanden Lachfältchen.

»Ja, natürlich.« Die letzten Sonnenstrahlen ließen die Baumspitzen jenseits der Klostermauern wie Leuchtfeuer aufflammen. Als zeigten sie ihr den Weg. Ein paar Jasminblüten rieselten auf Chiara und Anna herab, als die kleine Glocke sie zum Komplet rief. Seite an Seite verließen sie den Garten und versammelten sich mit den anderen Schwestern zum Nachtgebet in der Kirche.