The Walking Dead: Taifun

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Zhus Windteam brach im Morgengrauen auf. Wie er prophezeit hatte, löste sich der starke Nebel im ersten Licht des Tages auf. Das Frühstück hatte aus den verbliebenen Hundertjährigen Eiern bestanden, die Elena noch mehr hasste als Durian. Doch da ihnen der Klebreis ausgegangen war, aß sie jedes Stück, das er ihr anbot.

Zhu führte sie über die Treppe ins oberste Stockwerk, wo sie durch ein Fenster in der Seitenwand auf das nächste Dach sprangen. Sie gingen vorsichtig an dem im Stil einer Pagode errichteten Dach bis zur Ecke und kletterten dann auf allen vieren zum First hinauf. Sie bewegten sich langsam und vorsichtig, denn durch den feuchten Nebel waren die Dachziegel glitschig geworden.

»Wehe hindurch, als wärst du nie hier gewesen«, murmelte er, ohne den Blick von seinen Füßen zu nehmen. Diese Redewendung wurde jedem Windteam während der Ausbildung eingebläut. Als sie tiefer ins Dorf vordrangen, füllten sich die Straßen unter ihnen mit jiāngshī. Fast alle standen völlig reglos da, als würden sie zur Terrakottaarmee gehören. Der Anblick ließ Zhu zu den rastlosen Gedanken zurückkehren, die er sich in der letzten Nacht gemacht hatte: Schliefen jiāngshī? Träumten sie? Es spielte keine Rolle. Hauptsache, sie wurden nicht gestört, denn Unruhe war ansteckend. Ein Meer von unruhigen, aufgeregten jiāngshī hätte das Windteam nur abgelenkt und das durfte es sich nicht erlauben. Ein Schwarm Kraniche flog tief über sie hinweg, als Zhu einen Schrei hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah, wie Elena mit den Füßen voran über das steile Dach rutschte, während sie sich verzweifelt festzuhalten versuchte. Er warf sich in ihre Richtung und rutschte über die rauen Dachziegel, erkannte jedoch, dass er es nicht schaffen würde. Doch dann gelang es Elena zu seiner Überraschung doch noch, sich festzuhalten, und er schlitterte an ihr vorbei. Die Dachkante kam rasch auf ihn zu. Er stellte sich vor, wie er mit dem Kopf zuerst in ein Meer aus jiāngshī stürzte, aber dann wurde sein Fall abrupt gestoppt.

Er sah zurück und entdeckte Elena, die flach auf dem Dach lag. Mit einer Hand hielt sie sich an einem Griff fest, die andere hatte sie um eine Handvoll Stoff seines Hosenbeins gekrallt. Er konnte sich nicht erklären, wie es ihr gelungen war, nicht nur sich selbst, sondern auch ihn zu retten. Zhu richtete sich vorsichtig auf und kroch auf allen vieren zu ihr. Zusammen kletterten sie zum Dachfirst hinauf. Bo half ihnen auf.

Zhu ergriff Elenas Arm. »Gut reagiert.«

Sie hob die Finger und wackelte damit. »Das jahrelange Herumklettern im Guadalup-Gebirge hat sich also doch gelohnt.«

Er warf einen Blick auf ihre Turnschuhe, die bis auf die Innensohlen abgelaufen waren. »Wir müssen dir ein neues Paar Schuhe besorgen«, murmelte er.

»Größe 39 und wenn es geht, in Pink.«

Er lachte leise. »Mal sehen, was sich machen …« Er hielt abrupt inne und wandte sich dem Horizont zu. Eine Sekunde lang kam es ihm so vor, als würde sich im obersten Stockwerk des Gebäudes auf der anderen Straßenseite etwas bewegen. Er ließ den Blick über die Dächer gleiten, fand jedoch nichts.

Bo folgte seinem Blick. »Was ist los?«

Elena kniff die Augen zusammen und griff nach ihrem Bogen.

Zhu starrte noch einige Sekunden lang auf das Dach, wandte sich dann jedoch ab. »Nichts. Ich dachte nur, ich hätte etwas gesehen. Bleibt wachsam.«

Die drei drangen noch vorsichtiger als zuvor ins Dorf vor. Am Ende der Straße stießen sie auf ein totes Stromkabel, das über die Straße führte. Zhu ging voran, um sicherzustellen, dass es sein Gewicht aushielt. Er schlang Arme und Beine um das Kabel, hängte sich mit dem Kopf nach unten daran und zog sich zur anderen Straßenseite, ohne einen Blick nach unten auf den Strom der Toten zu werfen. Hier im Dorfzentrum gab es so viele, dass man den Boden nicht mehr sehen konnte. Zhu hatte die andere Seite fast erreicht, als er nach unten blickte, um einen Halt für seine Füße zu finden. Das war ein Fehler, denn der Strom der jiāngshī wogte hin und her und streckte ihm die zu Klauen gekrümmten Finger entgegen.

Die jiāngshī hatten sie also doch noch bemerkt und ihre animalische, irrsinnige Wut lähmte ihn. Seine Gedanken überschlugen sich. Zhu war es nach dem Ausbruch der Epidemie gelungen, seine Gefühle abzuschotten. Nur so konnte man in dieser furchtbaren Realität überleben. Er stellte sich dem Gedanken, dass es sich bei den jiāngshī um von den Toten auferstandene Menschen handelte, nicht. Stattdessen tat er so, als wären sie Kreaturen, die man umbringen oder vermeiden musste. Er musste stark sein, sonst würde er sich nicht um Elena kümmern können. Aber nach dem, was er letzte Nacht in der Wohnung seiner Großeltern entdeckt hatte … Er schloss fest die Augen und nahm einige kurze, flache Atemzüge, während er am ganzen Körper zitterte.

Zhu wusste nicht, wie lange er an dem Kabel gehangen hatte, aber auf einmal stach ihn etwas von hinten, nicht fest genug, um die Haut aufzureißen, aber so fest, dass er erschrocken aufschrie. Er sah am Kabel entlang und entdeckte Elena hinter sich. Sie hatte die Beine über das Kabel geschlagen und hielt sich mit einer Hand daran fest. In der anderen sah er ihren kurzen Speer.

Die Umgebung kehrte in sein Bewusstsein zurück. Auf einmal schmerzten seine Arme und das Blut schoss ihm in den Kopf. »Alles okay«, rief er, als er sich auf den Weg zur anderen Seite machte.

Er ließ sich vorsichtig auf das Dach fallen und fing Elena auf, die ihm in die Arme fiel. Er hielt sie sogar noch fester als zuvor das Kabel. »Danke, dass du mir geholfen hast«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Jag mir nie wieder so eine Angst ein, Arschloch.« Ihre Stimme zitterte. »Du hast eine ganze Minute nur so da gehangen. Was war denn los?«

Sie umarmten sich noch, als Bo auf dem Dach ankam und ihnen auf die Schultern tippte. »Ich habe niemanden zum Umarmen.« Elena stieß wieder diesen gurrenden Laut aus und schien ihn in die Umarmung einbeziehen zu wollen. Aber Bo hob die Hände. »Nein, das meinte ich nicht. Ich will nur weiter.«

Das war wahrscheinlich eine gute Idee. Sie hatten hier ohnehin schon zu viel Zeit verschwendet. »Kommt«, sagte Zhu. »Es ist nicht mehr weit.«

»Was ist nicht mehr weit?«, fragte Elena. »Wo gehen wir hin?«

»An einen Ort, an dem es angeblich gute Beute gibt.« Zhu führte sein Windteam zu einer schmalen Gasse, die zwei einst belebte Straßen miteinander verband. Zum Glück gab es hier nicht so viele jiāngshī. Er zeigte auf eine Tür im Erdgeschoss. »Da drin.«

Sie sprangen gleichzeitig vom Dach und landeten in einer kleinen Gruppe jiāngshī. Zhu stürzte sich auf die beiden links von ihnen, während der Rest seines Teams sich um die drei rechts von ihnen kümmerte. Zhu riss seine Machete hoch und schlitzte einen jiāngshī vom Bauchnabel bis zum Hals auf. Die Kreatur taumelte nach vorn, obwohl sich ihre linke Brusthälfte vom Körper schälte und dabei einige gebrochene Rippen und einen lila-roten Fleischklumpen freilegte, den Zhu für einen Lungenflügel hielt. Er zog die Machete zurück, die jedoch zwischen zwei Rippen stecken blieb. Der jiāngshī schlug mit seinem unverletzten Arm nach ihm. Zhu stieß ihn zur Seite und stellte den Fuß auf seine Brust, genau in die violette Masse. Er stemmte sich mit dem Fuß in den Körper und zog gleichzeitig, bis er die Klinge befreien konnte.

Diese kurze Verzögerung erwies sich als kostspielig, denn nun stürzte sich der andere jiāngshī auf ihn. Zhu versuchte, ihm auszuweichen, doch die Kreatur kollidierte mit ihm und schlang ihre Arme um seine Hüften. Dieser jiāngshī war ein großer, kräftiger und pummeliger Kerl, der Zhu um einiges überragte und fast doppelt so breit war. Zhu wand sich, als der jiāngshī seine Arme um seine schlang und sie ihm gegen den Körper presste. Dann riss er den Mund auf und biss ihm in die Schulter. Zhu schrie.

Elena schrie ebenfalls. »Nein! Ich hab kein freies Schussfeld.«

Zhu schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, als er darauf wartete, dass ihm das Fleisch aus dem Körper gerissen wurde und ihm sein eigenes Blut ins Gesicht spritzte. Das war es dann also für Chen Wenzhu. So breitete sich die Epidemie aus. Man überlebte einen jiāngshī-Biss nicht, man starb und kehrte als jiāngshī zurück. Einige Leute hatten einen Biss überlebt, weil die betroffene Stelle schnell genug herausgeschnitten oder amputiert worden war, aber das brachte Zhu nichts. Er war sich ziemlich sicher, dass man eine Schulter nicht abschneiden konnte.

Zum jiāngshī zu werden war schlimmer als der Tod, denn er würde die Lebenden angreifen und diese Seuche weiterverbreiten. Die Vorstellung, dass er die Menschen verletzen würde, die ihm nahestanden, war bestürzend. Elena und Bo würden ihn erledigen müssen …

Doch diese Prophezeiung erfüllte sich nicht, denn Zhu spürte nur einen dumpfen Schmerz in der Schulter, fast so wie bei einer Massage. Er öffnete vorsichtig ein Auge, betrachtete den jiāngshī genauer und sah, dass es sich bei ihm um einen alten Mann handelte. Anstelle der Zähne sah er nur graues, feucht glänzendes Zahnfleisch. Der jiāngshī hatte sein Gebiss verloren. Trotzdem versuchte er, mit dem Zahnfleisch an Zhu zu nagen.

Eine Pfeilspitze schoss aus seiner Brust. Der jiāngshī zuckte, ließ sich aber nicht von seinem Vorhaben abbringen. Zhu gelang es, einen seiner Arme zu befreien. Er legte die Hand an den Hals des jiāngshī und versuchte, ihn zurückzustoßen. Ein zweiter Pfeil bohrte sich in den Nacken des jiāngshī und trat vorne am Hals aus, wobei er die Haut zwischen Zhus Daumen und Zeigefinger aufriss.

 

Er starrte aus geweiteten Augen auf die Pfeilspitze. Ein paar Zentimeter weiter rechts oder links und er hätte einen Finger verloren. Er wandte sich der Schützin zu. »Pass doch auf!«

Dann war Bo auch schon da und riss den jiāngshī an den Haaren zurück. Der kräftige Mann warf den schweren Toten zu Boden und zermalmte ihm den Kopf mit seinem Vorschlaghammer.

Elena tauchte einen Moment später neben Zhu auf. Ihr Blick wirkte fast schon panisch, als sie sein Hemd nach unten zog und nach Wunden suchte. Seine Schulter war ekelhaft nass, aber die Haut war unverletzt.

Zhu und Elena atmeten erleichtert auf und umarmten einander.

Sie blieben eine Weile so stehen, während das Adrenalin aus ihren Körpern wich. Draußen in der Wildnis war es immer gefährlich, aber so knapp war er dem Tod nur selten entkommen, und das auch nur, weil er Glück gehabt hatte. »Das war knapp.«

»Zu knapp.« Sie wich zurück und stieß ihm den Finger in die Brust. »Du musst vorsichtiger sein, Chen Wenzhu. Ich schwöre dir, wenn du zum jiāngshī wirst, werde ich dich nicht erledigen, sondern als Haustier behalten und dich Zhu Zhu nennen.«

»Das klingt gar nicht mal schlecht«, sagte er halb im Scherz. »Tut mir leid. Ich bin heute unkonzentriert. Mir geht viel durch den Kopf.«

»Willst du darüber reden?«

Er sah sich um. »Später. Jetzt ist kein guter Zeitpunkt.«

»Ich werde dich daran erinnern.« Sie hob mahnend den Zeigefinger. »Du kannst von Glück sagen, dass Bo und ich auf dich aufpassen. Aber verlass dich nicht zu sehr darauf, Mister.«

Er zeigte auf die Tür. »Bo, kannst du uns reinbringen?«

»Schon dabei.« Bo wandte sich der Tür zu. Er schwang seinen Vorschlaghammer wie einen Baseballschläger. Der kollidierte mit dem Türknauf, aber abgesehen von einem dumpfen Knall passierte nichts. Bo runzelte die Stirn. Er schlug noch einige Male auf die Tür ein, wobei er bemerkenswert viel Lärm machte, sie aber trotzdem nicht öffnen konnte.

Elena zupfte an Zhus Ärmel. »Wir locken Zuschauer an.«

jiāngshī tauchten an beiden Seiten der Gasse auf, um sich anzusehen, was dort los war. Einer nach dem anderen schlurfte auf das Windteam zu. Bo schlug härter und wütender auf die Tür ein, aber damit verursachte er nur noch mehr Lärm und lockte weitere neugierige jiāngshī an. Die beiden Gruppen kamen immer näher.

»Spar dir deine Kräfte«, sagte Zhu zu dem keuchenden, schwitzenden Bo, als der den Vorschlaghammer sinken ließ, um zu Atem zu kommen. »Die werden wir gleich noch brauchen.«

»Gegen so viele können wir nicht kämpfen«, widersprach Elena. Das stimmte. Die vielen jiāngshī auf diesem beengten Raum würden sie innerhalb von Sekunden überrennen. Elena sah zu einem schmalen Fenster über der Tür hinauf. »Hilf mir hoch.«

Zhu verschränkte die Finger ineinander und stemmte sie hoch. Elena zog ihr Messer und schlug die Scheibe mit dem Griff ein.

»Sie kommen«, sagte Bo.

»Ich brauche nur noch ein paar …« Elena wischte die Scherben weg und verschwand im Inneren des Hauses.

Bo schlug mit seinem Vorschlaghammer nach dem erstbesten jiāngshī und zertrümmerte dessen Schlüsselbein mit einem deutlich hörbaren Krachen, während Zhu darauf wartete, dass die jiāngshī auf der anderen Seite näher kamen. Er würde höchstens zwei oder drei töten können, bevor die anderen ihn überrannten. Hinter Zhu wurde an der Tür gerüttelt. Er stach einem jiāngshī ins Gesicht und zog sich zurück, bis er mit dem Rücken gegen Bo stieß. Die beiden Gruppen waren nur noch wenige Meter voneinander entfernt.

»Hör zu, xiăodì«, sagte Bo. »Wir müssen nicht beide sterben. Ich kann dich zum Fenster hochheben.«

»Gut.« Zhu zögerte nicht. Die Toten waren zwar langsam, aber sie zögerten nie. Das war eine der ersten Lektionen, die jeder angehende Windläufer lernte. Sie alle mussten sich der unvermeidlichen Tatsache stellen, dass sie früher oder später fallen und sich dem Feind anschließen würden. Die Frage war nur, ob sie auf eine gute Weise sterben würden.

Wie Windmeister Hengyen oft sagte: »Wenn ihr Zeit damit verschwendet, euch über die Rechnung zu streiten, werdet ihr sie am Ende beide bezahlen.«

Bo stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür und verschränkte die Finger ineinander. Er warf einen Blick auf die heranschlurfenden jiāngshī und seufzte. »So passiert das in meinen Albträumen auch immer. Pass gut auf meine xiăomèi auf.«

Zhu stellte sich auf Bos Hände. »Es tut mir leid.«

Bo zuckte mit den Schultern. »Schneide ein Glied ab, um den Körper zu retten. Töte einen Mann, um das Team zu retten. Opfere die Armee, um die Revolution der Lebenden zu retten.« Ein weiterer Slogan.

Als Zhu von Bo hochgestemmt wurde, ging die Tür auf und beide Männer fielen um sich tretend und mit den Armen rudernd ins Innere. Elena schlug die Tür hinter ihnen zu und verriegelte sie wieder.

Sie beugte sich besorgt über die beiden. »Alles in Ordnung? Seid ihr gebissen worden?«

Zhu, der quer über Bo lag, rutschte von ihm. Er musste lachen, als ihn die Erleichterung überkam. Bo setzte sich auf und stimmte in das Gelächter ein.

»Ich hätte eh nicht durch das Fenster gepasst«, sagte Zhu.

Bo kicherte. »Ich weiß. Ich dachte, sie würden sich an mir satt essen und dich vergessen.«

Das Stöhnen der jiāngshī, die mit ihren Fingernägeln über die Tür kratzten, klang lauter, als ihr Gelächter nachließ.

Elena half beiden auf. »Wo sind wir? Zhu, woher kennst du diesen Ort?«

Er antwortete nicht, sondern sah sich im Raum um, damit seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Sie waren in einer großen Autowerkstatt. Zhu glaubte, die Umrisse eines Traktors zu erkennen, der ohne Räder auf einer Hebebühne stand. An der gegenüberliegenden Wand entdeckte er einen alten Lieferwagen. Kisten voller Autozubehör stapelten sich an der Rückwand. Die Luft roch muffig, was gut war. Normalerweise bedeutete das, dass ein Raum nicht von außen zugänglich war. Und er roch auch keine Toten. Vielleicht hatten sie dieses Mal wirklich Glück.

Das war der Ort, an den er sich erinnerte. Von früher …

Doch heute hatte sein Windteam einen Volltreffer gelandet. Er lief zu einem Regal und wühlte sich durch den Inhalt: eine Kiste mit Kühlmitteln, Lichterketten und eine Schublade mit Elektrowerkzeug. Er riss einen Karton auf und hob die Faust. »Öldosen.«

Elenas Miene hellte sich auf. »Für die gibt es Extrapunkte!«

Sie teilten sich auf und durchsuchten den nasskalten Raum. Dabei mussten sie den Wert eines Gegenstands und sein Gewicht abwägen. Die Reise nach Hause würde zwei oder drei Tage in Anspruch nehmen, also durften sie nicht zu gierig sein. Zhu bat Bo, sich den Lieferwagen anzusehen. Autoteile wurden dringend benötigt, deshalb würden sie für die viele Punkte bekommen. Er sagte Elena, sie solle Öldosen einpacken und unbeschädigte Scheinwerfer, während er selbst Ersatzteile und Elektrowerkzeug einsteckte. Einer der Mechaniker im Lichtblick hatte um eine Lichtmaschine für Motorräder gebeten. Elenas Blick glitt suchend über die Kisten. Sie hoffte, irgendein Schriftzeichen zu finden, das wenigstens entfernt mit dem für »Motorrad« verwandt war.

Zhu und Bo nahmen alles mit, was wertvoll war und sich tragen ließ. Einige Schätze wie eine Kiste voller Autobatterien und einige volle Benzinkanister mussten sie jedoch wegen der Größe und des Gewichts stehen lassen. Seit das Stromnetz nicht mehr funktionierte, gab es eine große Nachfrage nach allem, mit dem sich Energie gewinnen ließ, doch die Kanister und Batterien konnten sie nicht bis zum Lichtblick tragen. Sie waren viel zu schwer. Andere Dinge, zum Beispiel Öldosen und Schraubenzieher, waren ihr Gewicht in Gold wert. Nicht dass Gold noch etwas wert gewesen wäre.

Der Motor des Lieferwagens auf der anderen Seite der Werkstatt hustete einige Male und sprang an. Bo kletterte vom Fahrersitz und schloss triumphierend die Motorhaube. »Xiăodì, das Ding läuft noch. Ich habe nur eine neue Batterie eingesetzt. Es wäre eine Schande, den Motor auseinanderzunehmen. Können wir den nicht beladen und damit nach Hause fahren?«

Zhu schüttelte den Kopf. »Das ist Wunschdenken. Wir würden damit nicht durch den Strom der jiāngshī kommen. Nimm nur mit, was du tragen kannst.«

Bos Miene verdunkelte sich. »Na gut.« Er schaltete den Motor ab und verschwand hinter dem Lieferwagen.

Zhu wollte gerade nach Elena sehen, als ein Schrei durch die Werkstatt gellte. Eines der Metallregale, die die Werkstatt unterteilten, fiel um und verteilte seinen Inhalt auf dem Boden. Bos Taschenlampe rollte durch die Werkstatt und ihr Lichtkegel zuckte über die Wände.

Zhu richtete seine Taschenlampe auf die Quelle des Lärms. Bo war es irgendwie gelungen, gegen ein Regal zu laufen und es umzuwerfen. Nun saß er auf dem Hintern in einem der Zwischenräume und seine Füße zappelten in der Luft. Zhu blieb das Lachen jedoch im Hals stecken, als sich etwas knapp hinter Bo bewegte.

Gutturales Stöhnen hallte durch die Werkstatt. Die Laderaumtüren des Lieferwagens schwangen auf und ein Strom jiāngshī ergoss sich auf den Boden wie Lemminge, die von einer Klippe sprangen. Ihre schwarzen Helme und die kegelförmigen Hüte verrieten, dass es sich um Polizisten und Bauern handelte.

Ein in Kampfausrüstung gehüllter jiāngshī würde mit ihren primitiven Waffen nur schwer zu besiegen sein.

Ein schon seit Langem toter Polizist und ein jiāngshī, der eine Lederschürze trug, kamen vom Boden hoch und schlurften auf Bo zu. Der Tritt des großen Mannes warf den Polizisten zurück, doch der Schürzenträger fiel auf ihn. Bo gelang es, ihn am Hals zu packen, sodass der jiāngshī ihn nicht beißen konnte, doch dessen Fingernägel gruben sich in sein Gesicht.

Zhu griff rasch nach seinem mit Beute gefüllten Seesack und eilte zu seinem Freund. Elena erreichte ihn zuerst. Sie holte mit ihrem Speer aus und stieß ihn dem jiāngshī in den Hinterkopf. Zhu kam einen Moment später dazu und erledigte mit seiner Machete routiniert zwei Tote, während Elena Bo aufhalf. Er erstach eine jiāngshī, die ein Kleid trug, wäre aber beinahe über einen umgefallenen Stapel Reifen gestolpert.

Elena und Bo zogen sich zur Tür zurück. Immer mehr jiāngshī versammelten sich in der Werkstatt.

»Nein«, schrie Zhu. »Wir können nicht zurück in die Gasse.«

Elena fuhr hektisch herum. »Anders kommen wir hier nicht raus.«

Das stimmte. Abgesehen von der Werkstatttür gab es nur noch einen Ausgang in der gegenüberliegenden Wand, doch um den zu erreichen, hätten sie sich durch den ganzen Raum kämpfen müssen. Erneut knirschte Metall und ein weiteres Regal fiel um, dann schob sich die jiāngshī-Menge auch schon auf sie zu. Eines der Regale landete auf dem Traktor und drückte ihn von der Hebebühne. Er zerquetschte einige jiāngshī.

Zhu sah nach oben. Unter der Decke gab es eine Reihe schmaler Fenster. Er zeigte darauf. »Da hoch. Wir klettern.«

Er erstach einen jiāngshī, der Mechanikerkleidung trug, und rüttelte dann an dem Regal, das an dem Traktor lehnte.

Er kletterte schnell hinauf und benutzte die Metallböden als Leiter. Einige Arme griffen durch die Öffnung nach seinem Bein. Ein kahlköpfiger jiāngshī, der als Großmutter Maribelles Ehemann hätte durchgehen können, biss in seinen Schuh. Zhu versuchte, den Großvater abzuschütteln, doch der ließ nicht locker, sondern knurrte wie ein Chongqing Dog. Dieser hatte Zähne und nagte sich rasch durch den Turnschuh. Zhu gab auf, zog den Fuß zurück und überließ dem Großvater den Schuh. Er kam an der Oberseite des Regals an und winkte den anderen zu. »Beeilt euch!«

Elena gelangte als Erste zu ihm. Sie starrte auf die Lücke zwischen dem umgefallenen Regal und dem, das noch an der Wand unter den Fenstern stand. Sie schüttelte den Kopf. »Das schaffe ich nicht.«

Zhu packte sie an den Schultern. Dann küsste er sie unsanft und sah ihr in die Augen. »Du schaffst das. Ich folge dir, aber du musst als Erste springen.«

Elena nickte. »Wehe, du folgst mir nicht, Chen Wenzhu.«

Sie atmete tief durch und sprang über die Lücke. Mit einem Fuß landete sie auf dem Regal, doch mit dem anderen verfehlte sie es. Eine Hand griff nach ihrem Knöchel und sie wäre beinahe heruntergefallen, doch da tauchte Bo auf. Er schwang seinen langen Vorschlaghammer und zermalmte den Arm des jiāngshī am Ellbogen. Elena zog ihr Bein hoch und schüttelte die abgetrennte Hand von ihrem Knöchel, als wäre sie ein großes, widerliches Insekt.

 

Zhu wartete, bis Bo zu ihm hinaufgeklettert war. Das Regal schwankte unter den beiden ausgewachsenen Männern, die auf ihm standen. »Los, xiăodì«, sagte Bo.

Zhu schüttelte den Kopf. »Du hast mich in der Gasse vorgelassen. Jetzt bist du dran.«

Bo zögerte ebenfalls nicht. Er sprang über die Lücke und landete neben Elena auf dem Regal. Die Kraft seines Absprungs sorgte jedoch dafür, dass Zhus Regal von der Wand weggestoßen wurde. Zhu schwankte, als es sich unter ihm verschob. Er ging auf alle viere, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, musste sich dabei aber auch gegen die jiāngshī wehren, die unter dem Regal festsaßen und nach ihm griffen. Durch ihre zunehmenden Bewegungen rutschte das Regal langsam vom Traktor.

Zhu musste sofort reagieren, denn das Regal wurde nun nur noch von der wogenden jiāngshī-Menge aufrecht gehalten. Eine Sekunde bevor es zu Boden gerissen wurde, stieß er sich ab. Es gelang ihm, sich mit den Fingern an das Dach des Lieferwagens zu krallen. Mit aller Kraft zog er sich hoch.

»Zhu!«, schrie Elena und griff durch das Fenster nach ihm.

»Xiăodì!«, brüllte Bo gleichzeitig.

Zhu brachte kein Wort über die Lippen. Mit einer Geste befahl er seinem Windteam, ohne ihn zu gehen. Mit wachsender Verzweiflung sah er zu, wie Bo die Scheibe einschlug und versuchte, Elena dazu zu bringen, durch das Fenster zu klettern. Als sie sich weigerte, hob er sie hoch und schob sie hindurch. Zhu sah noch, wie Elena die Hand nach ihm ausstreckte, dann verschwanden sie und Bo.

»Gut gemacht«, murmelte Zhu und ließ den Kopf hängen. »Pass gut auf sie auf.«

Er hatte das Versprechen, das er Elena gegeben hatte, nicht halten können, aber wenigstens hatte sie es geschafft. Er saß fest, aber noch lebte er. Ein Teil von ihm fragte sich, ob es nicht besser wäre, einfach zu sterben. Er schloss die Augen und setzte sich auf. Die jiāngshī drängten sich an einer Seite des Lieferwagens, stemmten sich dagegen und griffen stumpfsinnig nach ihm. Zhu erwog, hinunterzuspringen, sein Schicksal anzunehmen und sich von ihnen zerfleischen zu lassen. Das wäre jedenfalls besser, als umgeben vom Gestank der jiāngshī auf dem Dach eines verstaubten Lieferwagens zu sitzen und zu verhungern. Er zog seine Machete. Vielleicht sollte er sich einfach die Pulsadern aufschneiden.

Als er auf die Motorhaube des Lieferwagens starrte, fiel ihm auf einmal etwas ein. Er warf einen Blick auf die andere Seite des Lieferwagens. Dort war niemand.

»Ich hoffe, du hast den Schlüssel stecken lassen, Bo«, murmelte er.

Zhu atmete tief durch und sprang zu Boden. Zum Glück war die Tür unverschlossen und der Schlüssel steckte noch im Zündschloss. Er murmelte ein Gebet und drehte den Schlüssel. Der Motor wimmerte einige Male. Ein jiāngshī tauchte an der Beifahrerseite auf und schlug mit den Fäusten gegen das Fenster. Ein anderer zog sich auf die Motorhaube. Weitere gesellten sich dazu. Es knackte in der Windschutzscheibe, dann breitete sich ein Riss darin aus.

Zhu biss die Zähne zusammen. »Komm schon, komm schon! Spring an!«

Eine höhere Macht schien sein Gebet erhört zu haben, denn der Motor erwachte endlich zum Leben. Zhu trat das Gaspedal durch und mit quietschenden Reifen fuhr der Lieferwagen los, kam aber nur bis zum Werkstatttor. Zhu überfuhr ein paar jiāngshī und setzte zurück. Vor und zurück. Immer wieder. Schließlich wurde das Tor aus den Angeln gerissen und der Lieferwagen war frei.

Zhu fuhr ihn aus der Werkstatt und streifte die Ecke eines Backsteingebäudes auf der anderen Seite der Gasse. Er bog in einen kleinen Parkplatz ein und überfuhr auf dem Weg dorthin noch einige jiāngshī. Er lenkte den Lieferwagen auf die Straße zu und warf einen Blick auf die jiāngshī-Gruppen, die dort überall standen.

Zhu versuchte, an ihnen vorbeizufahren. Eine solche Gruppe konnte den Lieferwagen ebenso an der Weiterfahrt hindern wie eine Mauer. Er musste diese Gegend so schnell wie möglich verlassen. Und vor allem musste er sich von den Straßen fernhalten. Leider führten nur wenige Wege ins Dorf und wieder hinaus und alle würden voll von jiāngshī und zurückgelassenen Fahrzeugen sein.

Der Lieferwagen streifte ein Holzhaus, dessen Dach einstürzte, und rammte zwei Wagen, als Zhu einer kleinen Gruppe jiāngshī auswich. Dann rumpelte er einen grasbewachsenen Hügel hinunter und brach einen großen, tief hängenden Ast ab, bevor er sich auf einen unbefestigten Weg kämpfen konnte. Er verbeulte ein weiteres Auto und hatte dann endlich freie Fahrt.

Einen Moment lang dachte Zhu darüber nach, umzudrehen und Bo und Elena abzuholen, aber ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass die jiāngshī von dem Lärm und dem Qualm angestachelt worden waren und nun hinter ihm her waren. Sie schlurften aus Häusern und Gassen und taumelten stöhnend und knurrend auf ihn zu. Er konnte sich nicht zurück ins Dorf schleichen. Und es brachte seinem Team mehr, wenn er die jiāngshī, die ihn verfolgten, so weit wie möglich vom Dorf wegführte. Also gab er Gas und rumpelte mit dem Lieferwagen über den Weg.

Zhu hatte den Dorfrand fast erreicht, als er eine große Gruppe jiāngshī zwischen der Hauptstraße und einem Feld, hinter dem das Dorf endete, entdeckte. Er bog scharf nach rechts ab und wäre mit dem Lieferwagen beinahe umgekippt, als er sich durch das hohe Gras und die Toten pflügte. Körper prallten vom Lieferwagen ab und erschütterten die Fahrerkabine.

Der Lieferwagen blieb abrupt in einem Reisfeld stehen, als er plötzlich nach vorn in den Schlamm kippte. Zhu wäre beinahe durch die Windschutzscheibe geflogen. Er krachte mit dem Kopf gegen das Glas, wurde heftig zurückgeschleudert und knallte gegen die Kopfstütze. Die Welt schwankte und auf einmal sah er alles dreifach.

Er blinzelte einige Male, um die Benommenheit zu vertreiben. »Anschnallen wär ’ne gute Idee gewesen«, knurrte er. Dann warf er einem Blick aus dem Seitenfenster und sah einen jiāngshī, der einen kegelförmigen Hut und ein einfaches Hemd trug, durch den Schlamm auf den Lieferwagen zuschlurfen.

Zhu wollte sich in seiner Verfassung auf keinen Kampf einlassen. Er zog sich auf die Beifahrerseite und öffnete die Tür. Er stand ein wenig zu schnell auf. Die Welt drehte sich noch, als er den Lieferwagen verließ und mit dem Gesicht nach unten in den Schlamm fiel. Das eiskalte Wasser stach wie Nadeln in seine Haut, als sein Gesicht einen Moment lang untertauchte. Das riss ihn aus seiner Benommenheit und er kam auf Hände und Knie. Er zog seinen Seesack aus dem Wagen und sah sich nach einem Fluchtweg um. Dann richtete er sich langsam auf die Knie auf und überprüfte seinen Gleichgewichtssinn. Ihm war immer noch schwindelig, aber wenigstens schwankte die Welt nicht mehr so stark. Er wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht und hielt inne.

In der Nähe standen zwei Gestalten, die schwere Arbeitskleidung trugen. Im ersten Moment hielt Zhu sie für jiāngshī. Er griff nach seiner Machete, erstarrte jedoch, als eine der Gestalten einen Knüppel herauszog.

Zhu hob die Hände. »Halt«, flehte er. Seine Worte klangen durch den Schlamm in seinem Mund dumpf. »Wer seid ihr? Ich brauche Hilf…«

Zhu konnte den Satz nicht mehr beenden, denn eine der beiden Gestalten machte einen Schritt auf ihn zu und ließ den Knüppel gegen seine Schläfe krachen.