In der Fremde glauben

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From the series: Erfurter Theologische Studien #108
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„Zum großen Leidwesen des Seelsorgers wanderten viele, besonders solche, die am meisten beim Bau u. Schachten mitgeholfen hatten, aus. Als ich nach einem kurzen Urlaub bei meiner Mutter in Somborn (Freigericht) bei Hanau am Main nach Gispersleben zurück kam, waren 160 verschwunden. Da sagte ich mir: Wozu die ganze Mühe?“81

Die Gründe für eine Weiterwanderung sind verschieden. Sicherlich spielten der Lastenausgleich der Bundesrepublik und die staatlichen Repressionen in der SBZ/DDR eine Rolle. Die „kurzfristige und ephemere Umsiedlerpolitik“82 der SBZ/DDR beförderte zweifellos durch eine verordnete Assimilation zusammen mit dem verordneten Heimatverzicht in weiten Teilen diese Westabwanderung.

Exkurs: „Umsiedlerpolitik“ im Arbeiter- und Bauernstaat

Die „Umsiedlerpolitik“ in der SBZ/DDR folgte zwei Maßgaben. Zum einen der Deklarierung der Unmöglichkeit der Rückkehr der Vertriebenen in die alte Heimat – Menschen auf „gepackten Koffern“ mit attentistischer Grundhaltung konnte man beim Aufbau des Sozialismus nicht gebrauchen – zum anderen die Gleichberechtigung mit sozialpolitischen Integrationshilfen in der neuen Heimat.83 Diese von der SMAD und der KPD/SED getragene „Umsiedlerpolitik“ war bestimmt vom Endziel der rückhaltlosen Assimilation der Vertriebenen in die Ankunftsgesellschaft.84

Bereits der Blick auf die amtliche Sprachpolitik in der Einleitung dieser Untersuchung offenbart die Dynamik dieses Eingliederungsprozesses der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in der SBZ/DDR nach dem Zweiten Weltkrieg. So begann bereits 1948 das schrittweise eingeleitete Ende der spezifischen „Umsiedlerpolitik“. In jenem Jahr wurden auf Druck der Sowjets die Umsiedler-Sonderverwaltungen85 aufgelöst und in die Arbeits- und Innenverwaltung überführt.86 Einer kurzen Phase materieller Förderung mit dem Höhepunkt des DDR-Umsiedlergesetzes 1950 – einen Lastenausgleich gab es nicht, nur geringe Einmalzahlungen zur Anschaffung von Mobiliar und Hausrat87 – folgte schließlich Ende 1952/Anfang 1953 die offizielle Erklärung der DDR-Regierung, dass die Integration der „ehemaligen Umsiedler“ weitgehend abgeschlossen sei. Das Vertriebenenproblem wurde in der DDR-Öffentlichkeit und in den staatlich kontrollierten Medien nicht mehr thematisiert88 und dem gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess untergeordnet.89 Ein SED-Funktionär hielt diesbezüglich zusammenfassend fest: „Es gibt bei uns keine Umsiedlerfrage. Die neuen Bürger haben ihre neue Heimat gefunden. Die täglichen Probleme des Aufbaus, ihre volle Einschaltung in die politischen Ereignisse lassen Sentimentalitäten nicht zu. Solch ein chauvinistischer Revanchebegriff wie ‚heimatvertrieben’ existiert nicht im Wortschatz eines Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik.“90

Ab 1952/1953 wurden die Vertriebenen und ihre Aktivitäten als Unruhepotential in der Gesellschaft (innenpolitisch) und als Störfaktor in den ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen der DDR und Polen sowie zwischen der DDR und der Tschechoslowakei definiert (außenpolitisch). Damit begann die „negative Vertriebenenpolitik“91 des SED-Regimes, die v.a. in zwei Bereichen sichtbar wurde: Zum einen in der Frage der Formierung landsmannschaftlicher Treffen bzw. Selbstorganisationsversuchen der „Umsiedler“92 und zum zweiten in der Haltung der Vertriebenen bzw. der Bevölkerung insgesamt zur Oder-Neiße-Grenze.93

Besondere Vertriebenenvereinigungen würden nämlich aus SED-Sicht automatisch zum Aufbau von „Revanchistenorganisationen“94 führen, die die Oder-Neiße-Grenze und damit den Weltfrieden95 infrage stellen.96 Landsmannschaftliche Gruppierungen, Tendenzen zur Selbstorganisation von Vertriebenen und jede kulturelle Sonderidentität wurden daher von der SED verboten und vehement verfolgt. Die Geschichte von Flucht und Vertreibung wurde tabuisiert.97

Darum nahm die Relevanz innerkirchlicher Vertriebenenorganisationen erheblich zu, und auch die Kirchen gerieten mit ihrer Tätigkeit unter verstärkte polizeistaatliche Observation des SED-Staates.98 Der Katholizismus war – zusammen mit dem Protestantismus – die einzige widerwillig geduldete weltanschauliche Alternative zum Staatssozialismus.99

2.3 Neue Funktionsträger

Die Vertriebenen waren zum großen Teil religiös sozialisiert und suchten, in der Kirche ein Stück der verlorenen Heimat zu finden. Nur langsam konnte aber eine gewisse Planung und Ordnung in die Pastoral Einzug halten. Das Vorhandensein der während des Krieges evakuierten katholischen Priester aus den westlichen (Erz-)Diözesen war eine erste Grundlage dafür. In zahlreichen Dörfern befanden sich Geistliche, die rheinische Katholiken betreuten und sich schließlich auch der Heimatvertriebenen aus dem Osten annahmen. Der bekannteste und wohl am nachhaltigsten wirkende Evakuierten-Seelsorger in Thüringen dürfte der Kölner Diözesanpriester Joseph Plettenberg gewesen sein100, der im Juni 1944 zum Obmann der Kölner Seelsorger im Bistum Fulda ernannt wurde und mit Verhandlungsgeschick und pastoraler Umsicht die „Abgewanderten-Seelsorge“ für Thüringen leitete.101 In der Nachkriegszeit übte er wichtige Funktionen in der Vertriebenenseelsorge Thüringens aus.

Das Josef Plettenberg verliehene Amt des Obmannes erfuhr nach der Ankunft von Heimatvertriebenen in Mitteldeutschland einen ständigen Ausbau, was auch der Erfurter Dompropst Freusberg begrüßte. Zunächst wurde Plettenberg von seinen Aufgaben als Seelsorger in Großrudestedt entbunden102 und schließlich zum Bischöflichen Kommissar für die Abgewandertenseelsorge in Thüringen ernannt.103 Dieses Amt erfuhr alsbald einen enormen Bedeutungszuwachs, da Katholiken in Scharen nach Mitteldeutschland einströmten und die Pastoral bzw. der Einsatz der Priester einer zentralen Koordinierungsstelle bedurften.

Plettenberg wurde Bischöflicher Kommissarius104 in der schwierigen Zeit als die Kommunikation mit dem Fuldaer bzw. Kölner Ordinariat weitgehend unterbunden war und er notgedrungen Entscheidungen ohne Absprache mit der bischöflichen Behörde treffen musste. Durch die verworrenen Verhältnisse während der letzten Kriegstage, durch den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ und später auch durch die Behörden der SBZ wurde diese Entwicklung beschleunigt. Die zunehmenden Hemmnisse des Fuldaer Bischofs, in seinem östlichen Jurisdiktionsgebiet zu agieren und reagieren, erforderten es vermehrt, Entscheidungen vor Ort zu treffen.

Eine dauerhafte kirchliche Zentralisierung auf Erfurt hin bahnte sich zu dieser Zeit immer deutlicher an. Seit Jahresende 1944 erfolgte die Koordinierung der rheinischen Priester „wegen der schlechten Post- und Verkehrsverhältnisse“ vollständig von Erfurt aus, indem Dompropst Freusberg den Geistlichen die „Cura animarum“ erteilte, Obmann Plettenberg die Seelsorgebezirke zuteilte und die Priester in ihre Aufgaben einwies. Das Ordinariat in Fulda erteilte nachträglich die Genehmigung der Anstellung.105

Am 20. Januar 1945 errichtete der Bischof von Fulda in Erfurt schließlich ein eigenes Bischöfliches Kommissariat für die Abgewanderten-Seelsorge, das die gesamte Seelsorge an den evakuierten Katholiken nach festgelegten Richtlinien regelte, und ernannte Joseph Plettenberg zum Kommissar.106 Plettenberg arbeitete auch jetzt eng mit dem Leiter des Bischöflichen Geistlichen Gerichts, Dr. Freusberg, zusammen, mit dem er alle Versetzungen und Neuanstellungen der Priester – besonders im Dekanat Erfurt – besprach.107

Zunächst führten diese beiden Geistlichen eine Strukturreform der Diasporapfarreien durch, indem sie allzu große Seelsorgsbezirke provisorisch neu aufteilten. Für diese Umgruppierung erteilte das Generalvikariat in Fulda dem Bischöflichen Kommissar im Voraus die Genehmigung.108 So befanden sich beispielsweise die an der Pfarrgrenze der Pfarrei Weimar liegende Orte über 20 km vom Pfarrort entfernt, dagegen nur wenige Kilometer von Erfurt. Eine Neuumschreibung der Pfarreien war also durch die Migrationsströme und die damit verbundenen Neugründungen von Seelsorgestellen und Gottesdienststationen am Kriegsende unbedingt notwendig geworden.

Die in der Seelsorge an Evakuierten und Flüchtlingen eingesetzten Priester, zumeist aus der Erzdiözese Köln, wurden schließlich nur noch auf Antrag bzw. Anregung Plettenbergs angestellt.109 Er entschied – meist nach einer Rücksprache mit Freusberg – auch über Versetzungen, führte Verhandlungen mit den zuständigen Stellen für den katholischen Gottesdienst in evangelischen Kirchen110 und teilte dem Fuldaer Generalvikar stets neue Vorschläge über den zweckmäßigen Einsatz der Abgewandertenseelsorger mit.

In Erfurt rief man die monatlichen Konferenzen der Abgewanderten-Seelsorger ins Leben, an der stets 30 bis 40 Priester teilnahmen.111 Ziel dieser Zusammenkünfte war es unter anderem, eine einheitliche Regelung der auftretenden Schwierigkeiten zu erreichen.

Das Kölner Generalvikariat war über diese sich als eigenständig, zumeist der Verwaltung und Organisation widmenden Tätigkeit des Obmanns wenig erfreut. Am 28. Februar 1945 schrieb der Kölner Generalvikar an den Erfurter Dompropst Freusberg:

„Das Amt eines Obmannes war von uns gedacht nur als Zwischenstelle zwischen Ordinariat und Abgewanderten-Seelsorgern, soweit von ersterem allgemeine Anweisungen für letztere notwendig würden, so dass das Vorhandensein einer Zwischenstelle eine Erleichterung für das Ordinariat bedeuten würde. Wir sehen nicht gern, dass darüber hinaus das Amt des Obmannes sich zu einer Zentralstelle der Abgewanderten-Seelsorge auswächst und verselbständigt wird. Wir haben von Anfang an Wert darauf gelegt, dass die Abgewanderten-Seelsorge sich in die seelsorglichen Gegebenheiten der Aufnahme-Diözesen sorgfältig einfüge und nicht schließlich als eine Art Diözese innerhalb der Aufnahme-Diözesen in Erscheinung trete. In allen Aufnahmediözesen, in die wir Geistliche beurlaubt haben, mit Ausnahme von Fulda, wird nach Möglichkeit von einer Zentralisierung der Abgewanderten-Seelsorge neben der Diözesen-Organisation abgesehen. Auch für das Bistum Fulda wäre es uns erwünscht, wenn dem Obmann keine Aufgaben zugewiesen würden, die z.B. von den örtlich zuständigen Pfarrern geregelt werden könnten. Wir würden es begrüßen, wenn Herr Pfarrkurat Plettenberg in den Stand gesetzt würde, wenigstens einen kleinen Bezirk in der Abgewanderten-Seelsorge persönlich zu übernehmen.“112

 

Plettenberg hatte vor allem durch Aufgabe seiner Seelsorgetätigkeit, die alle seine Vorgänger als Obleute beibehalten hatten, und durch eine gewisse „Überorganisation“ der Obmannstätigkeit zum quasi eigenständigen Amt den Groll des Kölner Generalvikariats provoziert. Das Chaos der letzten Kriegstage hat vermutlich ernstere Konsequenzen verhindert. Plettenbergs pastoraler Stil jedenfalls, sich unkonventionell und teilweise im Gegensatz zu Weisungen kirchlicher Oberer in der Notsituation zu verhalten, sollte sich im Folgenden kaum ändern und hatte auch da Erfolg.

Die Kampfhandlungen zwischen der Wehrmacht und der 3. US-Armee um Thüringen wurden am 16. April 1945 eingestellt.113 Mit dem Stillstand der Bombardierung deutscher Städte und dem Kriegsende begann auch die Rückkehr der rheinischen Katholiken und ihrer Seelsorger. Angesichts der schwierigen pastoralen Lage und der Bitte an das Erzbistum Köln, vorerst die Priester in Mitteldeutschland zu belassen114, verfügte die Kölner Diözesanbehörde, dass keiner der Abgewanderten-Seelsorger seinen Posten ohne die Genehmigung des Generalvikariates Fulda verlassen solle.115

Ein Einsatz der Kölner Priester in Thüringen war – trotz der Heimkehr der rheinischen Katholiken und dem Wunsch der Geistlichen, diesen nachzufolgen – dringend erforderlich, da die Heimatvertriebenen nur wenige Seelsorger mit in die SBZ brachten. Die Mehrzahl der Priester zog es vor, sich in den Westzonen niederzulassen. Plettenberg berichtete im Dezember 1945:

„Tatsache ist, daß die meisten Westevakuierten die Bezirke verlassen haben. Andererseits sind viele Katholiken aus Schlesien und dem Sudetenland ohne Priester hier eingetroffen. Trotz meiner vielen Bemühungen sind kaum 20 Priester aus ostdeutschen Diözesen hier in Thüringen […] Ich darf wohl behaupten, daß alle Kölner Geistlichen zugleich heimkehren würden, wenn durch den Weggang nicht Tausende Gläubige ohne Hirten wären.“116

Am 1. Januar 1946 bildeten die 17 noch in Thüringen tätigen Kölner Priester die größte Gruppe der 51 Abgewandertenseelsorger dieses Gebietes, für die Plettenberg zuständig war. Weiterhin lebten in Thüringen Geistliche aus den Diözesen Aachen (1 Priester), Trier (4), Leitmeritz (11), Olmütz (1), Prag (2), Breslau (9), Königgrätz (3), Linz (1), Ermland (1) und Paderborn (1).117 Die Bezahlung der Geistlichen erfolgte durch das Ordinariat Fulda gemeinsam mit dem Erzbischöflichen Generalvikariat Köln.118

Der massenhafte Zuzug der Heimatvertriebenen bereitete der kirchlichen Behörde und der Pastoral ernstliche Schwierigkeiten, die sich durch die fortschreitende Teilung Deutschlands nach Kriegsende noch vermehrten. Die westliche Diözesanleitung und -verwaltung in Fulda war von ihrem östlichen Diözesananteil getrennt. Deshalb erteilte Bischof Dietz den vier Hauptgeistlichen der vier thüringischen Regionen bereits 1945 Sondervollmachten.119 Im Schreiben des Fuldaer Generalvikars Robert Günther120 an Dompropst Freusberg wird Plettenberg eigens erwähnt:

„Uns ist es leider unmöglich, zu deren [der Ostflüchtlinge] Pastorisierung Geistliche zu entsenden. Deshalb bitten und beauftragen wir Sie, mit Hilfe des Herrn Plettenberg durch mitgekommene Ostgeistliche die notwendigste Seelsorge zu organisieren und zu diesem Zweck auch, wenn es nötig sein sollte, Diözesangeistliche in Anspruch zu nehmen.“121

Joseph Plettenberg war bis zum Mai 1946 in Erfurt (SBZ) in der Abgewandertenseelsorge tätig. Er übersiedelte dann nach Paderborn (britische Besatzungszone), um dort als Generalsekretär des Bonifatiusvereins und als „Bischöflicher Kommissar für die Umsiedlerseelsorge im Bistum Fulda (russischer Anteil)“ die Seelsorge in Thüringen weiter zu unterstützen und um als weithin bekannter „Verbindungsmann“ zu agieren.122 Eine Einreisegenehmigung in die SBZ wurde ihm generöser als anderen Geistlichen gewährt.123 Sein Einsatz für Thüringen war beispiellos: So predigte er im Fuldaer Dom und in der dortigen Stadtpfarrkirche im Juni 1946 über die Flüchtlingsseelsorge und hielt in Fulda und Salmünster vor Fuldaer Diözesanpriestern – darunter auch Bischof Dietz und Generalvikar Günther – ein flammendes Referat über die Seelsorgsnot und den Priestermangel in Thüringen, was die Verantwortlichen dankbar annahmen und Hilfen für den Ostteil der Diözese anberaumten.124

Freusberg resümierte über die Arbeit Plettenbergs anerkennend:

„Als Bischöflicher Kommissar hat er seine Aufgabe mit großem Geschick gelöst. Das Zusammenarbeiten mit ihm war reibungslos und angenehm. Namentlich hat er es verstanden, sich in warmer confraterneller Art der evakuierten Priester anzunehmen, die seelisch oft selbst gedrückt waren und denen es teilweise sehr schwer wurde, sich in die veränderten Verhältnisse zu finden. […] Er war der rechte Mann für den schweren Posten.“125

Eine Rückversetzung Plettenbergs nach Erfurt wurde bereits 1947 erwogen, als der nach Flucht und Vertreibung in Erfurt untergekommene Breslauer Weihbischof Joseph Ferche126 im selben Jahr das Angebot des Kölner Erzbischofs annahm und zweiter Weihbischof des Erzbistums wurde.127 Somit war der einzige Weihbischof der SBZ neben den Bischöfen Konrad Kardinal von Preysing128, Heinrich Wienken129 und Petrus Legge130 nicht mehr in der mitteldeutschen Diaspora einsetzbar. Der Fuldaer Generalvikar Günther bat darum den Generalvorstand des Bonifatiusvereins um Zustimmung, dass Plettenberg in seinem ehemaligen Arbeitsfeld Erfurt wieder eingesetzt werde, „um dort nach Verleihung einer kirchlichen Auszeichnung – zur Erhöhung seines Ansehens bei den Andersgläubigen – an der Betreuung der zugewanderten Gläubigen und Geistlichen an führender Stelle zu arbeiten.“ Plettenberg genieße, so Günther, „in seltenem Masse“ das Vertrauen der Thüringer Geistlichen, und er habe Erfolge bei Verhandlungen mit staatlichen und kirchlichen Stellen erzielt. Außerdem befinde sich das kirchlich-religiöse Leben in Thüringen in einer folgeschweren Krise, weshalb man Plettenberg unbedingt benötige.131

Dennoch kam es nicht zu einer Übersiedlung Plettenbergs. Nach einem Besuch in Erfurt im Mai 1947 schrieb er an seinen Heimat-Erzbischof Kardinal Frings: „Nach eingehender Besprechung mit dem Hochwürdigsten Herrn Generalvikar von Thüringen, Dompropst Dr. Freusberg, kamen wir zu dem Ergebnis, dass im Augenblick aus inneren und äußeren Gründen, die ich brieflich kaum festlegen kann, eine Übersiedlung unklug wäre.“132 Vermutlich erschien ein Wirken Plettenbergs von Paderborn aus Erfolg versprechender als ein Kirchenamt in der SBZ.

Zum Nachfolger Plettenbergs in Erfurt wurde von Freusberg der sudetendeutsche Priester Dr. Maximilian Wenzel133 ernannt134, vor der Vertreibung Regens des Priesterseminars Leitmeritz (Nordböhmen).135 Bereits seit September 1945 in Erfurt tätig, übernahm er am 25. April 1946 das wichtige Amt des Bischöflichen Kommissars für die Abgewandertenseelsorge.136 Der erste Nachkriegsschematismus der Diözese Fulda von 1949 nennt Wenzel – den entsprechenden Gegebenheiten angepasst – bereits „Bischöflicher Kommissar für Flüchtlingsseelsorge“.137 Ein Jahr später wurde er zum ordentlichen Mitglied des Kollegiums um Generalvikar Freusberg, schließlich 1953 stellvertretender Generalvikar (Referent für Personal- und Ehesachen beim Bischöflichen Generalvikariat Erfurt), 1964 Vizeoffizial und schließlich 1974 Offizial des Bischöflichen Offizialates Erfurt.138 Besonders für die sudetendeutschen Priester wurde er im Generalvikariat zu einer zentralen Identitätsfigur.139

Neben Freusberg, Plettenberg und Wenzel waren in der Nachkriegszeit weitere Geistliche in verantwortlichen Leitungspositionen in der Vertriebenenseelsorge in Thüringen tätig. Seit Kriegsende wuchs die Arbeit im Bischöflichen Kommissariat stark an, sodass die vorhandenen Kräfte nicht mehr ausreichten. Im Einvernehmen mit dem Bischöflichen Ordinariat in Fulda ernannte die Zweigstelle des Generalvikariates Breslau in Görlitz 1946 auf Bitten Plettenbergs hin einen Verbindungsmann, der den Kommissar bei der Arbeit für die schlesischen Flüchtlinge unterstützen sollte. Freusberg schlug diesen Obmann daraufhin für eine Planstelle innerhalb der Stadt Erfurt vor.140 Dieser Verbindungsmann trat im Juli 1946 sein Amt an: Es handelte sich um den vertriebenen Pfarrer Hubert Muschalek141, der in Gräfenroda wohnte und schließlich nach Erfurt übersiedelte.142

Ein weitaus bekannterer und angesehenerer schlesischer Priester wurde alsbald sein Nachfolger: der ehemalige Generalvikar der Erzdiözese Breslau Dr. Joseph Negwer143. Vom Görlitzer Ordinariatsrat Emanuel Tinschert144 wurde er nach der Vertreibung nicht im Rest der Erzdiözese zum Aufbau einer Bistumsverwaltung eingesetzt, sondern nach Erfurt geschickt. Tinschert schrieb an Freusberg über Negwer: „Als Generalvikar a.D. besitzt er die beste Personalkenntnis unserer Diözesanpriester und kann natürlich mit Rat und Tat bei deren Einsatz helfen. Er ist aber auch zu jeder Seelsorgsarbeit bereit und fähig.“145

Im mitteldeutschen Raum sollte Negwer – in Absprache mit dem Görlitzer Kapitelsvikar Ferdinand Piontek146 – den Einsatz der schlesischen Geistlichen in der Flüchtlingsseelsorge leiten. Negwer und Freusberg kannten sich seit ihrer Studienzeit, als beide in Rom kanonisches Recht studierten und im deutschen Priesterkolleg „Anima“ wohnten. Beide waren Kanonisten, die in der Nachkriegszeit Lösungen für die anstehenden Probleme suchten.147 In Erfurt angekommen, teilte Negwer Bischof Dietz in Fulda seine Ausweisung mit und berichtete von seiner Ankunft in Erfurt, „um in der Seelsorge der Flüchtlinge zu helfen und unseren schlesischen Geistlichen beratend zur Seite zu stehen.“148 Generalvikar Robert Günther hieß ihn im Auftrag des Bischofs willkommen.149

Neben der Betreuung des schlesischen Klerus kommt Negwer noch ein weiterer Verdienst zu: Auf seine Anregung hin erteilte der Fuldaer Bischof Johannes Dietz dem Erfurter Dompropst im Oktober 1946 die Befugnisse eines Generalvikars für die thüringischen Anteile des Bistums Fulda mit der Begründung, „bei den gegenwärtigen politischen Verhältnissen eine einheitliche und leichtere kirchliche Verwaltung“ seiner Diözese zu gewährleisten.150 Als erster der in den Westzonen residierenden Bischöfe erteilte Dietz einem Priester seines östlichen Diözesananteils diese weit reichenden Vollmachten, erst später folgten die anderen Ordinarien diesem „Fuldaer Modell“.151

Weitere heimatvertriebene Geistliche halfen beim Aufbau der Verwaltung und Kirchenorganisation in Erfurt. Durch Vermittlung des Leiters des Commissariates der Fuldaer Bischofskonferenz in Berlin, Bischof Heinrich Wienken, gelangte der Schneidemühler Priester Dr. Gregor Krüger152 1948 nach Erfurt, um hier eine eigene Finanzverwaltung sowie eine Stelle für „kirchliches Rechnungswesen“ aufzubauen.153 Krüger war von 1948 bis 1973 hauptamtlicher Generalvikariatsrat und zuständig für die Finanzen.154 In der Registratur des Generalvikariates war der Breslauer Studienrat Dr. Joseph Golega155 angestellt.156

 

Das in der Nachkriegszeit ständig an Bedeutung gewinnende Amt des Vorsitzenden des „Landescaritasverbandes Thüringen“ wurde 1946 dem aus Schlesien vertriebenen Priester Franz Nitsche157 übertragen, der von 1934 bis 1945 bereits Caritasdirektor für Oberschlesien in Oppeln gewesen war. Zunächst von Weimar, später von Erfurt aus bekleidete Nitsche bis 1975 das Amt des Caritasdirektors für den Ostteil der Diözese Fulda.158

Auf eine Einladung Negwers hin besuchte am 13. Oktober 1946 der Breslauer Weihbischof Joseph Ferche Erfurt, um eine St.-Hedwigs-Feier für Vertriebene im Dom zu halten. Dieser äußere Anlass war der Beginn der Tätigkeit des Weihbischofs in Thüringen, die bis Sommer 1947 andauern sollte. In Erfurt fand Ferche in Negwer seinen engsten Weggefährten aus Breslau wieder, aber auch ein reiches Betätigungsfeld in der Vertriebenenseelsorge.159 Dem Fuldaer Weihbischof Adolf Bolte war mehrfach die Einreise in die SBZ verweigert worden160, sodass ein Verbleib Ferches die Situation in Thüringen entspannt hätte. Eine dauerhafte Installation des Weihbischofs in Erfurt sollte jedoch durch seinen Weggang nach Köln obsolet werden.161 Außerdem ist diesbezüglich zu beachten, dass die Ortsordinarien Mitteldeutschlands grundsätzlich nicht dazu bereit waren, Kompetenzen abzugeben162: Als der vertriebene Bischof Maximilian Kaller163 sich anbot, im Ostteil der Diözese Fulda bischöfliche Funktionen auszuüben – d.h. das Firmsakrament zu spenden – , antwortete ihm Bischof Dietz, dass er diese Aufgabe selbst wahrnehmen wolle oder sein Weihbischof in der „Ostzone“ firmen werde. Kaller bekam keine Bevollmächtigung von Dietz für bischöfliche Amtshandlungen im östlichen Fuldaer Diözesananteil.164

Wenn man die Protagonisten der „ersten Stunde“ im Ostteil der Diözese Fulda näher betrachtet, fällt der starke „Breslauer Einfluss“ auf. Der Transfer wichtiger Funktionsträger aus den Ostgebieten nach Mitteldeutschland schuf die Voraussetzung für die Etablierung wichtiger Institutionen und eigener kirchlicher Verwaltungsstrukturen in Erfurt. Beides war – wie auch die Seelsorgekonzeptionen – für die geordnete Pastoral an den Heimatvertriebenen unbedingt notwendig.