Eisige 7

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„Um seinen Körperkern zu schützen. Eben. Und unsere Tiefkühlkost hier liegt ausgestreckt im Schnee, als wenn er einen Strandbesuch machen würde.“

„Er war also schon tot, bevor er hier abgelegt wurde. Und das“, der Kommissar deutete bergauf, „passt zu den Spuren da. Ich habe es gerade erst bemerkt. Das sind Schleifspuren, keine Trittspuren. Ist aber immer noch kein Beweis für einen Mord.“

„Aber das hier schon.“ Birnbaum wies erneut auf die Leiche. „Der Mann hat nämlich überhaupt keine Erfrierungen.“

Wunderlich konnte es mit eigenen Augen erkennen. Die Haut des Toten war vollkommen glatt. Kein Gefrierbrand, keine Verletzungen.

„Wer immer ihn hergebracht hat, der hat ihn zuvor umgebracht. Zumal ihm ja jemand eine falsche Brille als Grabbeigabe hingelegt haben muss. Das Wann ist ebenfalls klar, denn die Schleifspuren können höchstens ein, zwei Stunden alt sein.“ Birnbaum zeigte auf die tobenden Schneeflocken, die kaum noch etwas von den Fußstapfen übriggelassen hatten. „Was offen bleibt, ist das Wo und Wie.“

„Gift? Luftspritze?“

„Dazu muss ich ihn auf dem Tisch haben. Pflichtbewusst, wie ich bin, mache ich mich selbstverständlich gleich an die Arbeit.“

„Und ich werde Sibylle einweihen. Sie soll unten in Rehau die Ermittlungen leiten. Ich will wissen, wer von den sieben dieses Verbrechen begangen hat, noch bevor wir oben auf dem Gipfel sind.“

„Ich mache die Obduktion gleich im Selber Krankenhaus. Wir fahren über Spielberg wieder nach unten. Richtung Martinlamitz nach Hof kommen wir ja unmöglich durch.“ Er deutete auf die vollkommen eingeschneite Forststraße vor sich. „Du wirst in etwa anderthalb Stunden wieder von mir hören. Aber ich habe ein ganz komisches Gefühl. Irgendetwas passt überhaupt nicht. Ich glaube, wir haben es mit etwas völlig Neuem zu tun.“

„Gefühl? Der Herr Professor?“

„Auch Wissenschaftler sind Menschen!“, rief ihm Birnbaum zu, als der Bestatter die Leiche eingeladen hatte und die schwarze Limousine sich anschickte, den Forensiker und das Opfer zu Tal zu geleiten.

Onkel Dagobert klopfte Viktor Puchta anerkennend auf die Schulter. Der stieß ganz überrascht mit seiner linken Hand gegen das leere Kaffeetischchen und es gab ein lautes Scheppern.

„Das hast du wirklich clever eingefädelt. Schlau wie immer, ganz der alte Viktor. Bis die bösen Jungs da unten herausgefunden haben, wer das ist und was wir getan haben, ist hier oben alles gelaufen. Dank dir haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Du bist der Mitgliedschaft bei den Großen Sieben wahrlich würdig.“

Gemeinsam hatten sie die letzten dreißig Minuten ferngesehen. Ein Unterhaltungsprogramm. Eben das, was Kamera neun ihnen live von der Vorsuchhütte übertrug. Wohl wissend, dass ihr zweites Problem nun seit heute früh friedlich in einer Hülle schlummern konnte. Beinahe hätte sie die mangelnde Platz-Kapazität in Bedrängnis gebracht.

„Ich habe bei dieser Notoperation doch nur ein wenig geholfen“, antwortete Puchta bescheiden und nippte an seinem Tee mit Wodka. „Eigentlich mache ich hier ja Ferien.“ Beide blickten einander an und lächelten diebisch und verschlagen. Die anderen fünf reagierten unterschiedlich auf Puchtas Aussage: Zwei brachen anerkennend in schallendes Gelächter aus, zwei verzogen keine Miene in dem heiligen Ernst für das Große, das sie alle zusammen vorhatten, und eine lächelte vergnügt. Alle waren sie hochzufrieden.

„Jetzt ist es halt Mord“, grübelte Onkel Dagobert. „Damn!“

„Na und?“, fragte Viktor.

„Na und?“, fragte die Frau.

„Darauf hatte ich überhaupt keine Lust. Aber Recht habt ihr. Wir sind die Guten. Wir werden den Deal bekommen, den wir wollen“, sagte Dagobert schließlich mit seiner festen, überzeugten Stimme. „Und wenn wir dafür alle sieben auf Nimmerwiedersehen ins ewige Eis schicken müssen. Wie leicht das geht, haben wir ja jetzt gesehen.“ Er hatte ein lautes Organ und die Suchmannschaft war nur tausend Meter entfernt. Aber sie hätten ihn niemals hören können. Ebenso wenig wie den Applaus der anderen sechs, die ihm in diesem Moment Beifall klatschten. Denn über ihm lagen einige Meter Granit und darüber thronte ein fast siebzig Meter hoher weißer Koloss aus Stahlbeton.

„Dann mache ich mich jetzt wieder auf den Weg“, sagte die Frau und schnallte ihre Skier um, „unten im Tal ist genug zu tun.“

„Das haben wir gut gemacht!“, lobte sie zum Abschied.

„Jawohl!“, antworteten fünf Leute und salutierten.

Wunderlich sah dem Leichenwagen nach und überlegte. Endlich einmal wollte er bei einem Fall ohne Spezialeinsatzkommando auskommen. Er stand an der Vorsuchhütte, an der die Spurensicherer wuselig, aber ruhig ihre Fotos machten, Proben nahmen und Utensilien aus ihren Laborkoffern herauszogen und wieder hineinlegten. Ansonsten war es nach dem Abflug des FGV schlagartig einsam an dem verlassenen Gasthaus geworden. Er blickte durch das Schneegestöber hinauf zum Gipfel und wägte wieder und wieder seine Optionen ab. Dann rief er Sibylle an. Sie würde für die kommenden Stunden im warmen Rehauer Kripo-Büro die leitende Ermittlerin sein.

6

„Sind sie nicht süß?“ Das sagte sie jedes Mal, und zwei Seelen wohnten, ach, in Wunderlichs Brust. Zum einen nahm er es als Kompliment, als Beweis, dass die enge Freundschaft zwischen Sibylle und ihm auch nach außen hin sichtbar war. Andererseits wollte er es möglichst vermeiden, dass sie beide in die Nähe eines schwer wieder wegzudiskutierenden Grenzbereichs gerückt wurden, bloß weil sie ohne einander nicht konnten.

Aber Veronika Eckert, mit Mitte dreißig schon geschäftsleitende Beamtin im Schwarzenbacher Rathaus, durfte das. Sie durfte den Hauptkommissar und die Polizeipsychologin auch ein „altes Ehepaar“ nennen. Sie kannte beide lange genug und hatte nun einmal einen unbekümmerten und forschen Stil, der den Vorteil mit sich brachte, dass sie auch entspannt und agil auftrat. Was im konkreten Fall hieß, dass sie der Polizei am Sonntagnachmittag spontan aufgeschlossen und den achteckigen Großen Sitzungssaal als Lagezentrum zur Verfügung gestellt hatte.

Sibylle trat an die Wandtafel mit dem handgeschriebenen Aushang dessen, was sie in den vergangenen fünfundvierzig Minuten herausfinden konnte, während alle auf das Eintreffen des Rehauer Bürgermeisters Edmund Angermann gewartet hatten. Der wurde nun nämlich als Mitermittler gebraucht. Es war Angermanns Hobby, er hatte ein echtes Händchen dafür. Er hatte Wunderlich binnen fünf Jahren bei der Aufklärung von vier Kapitalverbrechen in Rehau geholfen, mit seiner profunden Kenntnis der regionalen Historie, der politischen Seilschaften, der buchstäblichen Leichen im Keller. Wunderlich schwor seit langem auf die Mithilfe seines Wurlitzer Sandkastenfreundes. Nun sahen sie beide gespannt Sibylle zu. Währenddessen kochte die kleine, drahtige Hauptamtsleiterin mit der schwarzen Ponyfrisur, wie immer geschäftsmäßig adrett in Rock und Bluse gekleidet, erst einmal eine große Runde starken Kaffee, ganz wie von Wunderlich vermutet.

„Der Chef spurlos verschwunden, das ist ja sozusagen eine Katastrophe. Wie kann ich euch helfen?“

„Tust du jetzt schon“, entgegnete Wunderlich anerkennend und nahm einen tiefen Zug aus der Kaffeetasse, die in seinem Fall selbstverständlich mit Cappuccino gefüllt worden war. „Wir finden ihn wieder, versprochen.“ Er blickte konzentriert aus dem Fenster ins Grüne, über den kleinen Festplatz hinweg auf die Saale, die so gleichmäßig über ihr Wehr dahinplätscherte, als ginge sie das alles nichts an.

„Wisst ihr denn überhaupt schon, was genau passiert ist? Hat er sich abgesetzt? Ist er vor etwas geflohen? Oder hat man ihm womöglich etwas angetan?“

„Wir haben leider noch nicht den leisesten Schimmer.“

„Wird schon werden“, lächelte sie.

„Da kann ich beruhigen“, schaltete sich Angermann ein. Alle Augenpaare wandten sich dem Rehauer Bürgermeister zu.

„Die Stadt Schwarzenbach gehört zu den Unterzeichnern des Kornberg-Kaufvertrages. Andreas hatte angeboten, stellvertretend für uns alle weitere Gespräche mit dem Konsortium zu führen. Es geht um eine Reihe von Vertragsdetails. Wir anderen haben das gerne angenommen, nachdem meine Amtskollegen in Schönwald, Selb, Wunsiedel, Marktleuthen und Kirchenlamitz ebenso wie ich im Moment ziemlich im Stress sind. Und er hat kürzlich gesagt, er würde sich dazu eine Woche lang aus dem Tagesgeschäft ausklinken müssen.“

„Na das ist ja spannend! Aber warum hat er sich dann so abrupt verabschiedet?“

„Ich glaube, er wollte morgen in aller Früh loslegen.“ Angermann zuckte mit den Schultern.

„Also schön. Wir sehen aber trotzdem mal zu, dass wir ihn finden, so oder so. Und jetzt starten wir bei den Puppen und den Todesdrohungen mit der Zahl Sieben.“

„Die Großen Sieben heißen wie gesagt nicht offiziell so“, begann Sibylle und lehnte sich an eine der weißen Porzellansäulen, die die acht Saalecken zu tragen schienen. „Die Leute haben sie so genannt, weil alles recht geheimnisvoll ist, was die vorhaben. Es stand vor zwei, drei Monaten mal im Frankenblatt.“

„Mmh, ich erinnere mich immer deutlicher. Irgend so eine Gruppe mit sieben Chefs hat den Kornberg-Gipfel gekauft und will in großem Stil in den Event-Tourismus investieren. Aber dann hat man nicht mehr viel gehört, und ihre Namen sind bisher nicht so recht bekannt, oder?“

„Auch unsere schöne Stadt Rehau gehört ja zu den Unterzeichnern des Kaufvertrages“, erläuterte Angermann, „und in der Tat, die Käufer wurden durch einen Hofer Rechtsanwalt vertreten. Von ihnen selbst war keiner bei dem Notartermin anwesend.“

Seit Jahren machten sich die Städte und Gemeinden rund um den Großen Kornberg Gedanken, wie sie das fördern konnten, was neben der hochklassigen mittelständischen Industrie ein zweites großes Plus von Hochfranken darstellte: eine Natur, in der man als Urlauber wie als Einheimischer noch unbeschwerten Genuss fern von Staus, Lärm und teuren Preisen erleben konnte. Dazu brauchte es aber auch etwas zum Erleben. Das Fichtelgebirge und der Frankenwald setzten folgerichtig auf den Tourismus, und um den Kornberg hatte es dazu neuerdings die heißesten Diskussionen gegeben: ein Ausbau des Skigebiets? Ein Mountainbike-Park? Es gab, sozusagen naturgemäß, alle möglichen Ideen und alle möglichen Einwände. Und dann kam der Paukenschlag. Der zahlungskräftige Investor mit seiner siebenköpfigen Vorstandschaft beendete alles Hin und Her und verwandelte den Gipfel durch einen Vertrag mit sieben AnliegerGemeinden in ein Privatgrundstück, auf dem er ein Event-Zentrum errichten wollte. Näheres werde zu gegebener Zeit bekannt gegeben, hieß es im Sommer.

 

„Kommt uns das von Investoren nicht irgendwie bekannt vor?“, fragte Wunderlich sarkastisch, zumal Angermann nicht wirklich glücklich über die Angelegenheit schien. „Der eine hat vor Neuschwanstein eine Musical-Halle in den Sand gesetzt, der Nächste wollte im Fichtelgebirge die Pyramiden nachbauen, der Dritte eigentlich ein Einkaufszentrum in der heimlichen Hauptstadt Oberfrankens?“

„Die Stadt mit dem arm, aber sexy, meinst du? Die große Stadt gleich in unserer Nähe, deren beharrliche Klammheit meinen Amtskollegen wohl kürzlich den Kopf gekostet hat?“ Angermanns Schlagfertigkeit war selten zu übertreffen. Sibylle setzte ein flüchtiges Lächeln auf, was bedeutete, dass sie sich innerlich schüttelte vor Lachen.

„Ich habe natürlich in einer Dreiviertelstunde noch nicht zu allen sieben recherchieren können“, fuhr sie fort, „aber das hier ist jedenfalls Viktor Puchta aus Selb, und das ist schon mal unheimlich genug.“ Sie deutete auf das linke der aufgehängten Fotos. Ihre drei Zuhörer waren ganz Ohr. Wunderlich hatte sich ans Fensterbrett gelehnt und schlürfte den nächsten Schluck aus der Tasse.

„Der Mann hat ungefähr den Werdegang, nach dem er aussieht. Er ist schon Mitte sechzig.“ Das konnten die anderen kaum glauben. Sie betrachteten einen Menschen, der zehn Jahre jünger wirkte. Schütteres graues Haar, das schon, eine hohe Stirn und eine eisige Miene, auf der ein Lächeln undenkbar schien und die zu einem verbitterten Frührentner gepasst hätte. Aber andererseits schlank, sportlich, beinahe durchtrainiert, man konnte sich auf seiner Brust richtiggehend ein Sixpack vorstellen. Ein kleines rundliches Gesicht und darin ein stechender Blick, hinter dem ein scharfer Verstand lauern musste.

„Was macht der beruflich?“, begann Angermann in der ihm eigenen Ironie zu witzeln, „Zeitungsausträger oder Dopingarzt bei einer osteuropäischen Biathlonmannschaft?“

„Beides ein Volltreffer“, antwortete Sibylle zur maßlosen Überraschung aller. „Viktor Puchta organisiert die Pressearbeit der Großen Sieben, und früher war er Doppelagent für den BND und den KGB.“

„Veräppeln kann ich mich selber, Spatzi“, war Wunderlichs erste, neckende Reaktion, „ich glaube, du machst wirklich zu viele Reisen in merkwürdige Länder.“ Er konnte es nicht lassen – er musste wieder auf das einzige Thema anspielen, bei dem sie ständig kollidierten, denn er selbst liebte Bayern wie keine andere Ecke der Welt.

„Sehe ich so aus, als würde ich scherzen?“

„Aber ja.“ Er blickte genervt nach oben in die kugelförmigen Deckenleuchter.

„Potsch!“, gab sie ihm eine angedeutete Kopfnuss. Kichern im Saal.

„Das mit der Pressearbeit war auch für mich als Blondine nicht schwierig“, fuhr sie heiter-trotzig fort, „sein Name stand unter mehreren Artikeln im Frankenblatt. Er hatte die dreiteilige Serie ‚Neues vom Kornberg‘ geschrieben und darin die Pläne für den Gipfel erläutert. Nicht zu große Eingriffe, Naturschutz und Anwohnerinteressen bleiben gewahrt, nur Vorteile, keine Nachteile und so weiter. Es diente eindeutig zur Beruhigung der Bevölkerung. Der Mann ist PR-Profi.“

„Und ein falscher Hund“, ergänzte Angermann mit seiner tiefen Stimme. „Ich meine, bei dem Vorleben. Wie zum Teufel hast du das rausbekommen?“

„Weibliche Intuition“ flachste sie. „Wobei die Google-Bildersuche natürlich hilfreich war, ganz zu schweigen von meiner Cousine in Pullach, die ich vorhin angerufen habe.“

„Du hast Verwandte beim BND???“ Wunderlich ließ sich, endgültig bedient, in einen der gepolsterten grünen Stühle fallen.

„Du kennst mich doch: Stille Wasser sind tief.“

„Das heißt, Viktor Puchta ist sowas wie der Mastermind der Großen Sieben?“

„Ja, aber nicht der Chef. Das ist er hier.“ Sie wandte sich dem rechten Foto zu. Wunderlich und Angermann betrachteten es fasziniert, denn der Abgebildete passte selbst für einen Kriminaler und einen Politiker so recht in keine Schublade. Sie sahen einerseits jemanden, dem der Bösewicht schon ins Gesicht geschrieben stand: ein hinterlistiges Grinsen unter zwei zusammengekniffenen Augen und darunter ein Körper, deutlich untersetzter als der schlanke Puchta. Geheimratsecken durchzogen die blonde Frisur. Andererseits erkannten sie einen echten Anführer: einen, der den Daumen nach oben streckte, der den unbedingten Willen ausstrahlte, der Größte zu sein.

„Sein Name ist Freder. Mehr weiß ich noch nicht“, fuhr Sibylle fort. Veronika Eckert nickte beeindruckt. Immerhin hatte die frischgebackene Profilerin in nicht einmal einer Stunde damit anderthalb von sieben Identitäten aufgedeckt.

„Als ich Viktor Puchta gefunden hatte, war mir bewusst, der ist kein Lautsprecher. Eine Gruppe wie diese braucht jemanden, der den großen Boss gibt. Der mit einfachsten Parolen, mit Pathos und Versprechungen, Menschen hinter sich bringen kann, wenn die Zeit gekommen ist. Einen Sprücheklopfer.“

„Das klingt ja nach einem Kleinstadt-Bürgermeister“, witzelte Angermann, doch Sibylle blickte ihn nur mitleidig an – jeder im Raum wusste, dass Angermann, Ebert und wie sie alle hießen, das ganze Gegenteil dieser minderwertigen Jobbeschreibung erfüllen mussten.

„Glaub mir, Eddi, gegen diese Truppe seid ihr harmlos. Jedenfalls, es war reine Spekulation, aber die Kripo hat doch diese Bilddatenbank. Darin habe ich Puchta gefunden und neben ihm stand der da.“ Sie wies mit dem Daumen über die Schulter auf das Foto hinter sich. „Wenn der der Anführer wäre, dann fände er sich vermutlich in einem der zahllosen Geheimbünde von Hochfranken wieder, dachte ich mir.“

„Geheimbünde??“ Wunderlich prustete. „Was war in deinem Chardonnay gestern Abend?“

„Alkohol. Nein, ich meine damit die Lions, Rotaries und so weiter.“

„Die sind bei allem Respekt für einen guten Zweck.“

„Weiß ich. Deswegen habe ich ihn ja auch bei den Oldtimerfreunden gefunden. In einem Jahrbuch. Da!“ Sie rief ein eingescanntes Bild auf. Wunderlich las laut vor.

„Jährliches Wohltätigkeits-Treffen der Oldtimerfreunde der Landkreise Hof und Wunsiedel … Bildunterschrift: Von links V. Puchta, D. Freder …“

Er hielt einen Moment inne, um nach den richtigen Worten zu suchen.

„Ich sag’ dir mal etwas, das du schon weißt, aber nie zuzugeben wagst“, fügte er schließlich an. „Du bist genial.“

Beide Frauen im Raum lächelten. Veronika Eckert zustimmend. Und Sibylle Augsburger verschmitzt, so als wollte sie, beschämt und bescheiden, aber dennoch, antworten: „Kann schon sein.“

„Wir sollten jetzt dringend mit Christoph Heinrich und Gerch Mackert sprechen. Irgendwas müssen die beiden ja gemeinsam haben, weswegen sie bedroht werden. Vielleicht erfahren wir so, ob die eisblaue Zahl Sieben mit den Großen Sieben in Zusammenhang steht.“

„Das trifft sich gut“, bemerkte Angermann. „Die beiden haben nämlich morgen Vormittag einen gemeinsamen Termin im Rathaus von Schönwald, bei meinem Amtskollegen Franz Roberts. Gerch wegen eines neuen Windparks und Heinrich wegen des Möbelhauses an der alten B15, das wieder eröffnet und das er mit neuer Dämmung, mit Büroeinrichtung und natürlich mit Polstermöbeln ausstatten soll.“

„Haben wir eigentlich eine Chance, über das Material, aus dem die Puppen bestehen, dem Täter näherzukommen?“, sinnierte Sibylle.

„Silikon? Nein“, seufzte Wunderlich. „Das ist ja ein Allerwelts-Stoff und kein Zeug zum Bombenbauen. Die Leistung besteht im Modellieren des Körpers. Unser Täter muss sehr geschickte Hände besitzen, das ist alles.“

„Kann ich euch noch etwas Gutes tun? Noch eine Runde Kaffee? Oder einen Pfannakuhng, sozusagen?“

„Nein danke, Veronika. Sagt mal, was geht denn da draußen vor?“ Wunderlich starrte irritiert aus dem Fenster auf den Parkplatz vor dem Rathaus.

„Die?!“ Angermann war hinzugekommen. „Jetzt treibt sie sich in Schwarzenbach auch schon rum?“

Er sah in lauter fragende Gesichter und beeilte sich fortzufahren.

„Das ist Dr. Beate Höllwey. Besser bekannt als der Blockwart von Rehau. Sie vertreibt sich bei uns die Zeit damit, Falschparker aufzuschreiben. Und seitdem in der Innenstadt das Parken nur noch für zwei Stunden erlaubt ist, hat sie richtig viel zu tun.“

„Ich habe dir gleich gesagt, dass du mit diesem Parkraum-Management nur Ärger haben wirst“, scherzte Wunderlich.

„Proletarische Frührentnerin?“, fragte Sibylle.

„Nein, das ganze Gegenteil. Aber da muss ich ausholen.“

Der Rest des Großen Sitzungssaales im Schwarzenbacher Rathaus war ganz Ohr. Angermann ging zum Laptop und klickte ein Youtube-Video an.

„Was ist denn das für eine Spelunke?“, ereiferte sich Wunderlich. „Das sieht ja schlimmer aus als im Stahlhelm.“

Der Stahlhelm war eine Rehauer Bierkneipe gewesen, die vor vielen Jahren abgerissen und durch ein Wohnhaus mit Arztpraxis ersetzt worden war. Ob sich darin wirklich nur Ewiggestrige getroffen hatten, hatte Wunderlich in seiner Jugendzeit nie herausbekommen, aber zumindest hatte die Location so ausgesehen.

„Sie steht bei einer Versammlung von BrainPower auf der Bühne, in Minsk, Weißrussland. Da, neben ihr steht Lukaschenko.“

„Was bitte ist BrainPower?“

„Das ist uns auch noch nicht so ganz klar. Aber hör ihr zu.“

„… dass wir das Größte erreichen können, das jemals ein Volk erreicht hat! Dass wir das größte Volk unter den Völkern werden. Nicht durch zahlenmäßige Größe, sondern durch die Überlegenheit unseres Geistes. Wir sind die Tausend, die ewig leben werden!“

Wunderlich reichte es schon bei diesen paar Wortfetzen, obwohl Höllwey ihre Rede in Englisch hielt und das Video nur deutsch untertitelt war. Aber die Theatralik der beschwörenden Gesten sprach aufs Ekelhafteste für sich. Jedenfalls brandete an dieser Stelle Jubel vor der Bühne auf und der Kommissar verspürte den Drang, sich seines Mittagessens über den oberen Körperausgang wieder zu entledigen.

„Was schwadroniert die denn da? Tausend Leute, was soll das? Klingt ja wie tausendjähriges Reich.“

„So ähnlich ist die auch gepolt.“

„Und das lässt du dir als Bürgermeister bieten?“

„Na ja“, beschwichtigte Angermann, „wenigstens mit Rehau bringt sie keiner in Verbindung. Sie ist hier niemals öffentlich aufgetreten – sonst hättest du das gemerkt, glaub mir.“

„Eine Agitatorin also“, stellte Wunderlich erschrocken fest. „Eine Wölfin im Schafspelz.“

„Ihre Knöllchenschreiberei macht die nur zur Entspannung“, bestätigte Rehaus Rathauschef. „In Wirklichkeit ist sie hochintelligent und gefährlich. Und eitel. Stell dir vor, sie unterschreibt Briefe an die Stadtverwaltung immer mit Dr. Höllwey. Also handschriftlich.“

Veronika Eckert trat nun auch ans Fenster, besah sich die Aktion und stöhnte genervt auf.

„Siehst du, selbst unsere stets optimistische Veronika findet das zum Übergeben.“

„Das kann man sozusagen behaupten“, murmelte die.

Es klopfte.

„Das ist ja eine Überraschung!“, rief Wunderlich begeistert, als er den Neuankömmling sah. Eine „Sie“, genauer gesagt, bereits über achtzig, mit schlohweißem Haar, aber schon an ihrer Mimik konnte man jederzeit erkennen, dass sie den Schalk im Nacken hatte und geistig topfit und stets munter war.

„Musst du deinen Scirocco wieder spazieren fahren, Tante Rosi?“, fragte Wunderlich seine Lieblingstante.

„Ner ho. Aber vor allem misserd iech eich wos soong.“

„Na dann sag mal. Ist dir wieder ein anzüglicher Witz eingefallen?“

„Alter schützt vor Torheit nicht“, raunte Angermann Sibylle zu. Beide kannten das Rehauer Urgestein namens Rosi seit einer gefühlten Ewigkeit.

„Etzerd bie ruich, du Gribbl. Horch zu.“

 

Widerworte zu dulden war Tante Rosis Sache nicht. Dazu hatte sie stets viel zu viel zu erzählen. Wunderlich wusste, dass er die nächsten fünf bis zehn Minuten allenfalls kurze Worte einwerfen konnte, während sie Luft holte.

„Ich habe gesehen, wie deine Leute die Rehauer Rathausfassade rauf und runter untersuchen wegen dem blöden Spruch, der da hingeschrieben wurde. Ich weiß nicht, ob das was zu bedeuten hat, aber ich bin kurz vorher schon einmal an der Stelle vorbeigefahren. Da stand das Geschmier schon dran, und irgend so ein Typ hat ausgiebig Fotos davon gemacht.“

„Was für ein Typ?“

„Wos waaß denn iech? A gunger Hupfer.“

„Wie jung?“

„Na ja, vielleicht so Ende vierzig. Sportlich, schlank, Brille und vielleicht so groß wie ich Floh mit meinen eins siebzig. Ganz ernst hat er geschaut und mit seiner Kamera hantiert, als wäre er der größte Fan von dem Geschmier.“

„Hmm. Gut, wir werden sehen. Danke dir, Tante Rosi.“

„Etzerd du ner wardn, nocherd derzell iech der nuch wos.“

Fünfzehn Minuten später, in denen niemand außer Tante Rosi zu Wort gekommen war, verabschiedete sie sich wieder. Das einseitige Gespräch hatte sich wie üblich vor allem ums Skifahren gedreht; Erhellendes zum Fall war nicht mehr darunter gewesen. Wunderlich ließ sie stets gewähren, wissend, dass es Ausdruck ihrer Herzlichkeit und Zuneigung war. Etwas, das er in den letzten fünfzig Jahren nicht beliebig oft in seiner Nähe hatte finden können.

„Wie auch immer, ich denke, für heute wäre es das“, bedeutete Wunderlich seinen drei Mitstreitern, „Sibylle, Eddi und ich werden morgen Vormittag in Schönwald dabei sein. Und jetzt fahre ich nach Trogenau, Kochkäs mit Presssack und rohem Schinken essen.“

7

Zuerst war es nur eine einzige Gestalt, die hinter der kleinen Skihütte an der Talstation des Kornberglifts hervorkam, still und listig, abseits vom geschäftigen Treiben der Spurensicherung einige hundert Meter weiter an der Vorsuchhütte. Der schallschluckende Schnee tat das Seine dazu, vor allem jedoch der weiße Schneeanzug, mit dem die Person vor dem winterlichen Hintergrund nahezu verschwand. Zumal dicke Flocken die Sicht behinderten, da es einfach nicht aufhören wollte zu schneien. Wunderlich entdeckte die Gestalt trotzdem. Ihre Miene erschien ihm ebenso frostig wie die Luft, die er einatmete.

Er beobachtete sie aus sicherer Entfernung. Es war inzwischen dreizehn Uhr und er befand sich nun seit über drei Stunden hier draußen in dieser bewaldeten Winterlandschaft. Er fror wie ein Schneider, aber der weiß gekleideten Person schien die arktische Kälte nichts auszumachen. Entschlossen und ohne Anzeichen von Zittern machte sie sich an ihre Vorbereitungen. Wunderlich war auf alles gefasst. Eine zweite Silhouette tauchte hinter der Skihütte auf. Er würde keine Gelegenheit mehr haben, vom Berg zu kommen, das war nun klar. Die nächsten Stunden würden verdammt hart werden.

Als es schon fünf waren, läutete endlich sein Handy und Sibylle war dran. Sie war, mal wieder, seine einzige Rettung, solange es noch fast anderthalb Stunden dauern würde, bis Hans-Otto Birnbaum ihm ebenfalls mehr über den Toten erzählen konnte. Ohne Sibylles Informationen würde Wunderlich sich als Nächstes sinn- und ziellos im Eis verirren, die unheimlichen Männer in Weiß ständig im Nacken und vor ihm die Aussicht auf den Tod.

Ulrike hatte ihn angefleht, er solle es bleiben lassen. Er hatte es auch tatsächlich vorgehabt. Seine Frau hatte gute Argumente dafür vorgebracht, dass er dieses Mal darauf verzichten solle. Aber sein Pflichtbewusstsein hatte ihn dann doch dazu getrieben. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Tja“, begann Sibylle und schnalzte mit der Zunge, „Birnbaum hat mal wieder Recht behalten. Hier stimmt was Größeres nicht. Du wirst dich festhalten müssen.“

„Ich bin bereits festgefroren, das ist also kein Problem“, ätzte er bibbernd zurück, während er heimlich beobachtete, wie die bizarren Gestalten keine zweihundert Meter entfernt sich immer weiter vermehrten.

„Die Identität des Mannes steht jetzt fest. Das Foto, das du mir gemailt hast, ist in unserer Datenbank. Willst du die gute oder die schlechte Nachricht zuerst?“

„Eine gute Nachricht an einer Leiche zu finden, das kann auch nur dir einfallen.“

„Ach jetzt hab dich nicht so. Männer! Also – es handelt sich um keine der sieben verschwundenen Lokalgrößen.“

„Das hatte ich gehofft“, schnaufte Wunderlich, froh, dass die ihm teils gut Bekannten vielleicht noch am Leben waren. Er war weiß Gott nicht mit allen sieben befreundet und es waren skurrile Gestalten darunter. Aber keiner von ihnen hatte den Tod verdient.

„Die schlechte Nachricht ist, falls es Mord war, dann musst du angesichts dessen, um wen es sich handelt, von organisierter Kriminalität ausgehen. Es ist Gunter Waldrau.“

„Waldrau? DER Waldrau?“

„So sieht’s aus.“

„Aber das grenzt ja ans Unmögliche. Waldrau war schon in den finstersten Milieus unterwegs und hat sich hinreichend Feinde bei den Bösen gemacht. Und jedes Mal ist er heil davongekommen. Der hat sogar die Mafia überlebt!“

„Diesmal nicht. Diese Leute müssen echt gut sein, und sie müssen etwas richtig Großes zu vertuschen haben. Und damit werden sie auch nicht davor zurückschrecken, ihre sieben Gefangenen auszuschalten, wenn es, aus welcher kranken Logik heraus auch immer, notwendig scheint.“

„Dann haben wir es ja genau richtig gemacht.“ Wunderlich seufzte. Die wilde Mischung aus Erleichterung, Entsetzen und Angst, die in ihm brodelte, ließ ihn für einen kurzen Moment sogar Wind und Kälte vergessen. Es war nicht vorbei. Es begann gerade erst. Er blickte noch ein letztes Mal auf die vielen Männer in den weißen Schneeanzügen, bevor er all seinen Mut zusammennahm, aus der Deckung kam und sich ihnen näherte. Sie waren gerade dabei, ihre Waffen herzurichten, als der Erste durch das Knirschen des Schnees unter Wunderlichs Füßen auf ihn aufmerksam wurde. Er hob die Hand und zeigte auf den ankommenden Kommissar.

„Da ist er ja endlich! Du solltest wirklich mehr auf deine Frau hören, dann müssten wir jetzt nicht hier oben rumstiefeln, sondern hätten einen freien Nachmittag!“

„Ich weiß“, gab Wunderlich mit gespieltem Schuldbewusstsein dem Einsatzleiter zurück, „ich wollte für diese Geschichte hier ursprünglich tatsächlich kein SEK. Aber die Lage hat sich deutlich verschärft.“

„Schon gut, ist ja unser Job, und du hast uns immerhin zwei Stunden gegeben, um hier hochzukommen, das ist für uns viel Zeit“, entgegnete Udo Wenger mit der seinem Beruf eigenen Gelassenheit. „Wunderlich ist jetzt da, wir legen gleich los“, sprach er in sein Funkgerät, und ein Dutzend bewaffneter Männer in Weiß winkte durch das Flockengewirr bestätigend zurück, begleitet von einem Knarzen im Walkie-Talkie.

„Also, was haben wir?“

„Wir müssen leider davon ausgehen, dass eine Gruppe von Tätern einen bekannten Journalisten ermordet hat und weitere sieben Geiseln auf dem Kornberggipfel gefangen hält, und zwar wichtige Personen des öffentlichen Lebens aus Schwarzenbach, Kirchenlamitz, Marktleuthen, Selb, Wunsiedel, Schönwald und Rehau. Leute, ohne die diese Städte zusammenbrächen.“ Er zeigte Wenger die Fotos.

„Was, DIE sieben?“ Der SEK-Mann war verblüfft.

„Du kennst sie?“

„Klar, man liest ja Zeitung, gerade vergangenen März. Na, dann ist es aber wirklich wichtig.“

„Kannst du laut sagen.“

„Wie viele Täter?“

„Bis zu sieben.“

„Männlich?“

„Sechs Männer und eine Frau.“

„Und alles direkt auf dem Gipfel?“

„Das ist nicht ganz klar. Ihnen gehört zwar das Gipfelareal, und sie haben es auch eingezäunt. Aber wer weiß, wo innerhalb des Kornbergrings sie sich herumtreiben. Ich wüsste mehr, wenn die verdammte Technik laufen würde.“ Er zeigte verzweifelt auf sein eigenes Ohr.

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