Eisige 7

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

„Da röchelt doch was?“, fragte die junge Selberin unsicher.

„Ja, habe ich auch gehört“, bestätigte einer der beiden Schwarzenbacher.

„Er! Er muss das gewesen sein! Kommt, beeilt euch!“ Hanns König peitschte die ganze Gruppe noch mehr auf. Mit Puls hundertsechzig hämmerten sie die Klappspaten wie Baggerschaufeln in die mächtige Schneedüne. Der Canyon, den sie zu erbauen im Begriff waren, die Meerenge, der schmale Durchgang, der sie von dem Erfrierenden trennte, er war fast fertig.

Viktor Puchta hatte es sich mit einer Tasse Pfefferminztee und einem Schuss Wodka darin in seinem Ledersessel bequem gemacht und verzog wie immer keine Miene. Ruhig blickte er auf das, was ihm die Außenkamera neun in den Bunker übertrug. Der Rettungstrupp tat ihm fast schon leid. Sie hatten, das verriet ihm ihre Körpersprache, keine Ahnung, was vor sich ging und wie aussichtslos die Sache für sie war. Aber das bedeutete für ihn und die, die hinter ihm das Geschehen auf dem Monitor verfolgten, dass alles nach Plan lief. Es war knapp geworden. Dass sie die Leiche dort hatten hinbringen müssen, war ein Vabanque-Spiel gewesen. Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt bei diesem waghalsigen Täuschungsmanöver. Aber Puchta spürte, dass er die Situation jederzeit unter Kontrolle hatte. Wie immer. Er drehte sich um und blickte in die Runde. Plötzlich tat er etwas sehr Seltenes. Er lächelte.

Es war nur ein Eichhörnchen gewesen. Es wurde ihnen im selben Moment klar, als sie den Durchbruch ihres Schneekorridors schafften. Das kleine Vieh sprang von Ast zu Ast und erzeugte so das Knacksen, das sich wie ein Röcheln angehört hatte. Als sie endlich bei dem am Boden Liegenden ankamen, war ihnen bewusst, dass der keinen Mucks von sich gegeben hatte. Es war alles umsonst gewesen. Fritz Jahn suchte mit dem letzten Rest von Gefühl in seinen Fingern den Puls, aber er fand nichts. Er blickte in die von Eiskristallen überzogenen Gesichter seiner Kameraden, aus denen selbst die Erschöpfung nicht das Entsetzen zu tilgen vermochte. Dann schüttelte er den Kopf und drosch resigniert mit der flachen Hand auf den Schnee, dass es nur so staubte.

„Er ist tot. Und festzustellen, dass es ein Tod durch Erfrieren war, ist wohl keine Kunst.“

Der Tote erschien jung, aber nicht jungenhaft; schlank, aber nicht schlaksig; die schwarzgeränderte Brille war neben seinen leblosen Augen in den Schnee gefallen. Wunderlich erstarrte nun auch innerlich zu Eis. Denn er kannte ihn gut.

„Das ist der Bürgermeister von Schwarzenbach“, informierte er die Runde.

„Was??! Aber wieso??!“

Dann breitete sich ein langes Schweigen aus und setzte der gerade noch lärmenden Geschäftigkeit des Rettungsversuchs ein jähes Ende. Der Sturm pfiff ihnen unbarmherzig alles Mögliche um die Ohren – Schneeflocken, Fichtennadeln, sogar kleine dünne Zweiglein, die vom Boden aufgewirbelt wurden. Sie ließen es teilnahmslos geschehen.

„Ich wusste, dass diese sieben nichts Gutes im Schilde führen“, murmelte Wunderlich schließlich, „aber ich hatte so sehr gehofft wie noch nie, dass wir mit der Geiselnahme davonkommen würden. Dass sie so weit gehen würden, hätte ich ihnen nicht zugetraut.“

„Wieso zugetraut? Er ist doch einfach jämmerlich erfroren, im Nirgendwo, an dieser verlassenen Waldhütte!“ Hanns König war frustriert, traurig und wütend.

„Ich glaube nicht, dass das hier ein Unglück war. Nicht nach allem, was in den letzten sieben Tagen passiert ist. Ich rufe jetzt erst mal meine Leute hierher auf den Berg und dann sehen wir weiter. Wir müssen herausfinden, was ihm wirklich zugestoßen ist.“ Er deutete auf die Leiche, die breit ausgestreckt auf dem schneebedeckten Boden lag. „Mit dem stimmt irgendwas nicht. Aber ich komme nicht drauf.“

Erst mit einigen Sekunden Verzögerung dämmerte Fritz Jahn allmählich die Bedeutung der Worte des Polizisten. Bislang hatte er einen entschlossenen, der Kälte mit der Macht eines Naturkundlers trotzenden Blick aufgesetzt. Der wich nun mit einem Schlag der schieren Panik.

„Das … das würde ja bedeuten, dass wir es am Ende womöglich mit …“ Er musste zweimal schlucken und sich sammeln.

„Mit sieben Morden zu tun haben werden“, endete er schließlich mit erstickter Stimme, kaum wahrnehmbar im wilden Rauschen der Fichten.

Wunderlich zog seine halb gefrorene Stirn in Falten. „Es wird ein Rennen gegen die Zeit“, erwiderte er. „Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät!“ Er fasste sich an sein Ohr. „Wenn nur dieses Ding hier funktionieren würde!“

Es war elf Uhr dreißig.

4

Von dem, was da kommen würde, hatten Kommissar Wunderlich und Bürgermeister Edmund Angermann am goldenen Herbsttag von Allerheiligen noch nicht die leiseste Ahnung. Und das verband sie, ohne dass sie es wussten, mit dem keine zehn Kilometer entfernten Andreas Ebert. Während die Rehauer das Rätsel um die aufgeknüpfte Mackert-Puppe lösen wollten, ging der Rathauschef von Schwarzenbach arglos an die frische Luft.

Ebert war einer dieser guten Bekannten Wunderlichs, die der noch auf Grund seiner Zeit in der Kommunalpolitik in den neunziger Jahren hatte, wo er – entgegen seiner ansonsten einzelgängerischen Art – bis heute bestens vernetzt war. Mit nur siebenundzwanzig Jahren war Ebert, Parteifreund Wunderlichs und ihm aus gemeinsamen Funktionärstagen in der Jugendorganisation ihrer Partei verbunden, im Jahr 2002 zum Bürgermeister von Schwarzenbach an der Saale gewählt worden. Wunderlichs Weg führte zu dieser Zeit hinaus aus der Politik, Ebert dagegen machte Karriere.

Mit jähen Wendungen.

Man schrieb das Jahr 2014, als Eberts Partei etwas tat, was einer Wette darauf gleichkam, dass es bei Sonnenaufgang hell wird: Sie nominierten ihn bei der anstehenden Kommunalwahl als Kandidaten für das Amt des Landrats – den Posten, den man seit unfassbaren sechsundsechzig Jahren für das eigene Lager innehatte.

Verlieren war unmöglich. Selbst wenn die Gegenseite Dirk Nowitzki aufgestellt hätte. Tat sie aber nicht – sie brauchten nur jemanden zu nehmen, der nicht den gleichen skurrilen Fehler beging wie Eberts Vorgänger und Parteifreund.

Es war die Zeit, in der landauf, landab eine Liberalisierung der Autokennzeichen stattfand. Die 1972 aufgelösten Altlandkreise bekamen ihre Kürzel zurück, wenn der Fahrzeughalter das wünschte. Nun konnten Menschen schon immer sehr empfindlich sein, wenn es um Heimat ging. Und so hätte selbst SNR für Schnarchenreuth oder UZG für Untergamskobenzeisgruben-Gernhaferlverdimmering reißenden Absatz gefunden. Aber mit ihrem alten MÜB für Münchberg wären die Leute schon zufrieden gewesen.

Bloß, der Landrat war eben der Meinung, das bräuchte es nicht.

Und so kam es, dass sein designierter Nachfolger Andreas Ebert die Wahl verlor.

Nun war dies eine von mehreren Optionen, welche eine bestimmt akribische und fundamentale Detailanalyse seitens der Bevölkerung zutage gefördert hatte, und Wunderlich vertrat die Ansicht, der Zusammenhang würde dadurch wohl etwas verkürzt dargestellt. Er hatte seine eigene, respektvolle Sicht auf die Politik. Beide Kandidaten hatten durchaus Kompetenz mitgebracht, und auf Grund vermutlich einer Vielzahl von Umständen hatte eben der eine die Wahl für sich entschieden, ohne dass das die Leistungen des anderen schmälerte. Ebert jedenfalls war nach seiner Niederlage in die Wirtschaft gewechselt. Derweil hatte sich in seiner Heimatstadt der politische Gegner das Bürgermeisteramt gesichert.

Wer nun jedoch glaubte, dies sei das natürliche Ende von Eberts Karriere gewesen, der wurde durch eine bemerkenswerte Wendung eines Besseren belehrt. Man schied bekanntlich nur aus dem Amt und nicht aus dem Leben. Also schrieb man das Ende des Jahres 2019, als in Eberts Partei – dem Vernehmen nach in einer Kegelrunde – jemand nur so zum Spaß die Idee aufbrachte, ihn ins höchste Amt der Stadt zurückzuholen. „Schwarzenbach kann mehr!“, hatten alle im Brustton der Überzeugung zugestimmt. Und so geschah es: Ebert kam zurück in die Heimat und erneut war klar: Er konnte nicht verlieren. Nur dass es diesmal auch eintraf.

Der frühere und neue Bürgermeister spazierte also an diesem 1. November, exakt ein halbes Jahr nach seiner neuerlichen Amtsübernahme, mit seiner Frau entspannt und glücklich an der Saale entlang. Sie waren gerade durch ein Gässchen die Treppe vom Kirchfelsen von Sankt Gumbertus herabgekommen und flanierten nun über den Schlossplatz. Das Karree zwischen Fluss und Rathaus hieß zwar nicht wirklich so, aber der Name wäre verdient gewesen. Zum einen war das Schwarzenbacher Rathaus früher ein Schloss gewesen und damit noch heute ein prachtvolles Ensemble und kein nüchternes Verwaltungsgebäude. Zum anderen beherbergte der Platz, mit elegantem Kopfsteinpflaster hergerichtet, Sommerfeste, Weihnachtsmärkte und viele andere Events, ganz abgesehen von der breiten, baumbeschatteten Uferwiese, auf der man erholsam picknicken und die Füße ins Wasser stecken konnte. Es war somit der Ort, der besonders viel Leben in die Stadt brachte.

Von dem hölzernen Podest, das sonst die Bühne für die Feiern bot, blickten die Eberts versonnen auf die Saaleauen vor sich und lauschten dem Plätschern des Wassers am Wehr.

„Der Fluss, das Grün, die Ruhe, das Leben – also ich möchte hier nie wieder weg“, begann er.

„Du klingst fast wie Jean Paul.“

„Klar, der hat sich für seine Dichter-Karriere ja nicht umsonst auch Schwarzenbach ausgesucht.“

„Und damit selbst Goethe Konkurrenz gemacht.“

„Aber nun lass uns erst einmal Mittagessen gehen. Ich muss nur schnell im Rathaus eine Akte mitnehmen. Gehst du schon mal vor in die Pizzeria? Ich komme gleich nach.“

Während Frau Ebert beim Italiener direkt gegenüber dem Schloss Platz nahm und schon einmal Wasser und Wein für sich bestellte, betrat ihr Mann das Rathaus.

 

Es vergingen zehn Minuten, dann zwanzig, aber Andreas Ebert war noch immer nicht am Tisch erschienen. Seine Frau nippte etwas ungeduldig am San Pellegrino.

Nach fünfundzwanzig Minuten rief sie ihn an. Aber der Bürgermeister ging nicht ans Telefon. Sie nahm nervös einen Schluck vom Chianti.

Nach dreißig Minuten bat sie den Kellner, den Tisch freizuhalten, zog ihren Mantel über und ging nach drüben ins Amtszimmer ihres Mannes.

Drei Minuten später klingelte in Rehau, inmitten von Blaulicht rund um den Maxplatz und neben Mackerts auf- und wieder abgehängter Puppe, Wunderlichs Telefon. Edmund Angermann neben ihm konnte hören, dass eine äußerst aufgeregte Frauenstimme auf den Kommissar einredete. „… dich angerufen … ihn ja kennst …“, so viel verstand er.

„Ich bin in fünfzehn Minuten da“, antwortete Wunderlich, sprang auf sein Rennrad, sich von Angermann mit einer Geste verabschiedend, die nur „ich muss dringend weg; wir sehen uns später“ bedeuten konnte. Fünf Minuten danach war er zuhause bei seinem Auto, klemmte sein Blaulicht aufs Dach und raste zur Stadt hinaus, an der Lederfabrik vorbei auf die B289. Im Kreisel mit dem Stadtwappen quietschten die Reifen, als er in die Kurve ging und die anderen Fahrer zur Seite drängte. Im flackernden blauen Schein der LED flog der Abzweig nach Wurlitz an ihm vorbei; er überholte auf Höhe Quellenreuth in der Siebziger-Zone mit hundertdreißig zwei LKWs und preschte den Berg hinab zu den riesigen Firmengebäuden von Christoph Heinrich an der Lamitzmühle, mit dem blauen Firmenlogo, das in der Nacht so hell leuchtete, dass es Wunderlichs Notfallsignal Konkurrenz machen konnte. Dann eilte er den Gegenhang wieder hinauf. Beim Linksabbiegen schaltete er das Martinshorn ein und donnerte am Gewerbegebiet vorbei um die Rechtskurve in die lange Einkaufsstraße, die ihn über die Bahngleise hinab zur Stadtmitte brachte. Es war der kürzeste Weg zum Rathaus von Schwarzenbach, und dort wartete Andreas Eberts Frau. Allein. Und verloren.

„Verschwunden, einfach verschwunden!“, heulte sie. „Er wollte nur kurz eine Akte holen.“

„Die, die hier auf dem Boden liegt?“ Wunderlich hob nachdenklich den etwa zwanzigseitigen Ordner auf.

„Das weiß ich nicht. Er hat nicht gesagt, worum es geht. Aber er schmeißt doch nicht achtlos eine Akte runter. Und sein Mantel liegt da einfach so über seinen Schreibtisch geworfen.“

Wunderlich kannte Ebert lange genug, um zu wissen, dass der in der Tat nicht der Typ für diese Art Unordnung war. Hier war etwas Ernstes vorgefallen, und er fand den aufgelösten Zustand von Eberts Frau, so leid es ihm tat, daher vollkommen angemessen. Das wurde nicht besser durch den Zettel, der neben der Akte auf dem Boden lag.

„Ist das Andreas’ Handschrift?“, fragte er Frau Ebert und deutete auf das kleine Stück Papier. Sie blickte kurz darauf und nickte.

„Aber was es bedeuten soll, weißt du nicht, oder?“

Sie schüttelte ratlos den Kopf.

„SONNTAG, 8. NOVEMBER, 23:59 UHR.

BESSER BIS FREITAG.“

Was immer das hieß, es konnte nur Unheilvolles sein. Wunderlich griff zum Handy und ließ Andreas Ebert zur Fahndung ausschreiben. Danach wollte er eigentlich wieder in sein ziviles Polizeifahrzeug steigen und zurück nach Rehau fahren. Aber beim Umdrehen Richtung Rathaus kam ihm etwas dazwischen. Und zwar die Leiche des Unternehmers Christoph Heinrich.

Sibylle Augsburger war eigentlich gekommen wie gerufen. Die zierliche, sportliche Blonde Anfang fünfzig hatte kürzlich genau den Karrieresprung bei der Polizei gemacht, den Wunderlich jetzt gebrauchen konnte. Das hatte sie sich auch mehr als verdient nach all den Jahren als Polizeipsychologin bei der Kripo Hof. Sibylle machte intern nicht viele Worte, sie arbeitete lieber konzentriert, was – sehr zum Leidwesen von Wunderlichs Gefühl für Gerechtigkeit – regelmäßig dazu geführt hatte, dass sie zu wenig gesehen wurde. Aber irgendwann hatte er den Kriminaloberrat in Hof und sogar den Polizeipräsidenten in Bayreuth so lange mit der Nase auf Sibylles unschätzbar wichtige Resultate gestoßen, dass sie es begriffen hatten. Wunderlich interessierte sich normalerweise nicht sonderlich für die privaten Wünsche und Pläne seiner Kollegen. Nur waren Sibylle und er alles andere als das, denn er war mit ihr länger und enger befreundet als mit irgendjemandem sonst. Als sie sich vor fünfundzwanzig Jahren zu Beginn ihrer beider Laufbahn auf der Polizeischule in München begegnet waren, hatte der liebe Gott ein spektakuläres Puzzlespiel begonnen: Es galt zwei Leute zu verbinden, deren Seelenverwandtschaft bei knapp über hundert Prozent lag, die aber auf Grund ihrer Lebensgeschichte dieser Nähe kaum jemals trauen konnten. Heraus kam eine jahrzehntelange Jagd durch Höhen und Tiefen. Am Ende jedoch waren sie immer noch da und einigermaßen überzeugt vom Plan ihres Schöpfers. Also kümmerten sie sich umeinander, der Hauptkommissar und die frischgebackene Profilerin.

Sie hatte sich kurz zuvor noch zu ihm und Angermann gesellt, als beide vor Eugen Gomringers geschändeten Gedichtzeilen in Rehau standen. „Was hältst du davon?“, hatte er sie gefragt, „ich meine, als Psychologin? Eine lebensechte Kunststoff-Puppe als Leiche, Mackert als Verräter – und diese geheimnisvolle Sieben?“

„Sieben. Mmh. Irgendwas war da neulich. Aber ich komm’ nicht drauf. Vielleicht fällt’s mir wieder ein, bis du zurück bist“, hatte sie ihm noch hinterhergerufen, als er aufs Rad gesprungen war.

Christoph Heinrich war für Schwarzenbach das Gleiche wie Gerch Mackert für Rehau: ein unternehmerisches Aushängeschild, ein hochfränkisches Urgestein, dessen Vorfahren vor weit über hundert Jahren hier einen Industriebetrieb gegründet hatten. Ein hidden champion, Weltmarktführer auf dem Feld seines Produktes. Nur im Unterschied zu Gerch nicht so eingebildet, sondern etwas seriöser. Jetzt natürlich nicht mehr, da sich sein Körper leblos vor Wunderlichs Augen befand. Und Frau Ebert entsetzt zu schreien begann.

Genauer gesagt, Heinrich baumelte. Zum Glück. Denn ein zweites Mal fiel Wunderlich nicht darauf herein. Er erklärte der noch immer zitternden Frau seines alten Parteifreundes die Sache mit der lebensecht aussehenden Puppe. Dann warf er dem vermeintlichen Heinrich einen Stein an den Kopf. „Deng!“, machte es nur – innen hohl. Viel mehr irritierte ihn das, was an der Rathausfassade geschrieben stand, im selben Blutrot wie in Rehau.

„Letzter Gruß von Onkel Dagobert“ war da zu lesen. Und ganz am Ende, in Eisblau, eine Ziffer.

„7“.

Wunderlich verlor keine Zeit. Während er seinen Kripo-Kollegen Bescheid gab, dass sie sich das makabre Theaterspiel ansehen und wegräumen sollten, begab er sich umgehend zum Erika-Fuchs-Haus. Mit der Stadt Schwarzenbach verhielt es sich wie mit ihrem Nachbarn Rehau: Sie konnte mit bemerkenswerten Besonderheiten punkten. In diesem Fall damit, Lebensmittelpunkt von Donald Duck zu sein. Zumindest desjenigen Donald, der Deutsch konnte. Die große Erika Fuchs, Übersetzerin von Carl Barks’ Original-Comics, hatte ab 1933 ihre Heimat hier gefunden, und nach ihrem Tod im Jahr 2005 beschloss die Stadt, ihr zu Ehren ein Comic-Museum zu eröffnen. Wunderlich würde die nächsten zwei Stunden darin verbringen, um herauszufinden, warum im Namen von Donalds Onkel Dagobert der bedeutendste Wirtschaftsboss dieser Stadt symbolisch aufgeknüpft worden war. Nicht jedoch, ohne vorher Sibylle anzurufen.

„Könntest du in zwei Stunden nach Schwarzenbach kommen? Die Lage hier ist ernster als in Rehau. Wir richten im Oktogon ein Lagezentrum ein.“

„Das ist ein hochherrschaftlicher Platz in Budapest.“

„Nein, du notorische Fernreisende. Das Gute liegt so nah. Das ist im Rathaus von Schwarzenbach.“

Mit fünf Euro war er dabei, als Wunderlich Entenhausen betrat. Tatsächlich betrat, denn die Stadt mit dem Original-Namen Duckburg war im Erika-Fuchs-Haus begehbar nachgebaut. Er sah sich im Garten von Donald Ducks Haus um, ebenso wie in der Werkstatt von Daniel Düsentrieb. Der Entenhausener Erfinder aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hatte erstaunlich Visionäres im Programm: Seinen „Schall-Löscher“ gab es heute tatsächlich als Noise-Cancelling-Kopfhörer, und der Begriff Schwarzlicht war im Jahr 2020 selbstverständlich. Wunderlichs Lieblingsort, so viel an kapitalistischer Ader besaß selbst er, war natürlich Onkel Dagoberts Geldspeicher, mit zehn Zentimeter großen goldenen Talern aus Plastik, die man richtig berühren – und im Foyer auch kaufen – konnte. Aber keiner dieser Plätze verbarg eine Botschaft, die auf einen „letzten Gruß von Onkel Dagobert“ hinwies.

Er nahm sich den interaktiven Stadtplan von Entenhausen vor. Eine Hafenstadt mit Parks, mit Bergen im Hinterland und mit zahlreichen Sehenswürdigkeiten. Dutzende von Punkten auf der Karte konnte man antippen und erfuhr dann alles über Dagoberts Spezialgeldspeicher für Altgeld oder Goldstaub, das tausendachthundert Meter hohe Ausflugsziel Ochsenkopf oder die drei städtischen Flughäfen. Wunderlich klickte sich tapfer durch jede Beschreibung. Vor allem die, in denen Erika Fuchs wie so oft auf echte Plätze der Region Bezug genommen hatte wie Christoph Heinrichs Wattefabrik, Vetter Ferdi aus Fahrenbühl, Onkel Dagoberts Pipeline von Wurlitz nach Entenhausen oder die Geflügelfabrik Piepmeier in Rehau. Aber nirgends ergab sich ein Hinweis auf den realen Schmierfinken an der Rathausfassade.

Vielleicht verbarg sich ja in der Biografie von Dr. Erika Fuchs ein Motiv, die im nächsten Raum ebenso gründlich wie heiter präsentiert wurde – nämlich als Comic. Wunderlich war sich des bewegten Lebens der gebürtigen Rostockerin Erika Petri nie bewusst gewesen: Höhere Töchterschule in Belgrad, Studium in Lausanne, München und London. Dann hatte sie den Schwarzenbacher Ingenieur Günter Fuchs kennen gelernt und es war ihr gegangen wie so vielen: Sie wollte zuerst nicht nach Oberfranken ziehen, und als sie es der Liebe wegen dennoch getan hatte, wollte sie nicht mehr weg, weil sie sich pudelwohl fühlte. Dies alles wurde ebenso augenzwinkernd bebildert und mit Sprechblasen versehen wie ihr Einstieg beim Ehapa-Verlag, der ihr das Projekt anvertraute, Carl Barks’ Entencomics ins Deutsche zu übersetzen. Was sie nicht wortgetreu tat, sondern mit ihrem eigenen Kopf und damit in ihrer Heimat Millionen Herzen für Donald und Dagobert gewann. Am beeindruckendsten empfand Wunderlich allerdings die Zeichnung über Günter Fuchs’ Wirken zur Nazizeit, in der er nie in einer NS-Organisation war, aber eben doch als Ingenieur in Diensten des Regimes gestanden hatte: Es waren lauter Bilder in einem immer gleichen dunkelbraunen Tunnel, dessen Ausfahrt ans Tageslicht mit Blick aufs kleine ländliche Schwarzenbach sich erst und endlich zum Kriegsende auftat.

Der Kommissar war nun richtig geplättet von der Vielfalt an Sprache, Fantasie und Historie, die dieses Comic-Museum von internationaler Bedeutung ihm bot. Aber seine Ermittlung kam nicht voran. Er unternahm einen letzten Versuch im Kreativ-Teil des Hauses: Hatte jemand aus Buchstabenkärtchen ein verräterisches Wort im „Erikativ“ gebildet, der Inflektiv-Verbform, die mit Erika Fuchs Kultstatus erlangt hatte? „Aufknüpf!“ vielleicht, oder „Wegpust“? „Brems, quietsch, zerr“? Hatte jemand einen verdächtigen Text in eine leere digitale Sprechblase eingefügt?

Er fand nichts. Nach zwei Stunden verließ er eines der spannendsten Museen Deutschlands, mitten in Oberfranken, aber ohne dass die Anspannung geringer wurde, unter der er unentwegt stand, solange er in einem Fall keine Spur hatte.

Der Große Sitzungssaal im Rathaus zu Schwarzenbach an der Saale war tatsächlich achteckig, und die hölzernen Sitzungstische folgten dieser Geometrie. Man konnte darauf bestens einen Haufen Unterlagen ausbreiten, thematisch ordnen, im Kreis darum herumgehen und dabei nachdenken.

Sibylle reichte der Platz aber immer noch nicht. Sie nahm auch noch die weißen Pinnwände in Anspruch, die ebenfalls im Achteck außen um die Tische drapiert waren. Während sie mit Stecknadeln Papier anheftete, begann sie zu sprechen.

„Mir ist wieder eingefallen, wo ich der Sieben begegnet bin.“

„Die sieben Todsünden?“, spottete Wunderlich, denn sie neckten sich praktisch ständig. „Über sieben Brücken musstest du gehen?“ Er starrte gedankenverloren auf den alten Stich mit der Schwarzenbacher Stadtansicht, der an einer der Pinnwände hing.

„Nein. Feiner Sand.“

„Hä?“

„Das Ergebnis von drei mal sieben.“

„Einundzwanzig?“

„Nein. Dreimal sieben ergibt feinen Sand.“

 

„Oh. Mein. Gott! Das ist der schlechteste Kalauer aller Zeiten!“

„Ich muss doch trainieren, damit ich mit dir mithalten kann.“

„Wenn es um Witze auf meine Kosten geht, bist du plötzlich gesprächig“, maulte er. „Dabei verbringst du sonst die meiste Zeit stumm wie der da.“ Wunderlich deutete durchs Fenster nach draußen auf den lustigen blauen Fisch mit der stilisierten Schwarzenbach-Skyline auf dem Bauch und auf all die anderen knallbunten Fische rund um den kleinen Saalepark. Die Plastiken waren Teil eines Patenschaft-Kunstprojektes mit dem Wappentier der Stadt. Und es traf durchaus zu, dass Wunderlich seiner besten Freundin häufig jedes Wort aus der Nase ziehen musste, wohingegen sie Stein und Bein schwor, dass doch alles gesagt sei.

„Spaß beiseite, die Sieben hat einen mysteriösen Hintergrund“, wurde sie wieder ernst. „Man nennt sie auch die Großen Sieben.“

„USA, Japan …“

„Nein, nein, nicht die G7. Die Großen Sieben, so haben die Leute die Gruppe getauft, die den Kornberg gekauft hat. Du weißt schon, diesen Sommer.“

„Ach die. Ja, ich erinnere mich. Geheimnisvolle Sache bis jetzt. Und du denkst, diese Leute unterschreiben Todesdrohungen mit ihrem eigenen Namen?“

„Das glaube ich allerdings weniger. Erstens sehe ich die Verbindung nicht und zweitens wäre das doch abgrundtief dumm. Wer begeht denn solche öffentlich sichtbaren Straftaten, wenn er zugleich als großer Investor auftritt? Nein, unsere Sieben muss eine andere Bedeutung haben. Eine versteckte Botschaft.“

„Die einzige Botschaft, die mir einfällt“, wandte er sorgenvoll ein, „ist diese hier: Es geht um sieben, und wir sind erst bei zwei. Mackert und Heinrich.“

„Und wir sind nicht in New York, sondern mitten in Hochfranken“, ergänzte sie. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Eberts Verschwinden nichts damit zu tun hat, ist also in etwa so hoch wie ein Siebener mit zwei Superzahlen.“

„Wie das zusammenhängt und welche Gefahr Mackert und Heinrich droht, müssen wir möglichst sofort herausfinden, hier in unserem Krisenzentrum.“

Er zeigte Sibylle den geheimnisvollen Zettel mit der Zeitangabe des kommenden Sonntags um eine Minute vor Mitternacht. Aber auch sie zuckte nur ratlos mit den Schultern.

„Also, lass uns loslegen. Ich bin sicher, Veronika macht uns dazu den besten Kaffee von Schwarzenbach.“

5

„Das ist ja wohl unglaublich“, wetterte Professor Hans-Otto Birnbaum, Pathologe der Rechtsmedizin an der Universität Erlangen, als er Punkt zwölf Uhr mittags aus dem Schneegestöber heraus an der Vorsuchhütte auftauchte. Er drückte Wunderlich die Hand, bemüht, unter seiner Nickelbrille und dem gegelten schwarzen Haar sein erbärmliches Zittern in der unerträglichen Kälte zu verbergen, denn er war schließlich der Größte, unantastbar selbst von der Natur.

„Nicht einmal bis direkt hierher hat euer Polizeihubschrauber mich gebracht“, maulte er beleidigt in den heulenden Wind hinein. „Vorne an der Kornberghütte beim Skilift sind sie gelandet.“

„Größere Lichtung?“, meinte Wunderlich trocken und zeigte mit ausschweifender Handbewegung in den dichten Wald rund um die Vorsuchhütte. „Der Herr Professor verstehen wohl nicht so viel vom Fliegen? Aber es ist natürlich bedauerlich, dass Sie die dreihundert Meter zu Fuß gehen mussten. Na ja, andererseits, ein Birnbaum friert ja nicht.“ Er blickte betont unbefangen zum Himmel in das endlose Flockengewirr.

Man konnte in Birnbaums Miene lesen, dass er Wunderlich, der für seine Wortspiele berühmt-berüchtigt war, das Grinsen am liebsten mit einem Faustschlag ausgetrieben hätte. Dann machte sich der Forensiker wortlos an die Arbeit, während das ebenfalls aus der Luft abgesetzte Team der Spurensicherer die ihre tat. Man hätte sie fast nicht gesehen, denn über ihre dicken Winterjacken hatten sie ihre üblichen weißen Kittel gezogen. Selbst im Schnee konnte man schließlich DNA-Spuren sicherstellen und wollte sie nicht verschmutzen. Vor allem, weil einem die bitterkalten Windböen jede Konzentration raubten.

„Mensch, Wunderlich, warum bist du denn nicht gleich mit unseren eigenen Leuten hier rauf?“, fragte ihn einer seiner Kollegen.

„Weil ich ohne unsere Kavallerie unauffälliger bin. Ich hatte gehofft, das Versteck unserer sieben Entführten heimlich finden und die Sache unblutig zu Ende bringen zu können. Also habe ich auf unsere tapferen Freunde hier zurückgegriffen. Aber der Tote ändert natürlich alles.“

Die zehn Leute des Fichtelgebirgsvereins, die Wunderlich soeben gelobt hatte, kauerten an der am meisten windgeschützten Hauswand der alten Wirtschaft. Sie hatten ihre Vorräte an heißem Tee ausgepackt und warteten mit einer gewissen Erleichterung. Für sie war das Drama vorbei. Wunderlich hatte organisiert, dass der Hubschrauber sie in Kürze direkt zu ihrem Autoparkplatz unten in Brunn bringen würde. Niemand würde in Dunkelheit und Kälte umkommen. Sie waren fast ein wenig peinlich berührt von sich selbst. Wie hatten sie, die Experten für diesen Berg, die mit allen Wassern Gewaschenen, nur eine derart jämmerliche Angst verspüren können?

Birnbaum durchbrach ihre Gedanken.

„Du, Herr Kommissar. Du bekommst einen Haufen Arbeit!“

Wunderlich war gerade dabei, den Boden nach Spuren abzusuchen, und sah auf von dem grellen Schneeweiß unter sich.

„Denn hier stimmt etwas nicht!“, rief ihm der Pathologe zu und bedeutete ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung, sich dem Fundort der Leiche zu nähern. Wunderlich tat wie ihm geheißen und stapfte durch den Tiefschnee.

„Also erstens“, hob Birnbaum an, „hast du mal in sein Gesicht geschaut? Weißt du, wer das ist?“

„Der Bürgermeister von Schwarzenbach“, antwortete der Kommissar resigniert. „Warum auch immer.“

„Naa, isser nedd!“

„Hä?“

„Ich gebe ja zu, er sieht ihm ähnlich. Ich kenne den Schwarzenbacher Oberboss. Statur, Frisur, das passt durchaus alles ungefähr. Aber dieser Mann hier trägt Kontaktlinsen.“

„Wieso Linsen??! Da liegt doch seine schwarze Brille.“

„Das ist nicht seine.“ Birnbaum zog herablassend die Stirne kraus. Ohne weitere Ausführungen setzte er dem vermeintlichen Andreas Ebert die Brille auf. Sie war viel zu klein und hing schief über Nase und ein Ohr.

„Verdammt, ich Trottel!“ Wunderlich hätte sich ohrfeigen können ob seiner Nachlässigkeit.

„Das ist aber nicht das einzige Problem.“ Wunderlich hatte schon Ohren so groß wie Radioteleskope. Doch ein Rattern durchbrach die Unterhaltung. Der Heli kam zurück und lud vorne am Auslauf der Skipiste die tapferen Männer und Frauen des Fichtelgebirgsvereins ein, während zugleich der Leichenwagen mühsam die Straße von Spielberg heraufgestampft kam und sich auf der großen Wegkreuzung an der Vorsuchhütte aufstellte.

„Man möchte ja meinen, dass der arme Mann erfroren ist, angesichts der unbefriedigenden Wetterlage hier oben“, fuhr Birnbaum nach diesen fünf höchst unwillkommenen Minuten Wartezeit fort. „Zumal er keine äußeren Verletzungen aufweist. Aber fällt dir nichts auf?“

„Nein, wieso? Der liegt da, lang und breit und mausetot.“

„Eben. Lang und breit.“

Ganz allmählich dämmerte Wunderlich, was er übersehen hatte. Irgendetwas war ihm bereits vor Birnbaums Eintreffen seltsam vorgekommen. Aber der war jetzt schneller.

„Jajaja“, seufzte der Forensiker herablassend, „ohne mich wärt ihr alle blind wie ein Maulwurf. Wenn jemand am Erfrieren ist, was würde der dann tun?“

„Sich zusammenkrümmen?“ Wunderlich schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.