Der Zauberberg. Volume 2

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"Eh, eh, die Argumente unseres armen, großen Galilei haben sich als stichhaltiger erwiesen! Nein, lassen Sie uns ernsthaft re-den, Professore! Beantworten Sie mir vor diesen beiden auf-merksamen jungen Leuten die Frage: Glauben Sie an eine Wahrheit, an die objektive, die wissenschaftliche Wahrheit, der nachzustreben oberstes Gesetz aller Sittlichkeit ist, und deren Triumphe über die Autorität die Ruhmesgeschichte des Menschengeistes bilden?!"

Hans Castorp und Joachim wandten die Köpfe von Settembrini zu Naphta, der erstere schneller, als der andere. Naphta antwortete:

"Ein solcher Triumph ist nicht möglich, denn die Autorität ist der Mensch, sein Interesse, seine Würde, sein Heil, und zwischen ihr und der Wahrheit kann es keinen Widerstreit geben. Sie fallen zusammen."

"Die Wahrheit wäre demnach –"

"Wahr ist, was dem Menschen frommt. In ihm ist die Natur zusammengefaßt, in aller Natur ist nur er geschaffen und alle Natur nur für ihn. Er ist das Maß der Dinge und sein Heil das Kriterium der Wahrheit. Eine theoretische Erkenntnis, die des praktischen Bezuges auf die Heilsidee des Menschen entbehrt, ist dermaßen uninteressant, daß jeder Wahrheitswert ihr abzu-sprechen und ihre Nichtzulassung geboten ist. Die christlichen Jahrhunderte waren völlig einig über die menschliche Uner-heblichkeit der Naturwissenschaft. Lactantius, den Konstantin der Große zum Lehrer seines Sohnes wählte, fragte gerade her-aus, welche Seligkeit er denn gewinnen werde, wenn er wisse, wo der Nil entspringt, oder was die Physiker vom Himmel fa-seln. Das beantworten Sie ihm einmal! Wenn man die platoni-sche Philosophie jeder anderen vorzog, so darum, weil sie sich nicht mit Naturerkenntnis, sondern mit der Erkenntnis Gottes abgab. Ich kann Sie versichern, die Menschheit ist im Begriff, zu diesem Gesichtspunkt zurückzufinden und einzusehen, daß es nicht Aufgabe wahrer Wissenschaft ist, heillosen Erkenntnissen nachzulaufen, sondern das Schädliche oder auch nur ideell Be-deutungslose grundsätzlich auszuscheiden und mit einem Worte Instinkt, Maß, Wahl zu bekunden. Es ist kindisch, zu meinen, die Kirche habe die Finsternis gegen das Licht verteidigt. Sie tat dreimal wohl daran, ein 'voraussetzungsloses' Streben nach Erkenntnis der Dinge, das heißt: ein solches, das sich der Rück-sicht auf das Geistige, auf den Zweck der Heilserwerbung ent-schlägt, für strafbar zu erklären, und was den Menschen in Finsternis geführt hat und immer tiefer führen wird, ist vielmehr die 'voraussetzungslose', die aphilosophische Naturwissenschaft."

"Sie lehren da einen Pragmatismus", erwiderte Settembrini, "den Sie nur ins Politische zu übertragen brauchen, um seiner ganzen Verderblichkeit ansichtig zu werden. Gut, wahr und ge-recht ist, was dem Staate frommt. Sein Heil, seine Würde, seine Macht ist das Kriterium des Sittlichen. Schön! Damit ist jedem Verbrechen Tür und Tor geöffnet, und die menschliche Wahrheit, die individuelle Gerechtigkeit, die Demokratie – sie mö-gen sehen, wo sie bleiben …"

"Ich bringe ein wenig Logik in Vorschlag", versetzte Naphta. "Entweder Ptolemäus und die Scholastik behalten recht, und die Welt ist endlich in Zeit und Raum. Dann ist die Gottheit trans-zendent, der Gegensatz von Gott und Welt bleibt aufrecht, und auch der Mensch ist eine dualistische Existenz: das Problem seiner Seele besteht in dem Widerstreit des Sinnlichen und des Übersinnlichen, und alles Gesellschaftliche ist mit Abstand zweiten Ranges. Nur diesen Individualismus kann ich als kon-sequent anerkennen. Oder aber Ihre Renaissance-Astronomen fanden die Wahrheit, und der Kosmos ist unendlich. Dann gibt es keine übersinnliche Welt, keinen Dualismus; das Jenseits ist ins Diesseits aufgenommen, der Gegensatz von Gott und Natur hinfällig, und da in diesem Falle auch die menschliche Persön-lichkeit nicht mehr Kriegsschauplatz zweier feindlicher Prinzi-pien, sondern harmonisch, sondern einheitlich ist, so beruht der innermenschliche Konflikt lediglich auf dem der Einzel – und der gesamtheitlichen Interessen, und der Zweck des Staates wird, wie es gut heidnisch ist, zum Gesetz des Sittlichen. Eines oder das andere."

"Ich protestiere!" rief Settembrini, indem er seine Teetasse dem Gastgeber mit ausgestrecktem Arm entgegenhielt. "Ich protestiere gegen die Unterstellung, daß der moderne Staat die Teufelsknechtschaft des Individuums bedeute! Ich protestiere zum drittenmal, und zwar gegen die vexatorische Alternative von Preußentum und gotischer Reaktion, vor die Sie uns stellen wollen! Die Demokratie hat keinen anderen Sinn, als den einer individualistischen Korrektur jedes Staatsabsolutismus. Wahrheit und Gerechtigkeit sind Kronjuwelen individueller Sittlich-keit, und im Falle des Konflikts mit dem Staatsinteresse mögen sie wohl sogar den Anschein staatsfeindlicher Mächte gewin-nen, während sie in der Tat das höhere, sagen wir es doch: das überirdische Wohl des Staates im Auge haben. Die Renaissance der Ursprung der Staatsvergottung! Welche Afterlogik! Die Er-rungenschaften – ich sage mit etymologischer Betonung:' die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung, mein Herr, heißen Persönlichkeit, Menschenrecht, Freiheit!"

Die Zuhörer atmeten aus, denn sie hatten die Luft angehalten bei Herrn Settembrinis großer Replik. Hans Castorp konnte sogar nicht umhin, mit der Hand, wenn auch zurückhaltenderweise, auf den Tischrand zu schlagen. "Brillant!" sagte er zwischen den Zähnen, und auch Joachim zeigte starke Befriedigung, ob-gleich ein Wort gegen das Preußentum gefallen war. Dann aber wandten sich beide dem eben zurückgeschlagenen Interlokutor! zu, Hans Castorp mit solchem Eifer, daß er den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Faust stützte, ungefähr wie beim Schweinchen-Zeichnen, und Herrn Naphta aus nächster Nähe gespannt ins Gesicht blickte.

Dieser saß still und scharf, die mageren Hände im Schoß. Er sagte:

"Ich suchte Logik in unser Gespräch einzuführen, und Sie antworten mir mit Hochherzigkeiten. Daß die Renaissance all das zur Welt gebracht hat, was man Liberalismus, Individualismus, humanistische Bürgerlichkeit nennt, war mir leidlich be-kannt; aber Ihre 'etymologischen Betonungen' lassen mich kühl, denn das 'ringende', das heroische Lebensalter Ihrer Ideale ist längst vorüber, diese Ideale sind tot, sie liegen heute zum mindesten in den letzten Zügen, und die Füße derer, die ihnen den Garaus machen werden, stehen schon vor der Tür. Sie nen-nen sich, wenn ich nicht irre, einen Revolutionär. Aber wenn Sie glauben, daß das Ergebnis künftiger Revolutionen – Freiheit sein wird, so sind Sie im Irrtum. Das Prinzip der Freiheit hat sich in fünfhundert Jahren erfüllt und überlebt. Eine Pädagogik, die sich heute noch als Tochter der Aufklärung versteht und in der Kritik, der Befreiung und Pflege des Ich, der Auflösung ab-solut bestimmter Lebensformen ihre Bildungsmittel erblickt, – eine solche Pädagogik mag noch rhetorische Augenblickserfolge davontragen, aber ihre Rückständigkeit ist für den Wissenden über jeden Zweifel erhaben. Alle wahrhaft erzieherischen Ver-bände haben von jeher gewußt, um was es sich in Wahrheit bei aller Pädagogik immer nur handeln kann: nämlich um den ab-soluten Befehl, die eiserne Bindung, um Disziplin, Opfer, Verleumdung des Ich, Vergewaltigung der Persönlichkeit. Zuletzt bedeutet es ein liebloses Mißverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist der Ge-horsam."

Joachim richtete sich gerade auf. Hans Castorp errötete. Herr Settembrini drehte erregt an seinem schönen Schnurrbart.

"Nein!" fuhr Naphta fort. "Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror."

Er hatte das letzte Wort leiser als alles Vorhergehende gesprochen, ohne eine Körperbewegung; nur seine Brillengläser hatten kurz aufgeblitzt. Alle drei, die ihn hörten, waren zusam-mengezuckt, auch Settembrini, der sich aber bald lächelnd wie-der faßte.

"Und darf man sich erkundigen", fragte er, "wen oder was – Sie sehen, ich bin ganz Frage, ich weiß nicht einmal, wie ich fragen soll wen oder was Sie sich als Träger dieses – ich wie-derhole ungern das Wort – dieses Terrors denken?"

Naphta saß stille, scharf und blitzend. Er sagte:

"Ich stehe zu Diensten. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich unsere Übereinstimmung voraussetze in der Annahme eines idealen Urzustandes der Menschheit, eines Zustandes der Staat-und Gewaltlosigkeit, der unmittelbaren Gotteskindschaft, worin es weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenun-terschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Vollkommenheit."

"Sehr gut. Ich stimme zu", erklärte Settembrini. "Ich stimme zu bis auf den Punkt der fleischlichen Verbindung, die offenbar jederzeit stattgehabt haben muß, da der Mensch ein höchstent-wickeltes Wirbeltier ist und nicht anders, als andere Wesen –"

"Wie Sie meinen. Ich konstatiere unser grundsätzliches Ein-verständnis, was den anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustand betrifft, der durch den Sündenfall verloren ging. Ich glaube, daß wir noch ein weiteres Stück We-ges Seite an Seite bleiben können, nämlich indem wir den Staat auf einen der Sünde Rechnung tragenden, zum Schutz gegen das Unrecht geschlossenen Gesellschaftsvertrag zurückführen und darin den Ursprung der herrschaftlichen Gewalt erblicken.".

"Benissimo!" rief Settembrini. "Gesellschaftsvertrag … das ist die Aufklärung, das ist Rousseau. Ich hätte nicht gedacht –"

"Ich bitte. Unsere Wege scheiden sich hier. Aus der Tatsache, daß alle Herrschaft und Gewalt ursprünglich beim Volke war, und daß dieses sein Recht an der Gesetzgebung und seine ganze Gewalt dem Staate, dem Fürsten übertrug, folgert Ihre Schule vor allem das revolutionäre Recht des Volkes vor dem König-tum. Wir dagegen –"

 

"Wir?" dachte Hans Castorp gespannt … Wer sind "wir"? Ich muß unbedingt nachher Settembrini danach fragen, wen er mit "wir" meint.

"Wir unsererseits", sprach Naphta, "vielleicht nicht weniger revolutionär als Sie, haben daraus von jeher in erster Linie den Vorrang der Kirche vor dem weltlichen Staat gefolgert. Denn wenn die Ungöttlichkeit des Staates ihm nicht an der Stirn ge-schrieben stände, würde ein Hinweis auf eben dieses historische Faktum, daß er auf den Willen des Volkes und nicht, wie die Kirche, auf göttliche Stiftung zurückzuführen ist, genügen, um ihn, wenn nicht geradezu als eine Veranstaltung der Bosheit, so doch jedenfalls als eine solche der Notdurft und der sündhaften Unzulänglichkeit zu erweisen."

"Der Staat, mein Herr –"

"Ich weiß, wie Sie über den nationalen Staat denken. 'Über alles geht die Vaterlandsliebe und grenzenlose Ruhmesbegier.' Das ist Virgil. Sie korrigieren ihn durch etwas liberalen Indivi-dualismus, und das ist die Demokratie; aber Ihr grundsätzliches Verhältnis zum Staat bleibt dadurch völlig unberührt. Daß seine Seele das Geld ist, ficht Sie offenbar nicht an. Oder wollen Sie es bestreiten? Die Antike war kapitalistisch, weil sie staats-fromm war. Das christliche Mittelalter hat den immanenten Ka-pitalismus des weltlichen Staates klar erkannt. 'Das Geld wird Kaiser sein', – das ist eine Prophezeiung aus dem elften Jahr-hundert. Leugnen Sie, daß das wörtlich eingetroffen, und daß die Verteufelung des Lebens damit restlos erreicht ist?"

"Lieber Freund, Sie haben das Wort. Ich bin ungeduldig, mit dem großen Unbekannten, dem Träger des Schreckens, bekannt gemacht zu werden."

"Eine gewagte Neugier bei dem Sprecher einer Gesellschaftsklasse, welche Träger der Freiheit ist, die die Welt zugrunde ge-richtet hat. Ich' kann auf Ihre Widerrede zur Not verzichten, denn die politische Ideologie der Bürgerlichkeit ist mir bekannt. Ihr Ziel ist das demokratische Imperium, die Selbstübersteige-rung des nationalen Staatsprinzips ins Universelle, der Weltstaat. Der Kaiser dieses Imperiums? Wir kennen ihn. Ihre Utopie ist gräßlich, und doch, – wir finden uns an diesem Punkt gewisser-maßen wieder zusammen. Denn Ihre kapitalistische Weltrepu-blik hat etwas Transzendentes, tatsächlich, der Weltstaat ist die Transzendenz des weltlichen Staates, und wir stimmen überein in dem Glauben, daß einem vollkommenen Anfangszustande der Menschheit ein in Horizontferne liegender vollkommener Endzustand entsprechen soll. Seit den Tagen Gregors des Großen, Gründers des Gottesstaates, hat die Kirche es als ihre Auf-gabe betrachtet, den Menschen unter die Leitung Gottes zurück-zuführen. Der Herrschaftsanspruch des Papstes wurde nicht um seiner selbst willen erhoben, sondern seine stellvertretende Diktatur war Mittel und Weg zum Erlösungsziel, Übergangs-form vom heidnischen Staat zum himmlischen Reich. Sie haben diesen Lernenden hier von Bluttaten der Kirche, ihrer strafen-den Unduldsamkeit gesprochen, – höchst törichterweise, denn Gotteseifer kann selbstverständlich nicht pazifistisch sein, und Gregor hat das Wort gesprochen: "Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zurückhält vom Blute!' Daß die Macht böse ist, wissen wir. Aber der Dualismus von Gut und Böse, von Jenseits und Diesseits, Geist und Macht muß, wenn das Reich kommen soll, vorübergehend aufgehoben werden in einem Prinzip, das Askese und Herrschaft vereinigt. Das ist es, was ich die Not-wendigkeit des Terrors nenne."

"Der Träger! Der Träger!"

"Sie fragen? Sollte Ihrem Manchestertum die Existenz einer Gesellschaftslehre entgangen sein, die die. menschliche Über-windung des Ökonomismus bedeutet, und deren Grundsätze und Ziele mit denen des christlichen Gottesstaates genau zu-sammenfallen? Die Väter der Kirche haben Mein und Dein ver-derbliche Worte und das Privateigentum Usurpation und Dieb-stahl genannt. Sie haben den Güterbesitz verworfen, weil nach dem göttlichen Naturrecht die Erde allen Menschen gemeinsam sei und daher auch ihre Früchte für den gemeinschaftlichen Ge-brauch aller hervorbringe. Sie lehrten, daß nur die Habgier, eine Folge des Sündenfalls, die Besitzrechte vertritt und das Sonder-eigentum geschaffen habe. Sie waren human genug, antihändle-risch genug, wirtschaftliche Tätigkeit überhaupt eine Gefahr für das Seelenheil, das heißt: für die Menschlichkeit zu nennen. Sie haben das Geld und die Geldgeschäfte gehaßt und den kapitali-stischen Reichtum den Brennstoff des höllischen Feuers genannt. Das ökonomische Grundgesetz, daß der Preis das Ergeb-nis des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage ist, haben sie von ganzem Herzen verachtet und das Ausnutzen der Konjunk-tur als zynische Ausbeutung einer Notlage des Nächsten ver-dammt. Es gab eine noch frevelhaftere Ausbeutung in ihren Au-gen: die der Zeit, das Unwesen, sich für den bloßen Zeitverlauf eine Prämie zahlen zu lassen, nämlich den Zins, und auf diese Weise eine allgemein göttliche Einrichtung, die Zeit, zum Vor-teil des einen und Schaden des anderen zu mißbrauchen."

"Benissimo!" rief Hans Castorp, indem er sich vor Eifer der Zustimmungsformel Herrn Settembrinis bediente. "Die Zeit … Eine allgemein göttliche Einrichtung … Das ist hochwich-tig …!"

"Allerdings", fuhr Naphta fort. "Diese menschlichen Geister haben den Gedanken einer selbsttätigen Vermehrung des Gel-des als ekelhaft empfunden, alle Zins – und Spekulationsgeschäfte unter den Begriff des Wuchers fallen lassen und erklärt, daß jeder Reiche entweder ein Dieb oder eines Diebes Erbe sei. Sie sind weiter gegangen. Sie betrachteten, wie Thomas von Aquino, den Handel überhaupt, das reine Handelsgeschäft, das Kau-fen und Verkaufen unter Einziehung eines Nutzens, aber ohne Bearbeitung, Verbesserung des wirtschaftlichen Gutes, als ein schimpfliches Gewerbe. Sie waren nicht geneigt, die Arbeit an und für sich sehr hoch zu schätzen, denn sie ist nur eine ethische Angelegenheit, keine religiöse, sie geschieht im Dienste des Le-bens, nicht Gottes. Und wenn es sich denn bloß um das Leben handeln sollte und um Wirtschaft, so verlangten sie, daß pro-duktive Werktätigkeit als Bedingung wirtschaftlichen Vorteils und als Maßstab der Achtbarkeit gelte. Ehrenwert war ihnen der Ackerbauer, der Handwerker, nicht der Händler, nicht der Indu-strielle. Denn sie wollten, daß die Produktion sich nach dem Bedürfnis richte, und verabscheuten die Massengütererzeugung. Nun denn, – alle diese wirtschaftlichen Grundsätze und Maß-stäbe halten nach jahrhundertelanger Verschüttung ihre Aufer-stehung in der modernen Bewegung des Kommunismus. Die Übereinstimmung ist vollkommen bis hinein in den Sinn des Herrschaftsanspruchs, den die internationale Arbeit gegen das internationale Händler – und Spekulantentum erhebt, das Welt-proletariat, das heute die Humanität und die Kriterien des Gottesstaates der bürgerlich-kapitalistischen Verrottung entgegen-stellt. Die Diktatur des Proletariats, diese politisch-wirtschaftliche Heilsforderung der Zeit, hat nicht den Sinn der Herrschaft um ihrer selbst willen und in Ewigkeit, sondern den einer zeit-weiligen Aufhebung des Gegensatzes von Geist und Macht im Zeichen des Kreuzes, den Sinn der Weltüberwindung durch das Mittel der Weltherrschaft, den Sinn des Überganges, der Trans-zendenz, den Sinn des Reiches. Das Proletariat hat das Werk Gregors aufgenommen, sein Gotteseifer ist in ihm, und so we-nig wie er wird es seine Hand zurückhalten dürfen vom Blute. Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur Gewinnung des Erlösungsziels, der Staats – und klassenlosen Gotteskindscha ft."

So Naphtas scharfe Rede. Die kleine Versammlung schwieg. Die jungen Leute blickten Herrn Settembrini an. An ihm war es, sich irgendwie zu verhalten. Er sagte:

"Erstaunlich. Gewiß, ich gestehe meine Erschütterung, ich hätte das nicht erwartet. Roma locuta. Und wie, – und wie hat es gesprochen! Vor unseren Augen hat er ein hieratisches Salto-mortale vollführt, – wenn das ein Widerspruch im Beiwort ist, so hat er ihn zeitweilig aufgehoben', ah, ja! Ich wiederhole: es ist erstaunlich. Halten Sie Einwendungen für denkbar, Professor, – Einwendungen lediglich vom Standpunkt der Konse-quenz? Sie bemühten sich vorhin, uns einen christlichen, auf der Zweiheit von Gott und Welt beruhenden Individualismus begreiflich zu machen und uns seinen Vorrang vor aller poli-tisch bestimmten Sittlichkeit zu beweisen. Wenige Minuten später treiben Sie den Sozialismus bis zur Diktatur und zum Schrecken. Wie reimt sich das?"

"Gegensätze", sagte Naphta, "mögen sich reimen. Ungereimt ist nur das Halbe und Mediokre. Ihr Individualismus, wie ich mir schon anzumerken erlaubte, ist eine Halbheit, ein Zuge-ständnis. Er korrigiert Ihre heidnische Staatssittlichkeit durch ein wenig Christentum, ein wenig 'Recht des Individuums', ein wenig sogenannte Freiheit, das ist alles. Ein Individualismus da-gegen, der von der kosmischen, der astrologischen Wichtigkeit der Einzelseele ausgeht, ein nicht sozialer, sondern religiöser Individualismus, der das Menschliche nicht als Widerstreit von Ich und Gesellschaft, sondern als den von Ich und Gott, von Fleisch und Geist erlebt, – ein solcher eigentlicher Individualismus verträgt sich mit bindungsvollster Gemeinschaft recht wohl …"

"Anonym und gemeinsam ist er", sagte Hans Castorp.

Settembrini sah ihn mit großen Augen an.

"Schweigen Sie, Ingenieur!" befahl er mit einer Strenge, die auf Rechnung seiner Nervosität und Anspannung zu setzen war.. "Unterrichten Sie sich, aber produzieren Sie nicht! – Das ist eine Antwort", sagte er, wieder zu Naphta gewandt. "Sie tröstet mich wenig, aber es ist eine. Blicken wir allen Konsequenzen ins Auge … Mit der Industrie verneint der christliche Kommu-nismus die Technik, die Maschine, den Fortschritt. Mit dem, was Sie Händlertum nennen, dem Gelde und Geldgeschäft, das der Antike weit höher als Landwirtschaft und Handwerk galt, verneint er die Freiheit. Denn es ist ja klar, es beißt in die Augen, daß dadurch, wie im Mittelalter, alle privaten und öffentli-chen Verhältnisse an den Grund und Boden gebunden werden, auch die – es fällt mir nicht eben ganz leicht, es auszusprechen – auch die Persönlichkeit. Kann nur der Boden ernähren, so ist er es allein, der Freiheit verleiht. Handwerker und Bauern, als so ehrenwert sie immer gelten mögen, – besitzen sie keinen Boden, so sind sie Hörige dessen, der welchen besitzt. Tatsächlich bestand bis tief ins Mittelalter hinein die große Menge selbst der Städte aus Hörigen. Sie haben im Gange des Gesprächs dies und das von menschlicher Würde verlauten lassen. Unterdessen verfechten Sie eine Wirtschaftsmoral, an der die Unfreiheit und Würdelosigkeit der menschlichen Persönlichkeit hängt."

"Über Würde und Würdelosigkeit", erwiderte Naphta, "ließe sich reden. Vorderhand wäre es mir eine Genugtuung, wenn diese Zusammenhänge Ihnen Veranlassung gäben, die Freiheit nicht so sehr als schöne Geste, denn als ein Problem zu begrei-fen. Sie stellen fest, daß die christliche Wirtschaftsmoral in ihrer Schönheit und Menschlichkeit Unfreie schafft. Ich stelle dage-gen, daß die Sache der Freiheit, die Sache der Städte, wie man konkreter sagen darf, – daß diese Sache, höchst sittlich, wie sie immer sei, historisch verbunden ist mit der unmenschlichsten Entartung der Wirtschaftsmoral, mit allen Greueln des moder-nen Händler – und Spekulantentums, mit der Satansherrschaft des Geldes, des Geschäftes."

"Ich muß darauf bestehen, daß Sie sich nicht hinter Zweifel und Antinomien zurückziehen, sondern sich klar und unzweideutig zur schwärzesten Reaktion bekennen!"

"Der erste Schritt zu wahrer Freiheit und Humanität wäre, sich der schlotternden Furcht vor dem Begriff 'Reaktion' zu entschlagen."

"Nun, es ist genug", erklärte Herr Settembrini mit leicht be-bender Stimme, indem er Tasse und Teller von sich schob, die übrigens leer waren, und sich vom seidenen Sofa erhob. "Es ist genug für heute, genug für einen Tag, wie mir scheint. Professor, wir danken für die schmackhafte Bewirtung, für das sehr spirituelle Gespräch. Meine Freunde vom Berghof hier ruft die Kur, und ich habe den Wunsch, ihnen, bevor sie gehen, meine Klause droben zu zeigen. Kommen Sie, meine Herren! Addio, Padre!"

Jetzt hatte er Naphta gar "Padre" genannt! Hans Castorp ver-merkte es mit hohen Augenbrauen. Man ließ es geschehen, daß Settembrini den Aufbruch leitete, über die Vettern verfügte und nicht in Frage kommen ließ, ob Naphta vielleicht sich anzu-schließen wünsche. Die jungen Leute verabschiedeten sich, ebenfalls dankend, und wurden wiederzukommen ermutigt. Sie gingen mit dem Italiener, nicht ohne daß Hans Castorp das Buch "De miseria humanae conditionis", einen morschen Papp-band, leihweise mit auf den Weg bekam. Noch immer saß der sauerbärtige Lukaçek auf seinem Tisch, das Ärmelkleid für die Alte fertigend, als sie an seiner offenen Tür vorüberschritten, um die fast leiterartige Stiege zum Dachgeschoß zu gewinnen. Das war übrigens, klar geschaut, gar kein Geschoß. Es war ein-fach der Dachstuhl, mit nacktem Gebälk unter der Innenseite der Schindeln und mit der sommerlichen Atmosphäre des Spei-chers, dem Geruch warmen Holzes. Aber der Dachstuhl enthielt zwei Kammern, und diese bewohnte der republikanische Kapi-talist, sie dienten dem schöngeistigen Mitarbeiter an der "So-ziologie der Leiden" als Studio und Schlafkabinett. Mit Heiter-keit zeigte er sie den jungen Freunden, nannte das Komparti-ment separiert und traulich, um ihnen die richtigen Worte ah die Hand zu geben, deren sie sich zum Lobe bedienen mochten, – was sie denn einstimmig taten. Es sei ganz reizend, fanden sie beide, separiert und traulich, genau wie er sage. Sie taten einen Blick ins Schlafzimmerchen, wo vor der schmalen und kurzen Bettstatt im Mansardenwinkel ein kleiner Flickenteppich lag, und wandten sich dann dem Arbeitsraum wieder zu, der nicht weniger notdürftig ausgestattet war, dabei aber eine gewisse pa-rademäßige und sogar frostige Ordnung aufwies. Plumpe und altmodische Stühle, vier an der Zahl, mit Sitzflächen aus Stroh, waren symmetrisch zu Seiten der Türen aufgestellt, und auch der Diwan war an die Wand gerückt, so daß der grüngedeckte Rundtisch, auf dem zum Schmuck oder zur Erquickung und je-denfalls nüchternerweise eine Wasserflasche mit über den Hals gestülptem Glase stand, einsam die Mitte des Zimmers hielt.

 

Bücher, gebunden und broschiert, lehnten auf einem kleinen Wandbord schräg aneinander, und bei dem offenen Fensterchen ragte hochbeinig ein leichtgezimmertes Klapp-Pult mit einem kleinen, dicken Bodenbelag aus Filz davor, eben groß genug, um darauf stehen zu können. Hans Castorp nahm einen Augen-blick probeweise hier Aufstellung, – an Herrn Settembrinis Ar-beitsstätte, wo er die schöne Literatur zu enzyklopädischen Zwecken unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Leiden behandelte, – stützte die Ellbogen auf die schräge Platte und ur-teilte, daß es sich hier separiert und traulich stehe. So, meinte er, mochte Lodovicos Vater einst zu Padua an seinem Pulte gestan-den haben, mit seiner Nase so lang und fein, – und erfuhr, daß es wirklich das Arbeitspult des verstorbenen Gelehrten sei, vor dem er stehe, ja, auch die Strohstühle, der Tisch und selbst die Wasserflasche stammten aus dessen Besitz, und mehr noch: die Strohstühle hatten sogar schon dem Großvater Carbonaro ge-hört, zu Mailand hatten sie die Wände seines Advokatenbureaus geschmückt. Das war eindrucksvoll. Die Physiognomie der Stühle gewann etwas politisch Wühlerisches in den Augen der jungen Leute, und Joachim verließ den seinen, auf dem er nichtsahnend mit übergeschlagenem Beine gesessen hatte, be-trachtete ihn mißtrauisch und nahm ihn nicht wieder ein. Hans Castorp aber, am Stehpult Settembrinis des Älteren, bedachte, wie nun der Sohn daran wirke, indem er die Politik des Groß-vaters mit dem Humanismus des Vaters zur schönen Literatur vereinige. Dann gingen sie alle drei. Der Schriftsteller hatte sich erboten, die Vettern heimzugeleiten.

Sie schwiegen ein Stück Weges, aber ihr Schweigen handelte von Naphta, und Hans Castorp konnte warten: er war gewiß, daß Herr Settembrini auf seinen Hausgenossen zu sprechen kommen werde, ja, daß er zu diesem Zweck mit ihnen gegan-gen sei. Er täuschte sich nicht. Nach einem Aufatmen, das einem Anlauf gleichkam, begann der Italiener:

"Meine Herren – ich möchte Sie warnen."

Da er eine Pause eintreten ließ, so fragte Hans Castorp natür-lich mit falscher Verwunderung: "Wovor?" Er hätte wenigstens fragen können: "Vor wem?" aber er faßte sich unpersönlich, um seine ganze Unschuld zu bekunden, während doch sogar Joachim genau Bescheid wußte.

"Vor der Persönlichkeit, deren Gäste wir soeben waren", antwortete Settembrini, "und deren Bekanntschaft ich Ihnen gegen Wunsch und Absicht vermittelt habe. Sie wissen, der Zufall wollte es, und ich konnte nicht umhin; aber ich trage die Ver-antwortung und trage schwer daran. Es ist meine Pflicht, Ihre Jugend wenigstens auf die geistigen Gefahren hinzuweisen, die sie im Umgang mit diesem Manne läuft, und Sie übrigens zu bitten, den Verkehr mit ihm in weisen Grenzen zu halten. Seine Form ist Logik, aber sein Wesen ist Verwirrung."

Na, allerdings, meinte Hans Castorp, so ganz geheuer sei es ja wohl gerade nicht mit Naphta, ein bißchen sonderbar muteten seine Reden wohl manchmal an; es hätte ja geradezu geklungen, als wollte er wahrhaben, daß die Sonne sich um die Erde drehe. Doch schließlich, wie hätten sie, die Vettern, auf den Gedanken kommen sollen, es könne unratsam sein, mit einem Freunde von ihm, Settembrini, in gesellschaftlichen Verkehr zu treten? Er sage es selbst: durch ihn hätten sie Naphta kennengelernt, mit ihm hätten sie ihn getroffen, er gehe mit ihm spazieren, er komme zwanglos zu ihm zum Tee herunter, das beweise doch – .

"Gewiß, Ingenieur, gewiß." Herrn Settembrinis Stimme klang sanft, resigniert und enthielt doch ein leises Beben. "Dies läßt sich mir erwidern, und darum erwidern Sie es mir. Gut, ich verantworte mich bereitwillig. Ich lebe mit diesem Herrn unter einem Dach, Begegnungen sind unvermeidlich, ein Wort gibt das andere, man macht Bekanntschaft. Herr Naphta ist ein Mann von Kopf – das ist selten. Er ist eine diskursive Natur – ich bin es auch. Verurteile mich, wer will, aber ich mache Gebrauch von der Möglichkeit, mit einem immerhin ebenbürtigen Gegner die Klinge der Idee zu kreuzen. Ich habe niemanden weit und breit … Kurz, es ist wahr, ich komme zu ihm, er kommt zu mir, wir promenieren auch miteinander. Wir streiten. Wir streiten uns aufs Blut, fast jeden Tag, aber ich gestehe, die Gegensätz-lichkeit und Feindseligkeit seiner Gedanken bildet einen Reiz mehr für mich, mit ihm zusammenzutreffen. Ich brauche die Friktion. Gesinnungen leben nicht, wenn sie keine Gelegenheit haben, zu kämpfen, und – ich bin in den meinen gefestigt. Wie könnten Sie von sich dasselbe behaupten – Sie, Leutnant, oder auch Sie, Ingenieur? Sie sind ungewappnet gegen intellektuelles Blendwerk, Sie sind der Gefahr ausgesetzt, unter den Einwirkungen dieser halb fanatischen und halb boshaften Rabulistik Schaden zu nehmen an Geist und Seele."

Ja, ja, sagte Hans Castorp, wohl wahr, sein Vetter und er, sie seien wohl mehr oder weniger bedrohte Naturen. Es sei die Ge-schichte mit den Sorgenkindern des Lebens, er verstehe. Aber demgegenüber könne man ja Petrarca anführen mit seinem Wahlspruch, Herr Settembrini wisse schon, und hörenswert sei es doch unter allen Umständen, was Naphta so vorbringe: man müsse gerecht sein, das mit der kommunistischen Zeit, für deren Ablauf niemand eine Prämie bekommen dürfe, sei vorzüg-lich gewesen, und dann habe es ihn auch sehr interessiert, eini-ges über Pädagogik zu hören, was er ohne Naphta wohl nie zu hören bekommen hätte …

Herr Settembrini preßte die Lippen zusammen, und so beeil-te sich Hans Castorp hinzuzufügen, daß er selbst sich natürlich jeder Partei – und Stellungnahme enthalte, nur eben hörenswert habe er es gefunden, was Naphta über die Lust der Jugend ge-sagt habe.

"Erklären Sie mir aber nun erst einmal eines!" fuhr er fort. "Da hat nun dieser Herr Naphta – ich sage 'dieser Herr', um an-zudeuten, daß ich durchaus nicht unbedingt mit ihm sympathisiere, sondern mich im Gegenteil innerlich höchst reserviert verhalte –"