Lieben

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

TOMAS ESPEDAL

LIEBEN


Aus dem Norwegischen von

Hinrich Schmidt-Henkel

Inhalt

Gott ist der Tod in Gestalt des Liebenden

Gott ist der Tod in Gestalt des Liebenden.

Pierre Jean Jouve

Ich sucht nach einem Ort zum Sterben. Er fällt hin, steht auf, klopft sich den Schmutz von der Kleidung, blickt zu den Bäumen hinauf; grüne Blätter und Nadeln, Kiefern und Fichten zwischen Birken und Eschen, an manchen Stellen Espen; herzförmige, flügelförmige Blätter, als ob die Bäume, die harten, hochgewachsenen einsamen Baumstämme nach natürlichen Formen suchten, die sie nachahmen oder annehmen können, wie wenn ein Eichhörnchen von Zweig zu Zweig hüpft oder ein Vogel sich auf einem Gipfel niederlässt und aus vollem Halse singt: Morgenlicht!

Jedes einzelne Laubblatt ist einzigartig. Und zugleich auch nicht, die Blätter wachsen durcheinander und umhüllen den Baum wie ein ganzheitlicher Gedanke: Wir sind der Baum. Der Baum ist wir. Wir sind Frühling, Sommer und Herbst. Im Winter sind wir nicht da, dann liegen wir unter der Erde. Tot und überwuchert. Im Winter befinden wir uns in Auflösung. Im Winter sterben wir. Ich flucht. Er ist feucht von Erde und Schlamm. Einzig und allein die Vögel beobachten ihn und geben ihn als Klatsch weiter, von Ast zu Ast und weiter auf Flügeln und per sogenannten Gesang bis an ferne Orte. Ferne Orte sind nicht immer entfernt genug. Aber sie versteht nichts vom Klatschgesang der Vögel. Oder etwa doch? Wird sie von seinem Fall hören? Ich singt. Er ist fröhlich beim Gedanken an seinen baldigen Tod. Aber wo soll er sterben? Im Wald oder am Meer? In den Bergen? Oder drinnen am Stadtrand? Auf einem Parkplatz? Es gilt, den passenden Ort zu finden. Eine Waldeslichtung, von einem Fluss durchzogen. Nein. Das ist nicht der passende Ort. Vielleicht ein Garten. Apfelbäume, Himbeersträucher. Rosen. Jasmin- und Weißdornhecken, ein Bach und ein Abhang, ein Wasserfall und abermals Vögel, immer Vögel, immer Unruhe. Immer Gerüchte und Gewäsch. Selten Stille. Ich sucht Stille. Einen stillen Ort. Zu Hause? Ein Bett. Im Bett, mit Schlaftabletten. Ein langer Schlaf soll es sein. Ein guter Schlaf. Schläfst du? Nein. Ich schläft nicht. Er ist wach und träumt. Schon allein das, auf dem Rücken liegen, auf Kiefernnadeln oder im Bett, und träumen! Zu leben, zu träumen, das ist dasselbe. Er hat sein ganzes Leben zum Träumen verwendet. Auch im Gehen. Auch im Stehen. Und da, mitten im Traum, wie eine Fliege im Spinnennetz, war Leben. Blankes, bloßes, glänzendes Leben. Hartes Leben, durchsichtig, wie ein Fliegenflügel, schlagend, an einem pulsierenden Fliegenkörper, der bald von einem kleinen schwarzen Tier gefressen würde. Der Tod. Er kann so schön sein. Auch das Leben ist schön. Wenn Leben und Tod in einer Notwendigkeit zusammenfallen, ist das ein Augenblick von natürlicher Schönheit. Man muss diese Schönheit selbst schaffen. Man muss sich dieser Natürlichkeit unterordnen, man muss sie wählen, wie wenn wir uns im Bett zudecken oder von einer Brücke springen. Man schläft ein, oder man geht unter, das ist natürlich. So denkt Ich, während er auf das Meer zugeht, auf die Bucht unweit seiner Wohnung; hinab durch den sogenannten Vorgarten, dann öffnen sich Gesträuch und Unterholz auf ein ebeneres, härteres Gelände, das Gras weicht glatten Felsen und Ufersteinen, Blau.

Ich geht zum Wasser. Er zieht sich aus, faltet seine Kleidung sorgsam zu einem Stapel. Wie schön sie sind, seine Kleider. Das Hemd, die Hose, die Schuhe. Dreckig. Voller Leben sind sie, seine Kleider. Wie sie am Wasser liegen und atmen. Ich schwimmt. Er greift mit Armen und Beinen aus; faltet Arme und Beine zusammen, zurück, an den Körper. Geht nicht unter. Wird schneller. Reckt Arme und Beine. Atmet ein und aus. Wasser schlucken? Hier untergehen? Ich geht unter. Er schwimmt unter Wasser weiter. Schwarz. Nein. Nicht hier. Weder schmutzig noch sauber genug. Nicht blau genug. Weißt du noch? Ich weiß noch. Er erinnert sich an das blaue Meer bei Kaş. An der Spitze der Türkei. Sie und er im Urlaub. Dort. Am Strand. In der Sonne. Der Wärme. Die Schweißtropfen unter ihren Augen. Jetzt isst sie eine Aprikose. Später, am Abend, im Licht der Lampions, eine Apfelsine. Ein langer Schnitt mit dem Obstmesser, und dann riss sie die Orangenschale mit einem einzigen Orangenschalenabriss ab. Fast gewalttätig. Wie hast du das gemacht, wie hast du das geschafft? Das ist keine Kunst, ich esse Obst, es ist natürlich. Sie war natürlich. Wo hatte sie das her? Hatte sie keine Eltern? War sie aus jemandes Stirn entsprungen, voll angekleidet? All diese Kleider. Er zog sie aus und an. Der Geruch des Ankleidens. Der Geruch des Auskleidens. Ihr Geruch. Man kann sich in einen Geruch verlieben. Man kann von einem Geruch abhängig werden. Er setzt sich in ihren Kleidern fest und allmählich auch in den Dingen, den Möbeln, den Gardinen und Teppichen, der Geruch breitet sich in den Räumen aus, bald erfüllt er das ganze Haus. Das Haus riecht gut. Es riecht nach Liebe. Nicht lange, und der Geruch hat sich auch in dir festgesetzt. Er gehört zu dir. Du riechst nach ihr. Du riechst nach einer Mischung von dir selbst und ihr, das ist der Liebesgeruch. Ihre Achselhöhlen, dein Geschlechtsteil, dein Schweiß, ihr Blut, alles mischt sich. Dein Leib und ihrer. Zu einem Gemeinschaftsgeruch. Wie soll man ohne sie leben? Wie soll man leben? Wie soll man ohne Liebe leben? So denkt Ich, der in dem kalten Wasser schwimmt. Wasser und Erinnerungen wegschieben. Untergehen, aufsteigen, Wasser schlucken. Der Geschmack von Salz. Der Geschmack von Tod. Nein. Das ist der Geschmack von Leben. Ich schwimmt an Land. Auf allen Vieren kriecht er aus dem Wasser und spürt die Wärme der Uferfelsen und der Sonne. Ich legt sich auf dem glatten Felsen auf den Bauch und befühlt den heißen Stein mit kalten, offenen Händen, er spürt, wie er durchwärmt wird, er hat eine kräftige Erektion.

Ich hat versucht, allein zu leben. Er ist gereist, hat Städte und Länder besucht. Er hat in Restaurants gegessen und in Bars getrunken. Er hat die Langeweile kennengelernt. Er hat Freundschaften gesucht. Er hat Liebesverhältnisse gehabt, das, was Susa kleine Lieben nannte. Wir erleben, wenn wir Glück haben, eine große Liebe, und außerdem ein paar kleine Lieben, sagte Susa, auf dem Barhocker sitzend. Hohe Absätze, lange Strümpfe, ein knöchellanger Mantel, alles an ihr war langgestreckt, und um das noch zu verstärken, trug sie einen Hut. Susa hatte dreiundsechzig Männer kennengelernt. Sie hatte die Namen auf eine Liste geschrieben. Hinter den Namen, nach einem Semikolon, hatte sie die ungefähre Länge ihrer erigierten Penisse vermerkt. Dazu einige Eigenschaften, wie: Liebenswürdig. Gutgläubig. Unintelligent. Bösartig. Eifersüchtig. Lustig. Redselig. Solche Sachen. Susa hatte Bücher geschrieben. Sie war weise, man hätte sie als eine weise Frau bezeichnen sollen, aber Frauen sind dumm, sagte Susa, es ist unsere Aufgabe, die Dummheit zu behüten. Ich schere mich nicht mehr um Geschlecht oder Alter, sagte sie, das sind Konstrukte, manchmal bin ich ein neunzehnjähriger Mann, aber gerade jetzt bin ich eine Frau und dreiundsiebzig. Du solltest dir die kleinen Lieben nicht versagen, sagte sie. Ich habe immer zölibatär gelebt. Das waren die besten Jahre. Ohne Männer. Ohne Frauen. Ohne sexuelle Verhältnisse, das lässt die Sexualität weiter werden, höher, irgendwann liebt man Bäume und Vögel, Wolken und Blumen, Kinder und ältere Menschen, man liebt das Leben. Das Wichtigste, das ich erlebt habe: Wenn man mehrere Menschen liebt, wenn das Begehren sich nicht an einen bestimmten Menschen heftet, den man besitzen will und von dem man besessen werden möchte, dann sitzt man eines Tages zwischen Freunden oder Fremden und denkt, ich liebe sie alle. Ich liebe die Gemeinschaft. Ich liebe die Menschen. Im Guten wie im Bösen. Ich habe einen Kannibalen kennengelernt. Er hatte seine Geliebte gegessen. Das war in Paris. Montaigne meinte, der Kannibale ist zivilisiert. Er tötet nicht mehr, als er verzehren kann. In unserer sogenannten Zivilisation bringen wir Hunderttausende um. Menschen und Tiere. Ja. Ich bin Borges begegnet. Ich wollte mich für ihn schön machen. Eine Freundin, es war in Buenos Aires, sagte: Was putzt du dich heraus? Borges ist blind. Ich zog meine schönsten Sachen an. Ohrringe und Hut. Schminkte mich. Dazu ein Seidenschal. Etwas Parfum. Besonderen Schmuck. Als ich in sein Arbeitszimmer eingelassen wurde, von seiner Mutter, er saß im Halbdunkeln hinter seinem Schreibtisch, sagte Borges: Wie schön Sie angezogen sind.

Auch Ich hat sich herausgeputzt. Er will nicht nachlässig gekleidet sterben. Er ist früh aufgestanden, hat sich geduscht und rasiert und seinen besten Anzug gewählt; dunkle Hose und Jacke, ein weißes Hemd, dunkle Krawatte, er hat sich gekleidet wie zu einer Beerdigung, seiner eigenen, wie wenn er sich selbst bei ihr sehen könnte, in einer vollbesetzten Kapelle. Vor gerade zwei Wochen ist er bei einer Beerdigung gewesen; es war ungefähr, wie er es sich für sich selbst wünschen würde: Familie und Freunde, etliche Bekannte, einige waren angereist. Er kam zusammen mit Aka, viel zu spät, sie hatten nachts getrunken und sich geliebt und dann verschlafen, hatten ein Taxi gerufen, sich in aller Hast angezogen und waren zu der bereits vollbesetzten Kapelle gefahren, wo sie vor aller Augen durch den Mittelgang gehen mussten, wie ein dunkel gekleidetes, missratenes Brautpaar, erst in der zweiten Bank von vorn war Platz, hinter der trauernden Familie.

Zwei gute Reden wurden gehalten, es wurde laut geweint, auch Aka weinte, obwohl sie den Verstorbenen nicht gekannt hatte. Klavier wurde gespielt, etwas Grieg, etwas Bach; Ich fiel eine Zeile aus einer Kantate ein: Ich freue mich auf meinen Tod. Ich nahm Akas Hand, sie saßen händchenhaltend in der Kapelle, war es ein Anfang oder ein Ende? Warum weinst du nicht?, flüsterte Aka. Ich weinte nicht auf Beerdigungen, er wusste nicht warum, vielleicht hatte er ein allzu nahes Verhältnis zum Tod, er fand es nicht unbedingt traurig, wenn jemand starb. Jedenfalls nicht, wenn der Verstorbene wirklich gelebt hatte. Karel war ein Jahr jünger als er und hatte ein starkes Leben gehabt, ein erfülltes Leben, das wusste Ich, er war mit Karel befreundet gewesen. Dass der Tod gut sein könnte, war denkbar und durchaus möglich. Es war eine christliche Beerdigung, und im christlichen Glauben ist der Tod besser als das Leben. Genau das betonte der Geistliche: Der Verstorbene war heimgekehrt. Karel, der die meiste Zeit seines Lebens herumgezogen oder auf Reisen gewesen war, auf mancherlei Weise ein freiwillig Heimatloser, war jetzt heimgekehrt. An einen guten Ort. Einen verlässlichen Ort. Er war, hoffentlich, zur Ruhe gekommen.

 

Karel wurde in einem weißen Sarg aus der Kapelle getragen. Der Sarg war schwer. Karel war hoch gewachsen, er wog sicher neunzig Kilo. Zwei von den Sargträgern mühten sich bereits an der ersten Steigung auf dem Weg zum Grab. Die Träger hatten Probleme mit dem Tragen, und als sie um eine Ecke bogen und die nächste Steigung in Angriff nahmen, entglitt ihnen der Sarg; er krachte auf den Asphalt und stürzte um, der Deckel löste sich, und heraus rollte Karel, er warf sich geradezu aus dem Sarg. Erst nach zwei Umdrehungen blieb er auf dem Rücken liegen, höchst lebendig scheinbar, oder schlafend, ganz und gar er selbst, so, wie man ihn so viele Male auf einem Sofa hatte schlafen sehen. Ein Schrei ging durch die Trauergemeinde, die Leute waren wie gelähmt, entsetzt, dass der Tote so lebensnah wirkte. Er war er selbst, nur blasser und etwas dünner, er trug, was er sonst auch immer trug. Leicht vorstellbar, dass er aufstand und sich die Kleidung abklopfte, wie er es einmal getan hatte, als er bei einer Prügelei liegen geblieben war, um sich dann herumzurollen, aufzustehen und nach einer Zigarette zu verlangen. Jetzt aber konnten alle sehen, dass Karel tot war. Er lag auf dem Rücken, mitten auf dem Weg, und beim Anblick dieses Liegenden wurde allen klar, dass Karel wirklich tot war. Man sah den Tod. Man verstand, was der Tod war, er war brutal, er war die vollständige Abwesenheit von Leben. Man begriff, Karel würde nie wieder aufstehen, auch nicht im Jenseits. Karels Brüder und Neffen stürzten hinzu und hoben die Leiche zurück in den Sarg. Neue, stärkere Träger hoben den Sarg an und setzten ihn quer über dem rechteckigen Loch im Boden ab, dort, wo hernach die Trauerkränze hingelegt wurden. Dann ließen sie ihn an Seilen in die Erde hinab.

An dem Tag, als Ich sein Heim verließ, schien die Sonne, es war ein schöner Tag. Ich aß ein gutes Frühstück, Toastbrot und Eier. Eine Tasse Kaffee. Dann zog er sich den Mantel über, schnürte seine schwarzen Wanderstiefel, knotete sie fest zu und ging, er gedachte nicht zurückzukommen.

Wie seltsam, die eigene Tür zum letzten Mal zu schließen. Die Tür schließen. Solltest du abschließen, nein, du lässt die Tür offen. Wie immer. Wie nie wieder. In diesem Haus sind all deine Dinge, die Stühle, die du so magst, die Lampen, Bücherregale, Bücher. All diese Bücher, die in dir wohnen. All diese Worte und Sätze, Namen und Orte, die in dir wohnen. Auch die Möbel und Dinge wohnen in dir; manche Möbel hast du von deinen Eltern und Großeltern geerbt, manche Dinge hast du von Geliebten und Freunden geschenkt bekommen, du willst sie mitnehmen, wohin du gehst. Die Dinge wird man wegwerfen oder verkaufen, die Möbel werden ausgeräumt, das Haus wird leer stehen. Ein leeres Haus. Bevor es wieder gefüllt wird. Dein Zuhause wird zerstört sein, ebenso wie du selbst. Du wirst ebenso verschwunden sein wie die Möbel und die Dinge und dein Zuhause. Das ist natürlich. Du wirst verschwunden sein wie alles, was du liebst, so, wie alle, die du liebst, verschwinden werden. Dein ganzes Leben lang, seit deiner Kindheit, hast du den Gedanken gemocht, du könntest verschwinden. Das war deine Freiheit, dein Geheimnis, deine Eigenart: zu verschwinden. Du konntest vor den Augen von Mutter und Vater verschwinden, aus einer Kindergesellschaft oder einem Klassenzimmer und da, direkt neben deiner Liebsten, sie hielt dich an der Hand, aber du warst nicht da. Wo warst du dann? Du warst weg. Wo warst du dann? Du warst weg, an einem Ort, der nur aus Abwesenheit besteht, einem Weg-Ort, du warst im Tod. Schon früher warst du im Tod. Das war ein guter Ort. Von ihm kamst du her, zu ihm musstest du zurück, das war der Ort, der dich dein ganzes Leben lang begleitete und an dem du Zuflucht suchen konntest, wann auch immer. Das war dein Ort. Das Ungewisse. Dieser andere Ort.

Dorthin wollte Ich jetzt, heute.

Als Ich gerade die Tür schloss, hörte er eine Stimme, seinen Nachbarn. Ich wohnte in einem von vier kleinen Reihenhäusern, er hatte gute Nachbarn, jetzt hörte er, wie schon so oft, die Stimme des Nachbarn, in der Regel von Wänden gedämpft, er fand es beruhigend, von Stimmen umgeben zu sein, von Lauten, von den Leben der Nachbarn, aber manchmal drangen diese Stimmen frei zu ihm, losgerissen von ihren verborgenen, eingeschlossenen Leben, direkt zu ihm, vor dem Haus, und das machte ihn unruhig, als hätte er sich etwas zuschulden kommen lassen. Er war schutzlos, ohne Verteidigung; er wurde angegriffen, nein, das nicht, und dennoch schloss er die Ohren, um die Wände, die ihn von seinen Nachbarn trennten, gewissermaßen im Unsichtbaren wieder zu errichten; er nahm das, was drinnen war, immer mit, wenn er ausging. Es war Ranks Stimme. Sie durchschnitt die Luft, die frische Morgenluft: Willst du zu einer Beerdigung? Ich stand eine Weile da, er wusste nicht, was er sagen sollte. Er trug seine besten Sachen. Es war erst acht oder neun Uhr morgens. Nein, sagte er endlich, ich will zu einem Fest. Einem von diesen frühen Festen, sagte Rank. Sie lachten. Ich führte ein unregelmäßiges Leben, das wussten alle. Übrigens bist du mit Rasenmähen dran, sagte Rank, morgen ist Samstag, vielleicht kannst du das dann machen, falls du das Fest überlebst, vor übermorgen, dann ist Sonntag.

Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Er konnte nicht einfach so verschwinden, ohne den Rasen gemäht, ohne seine Pflicht erfüllt zu haben. Auf der anderen Seite: Wenn er erst all seine Pflichten erfüllen wollte, wäre ja niemals Zeit zum Sterben. Wollte er sich von Bagatellen aufhalten, vielleicht sogar hindern lassen? War das monatliche Rasenmähen nicht eine Bagatelle, fast ein bürgerliches Konstrukt, eine kosmetische Pflicht; es ärgerte ihn; am liebsten wollte er das Gras frei wachsen lassen, Krokusse und Löwenzahn sollten in Frieden dastehen, Unkraut und wilde Blumen sollten unberührt bleiben, aber es war nicht sein Rasen, nicht sein Garten, er gehörte der Eigentümergemeinschaft.

Ich zog den Mantel aus, ging zum Geräteschuppen und rollte den Rasenmäher heraus. In einer geraden Linie hin- und hergehen; die Blütenköpfe abrasieren, den bereits schon kurzen Rasen mähen, hin- und hergehen, schwitzen, er ging gern so auf dem Rasen hin und her, aber die Vorstellung, ihn zu mähen, mochte er nicht, die gelben Löwenzahnblüten abzuschneiden, die orchideenähnlichen Blümchen (die seine Mutter so liebte) und zumal die Kleeblüten, die für die Bienen so unentbehrlichen (aber wer dachte schon an Bienen in dieser Eigentümergemeinschaft, die so auf Oberflächen fixiert war, auf Fassaden, auf alles, das gegen die Natur war; gemeinsam versuchte man, die braunen Wegschnecken auszurotten, Rattengift wurde ausgelegt, Katzen wurden verjagt und Spinnennetze entfernt, sie räucherten Wespennester aus und vergasten Ameisen und andere Insekten, all das Kleingetier, von dem wir im Grunde so abhängig sind), und Ich liebte Bienen, er mochte Wespen und Spinnen, Ameisen und Regenwürmer, alles, was in der Erde kreucht und aus ihr wächst, den ewigen Zyklus von Wachstum und Leben, der von dieser Rasenmäherei gestört wurde, so, wie wir die Natur mit fast allen unseren Handlungen stören, dachte Ich.

Mit all seinen jetzigen Handlungen und all den künftig unterbleibenden Handlungen versuchte Ich, seinen Tod zu rechtfertigen. Ich sollte klipp und klar sagen, dass ich gegen diese brutale Rasenmäherei bin, dachte Ich, und zwar sollte ich das heute tun, am letzten Tag, dachte Ich beim Rasenmähen. Ich sollte den Rasen ungemäht lassen, aber ich erfülle meine kosmetische Pflicht, zum letzten Mal. Vielleicht sollte ich den Rasen zur Hälfte stehen lassen, das wäre meine Meinungsäußerung, meine Demonstration; sie werden dann schon verstehen, was ich von der Rasenmäherei halte, dachte Ich.

Solange Ich neben Rank wohnte, war Rank ein guter Nachbar gewesen, ein normaler Nachbar, konnte man sagen; als Ich in sein Reihenhaus einzog, war Rank verliebt, seine Freundin zog bei ihm ein, sie bekamen eine Tochter, und als die Tochter vierzehn wurde, ließen Rank und Arie sich scheiden, sie zog aus, das war normal. Die meisten Leute in der Eigentümergemeinschaft waren normal; die Lichter gingen an und aus, wenn es an der Zeit war. Man heiratete und ließ sich scheiden, wenn es notwendig war. Doch nachdem Rank allein zurückgeblieben war, begann er, sein Haus manisch zu renovieren, Raum um Raum, alle drei Stockwerke, Keller und Wohnzimmer, Küche und Bad, die Schlafzimmer im Obergeschoss, Wand für Wand, Tür um Tür, und die Treppen zwischen den Stockwerken, es schien ein ewiges Projekt von Abriss und Lärm, Gehämmere und Gebohre. Rank war ein stiller, ruhiger Mann, aber die Scheidung und das Alleinleben taten ihm offenbar nicht gut; das Gehämmere und Gebohre fand abends statt, nach der Arbeit, oft auch samstags und sonntags, bis es war, als ob es gar keine Ruhetage mehr gäbe, und Rank verwandelte sich hinter den dünnen Wänden, die ihn von Ich trennten, in ein rücksichtsloses, lärmendes Monstrum, das zu allen Tages– und Nachtzeiten Krach machte, der gute Nachbar war dabei, ohne es zu wissen, denn Ich wollte sich nicht beschweren, er hasste jede Konfrontation und wollte keinesfalls mit Rank über Kreuz geraten, mit keinem Nachbarn, Rank war dabei, sich von einem Freund in dessen Gegenteil zu verwandeln, fast in einen Feind. Rank durchlief eine Verwandlung, dort, gleich hinter den Wänden; Ich fühlte sich von dem neuen Rank ganz fürchterlich gestört, von dem Gehämmere und vor allem dem Gebohre, das sich durch die Wände fortpflanzte und in Ichs Kopf drang.

Es war, als würde Rank in Ichs Leben einziehen. Ich war gezwungen, an Rank zu denken, wer war Rank? Ich wollte das nicht wissen, musste aber unfreiwillig an Rank denken, an Rank hinter all seiner Freundlichkeit und dem nachbarschaftlichen Ton, vielleicht war er gar kein guter Mensch. Warum nahm Rank auf Ich keine Rücksicht, auf Ichs Rücksichtnahme auf Rank, auf Ichs Geräuscharmut, seine Stille und geradezu Geräuschlosigkeit gegenüber Rank? Ich wünschte sich ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn. Ich wünschte sich ein Distanzverhältnis zu den Nachbarn. War Ranks Rücksichtslosigkeit eine Folge davon, eine Rache vielleicht, war Ranks Lärm eine Rache für Ichs Stille? Diese Vorstellung störte Ichs Privatleben, bedrohte es; und zum ersten Mal, seit er in diesem Reihenhaus wohnte, erwog Ich umzuziehen; doch wohin?

Ich wohnte in seinem Elternhaus. Er wohnte sehr gern in dem Haus, in dem sich seit seiner Kindheit, seit seinem Aufwachsen nichts verändert hatte. Ich hatte nichts verändert; die Tapeten und Teppiche waren dieselben, die Möbel; er hatte einige Tische und Stühle verschoben, das war alles.

Ich hatte an anderen Orten gewohnt, einige Jahre im Ausland, einige Jahre in seiner Heimatstadt, in zufälligen Wohnungen, doch als seine Eltern starben, mehr oder weniger zur selben Zeit, sie hatten so gut wie ihr ganzes Leben miteinander verbracht und starben gemeinsam, das wirkte natürlich, und ebenso natürlich war es, dass Ich in das Haus der Verstorbenen zog, in das Haus seiner Kindheit. Er hatte seinen Ort gefunden. Den Ort, an den er gehörte. Den Ort, an dem es ihm gut ging. Man zieht herum und sucht, man reist herum und wohnt hier und dort, findet aber nicht den Ort, an dem man bleiben möchte. Und wenn man ihn irgendwann findet, seinen Ort, den Ort, an dem man bleiben möchte, an dem alles an der rechten Stelle ist und wo es einem gut geht; den Ort; einen Ort, an dem man Ruhe findet und sein Potenzial ausschöpfen kann, ja, so ist das ein Geschenk; hier wird man tun, was zu tun einem bestimmt ist, und in Ichs Fall war das Schreibarbeit, er hatte einige Bücher geschrieben und veröffentlicht und große Teile seines Schreiblebens lang nach einem Ort gesucht, an dem er sein Bestes hervorbringen könnte, die wichtigste Arbeit, einen Ort, an dem er die Konzentration dafür finden würde, besser zu schreiben, als er es bislang vermocht hatte, ein Hauptwerk, sozusagen. Und er hatte den Ort gefunden; es war etwas wie ein vollendeter Kreisschlag; was man in weiter Ferne vermutete, an einem anderen Ort, den perfekten Ort gab es ganz in der Nähe, dicht bei den Anfängen, wo die Suche begonnen hatte, und das heißt in Ichs Fall den, wo er zu schreiben begonnen hatte; er schrieb jetzt in demselben Zimmer, in dem er als Sechzehnjähriger damit begonnen hatte.

 

Ich mähte den halben Rasen mit dem Benzinmäher, würgte dann den Motor ab und schob die Maschine zurück in den Geräteschuppen. Er erwog einen Augenblick lang, sich in sein Auto zu setzen, in der Garage, den Motor anzulassen und dort sitzen zu bleiben, im Dunkeln, im Auto, mit geöffneten Fenstern, und im Radio Musik zu hören; bis es endlich still sein würde.

Aber nein, das wäre zu früh, zu schnell, er hatte noch den ganzen Tag zur Verfügung, und es war wirklich ein schöner Tag, die Sonne schien, der Himmel war hoch und leuchtete so blau über all dem Grünen, das auf den Wiesen und an den Bäumen spross. Ich wollte spazieren gehen, er wollte den Tag einatmen mit all dessen Schwere und Schönheit. Es gibt in allen Erlebnissen zwei gute äußerste Punkte, nämlich »zum ersten Mal und zum letzten Mal«: Das erste Mal, dass du einen Baum siehst, der erste Kuss, die erste Liebe, die letzte Tasse Kaffee, das letzte Mal, dass du einen Baum siehst: Da siehst du den Baum! Jetzt schmeckst du den Kaffee! Hier liebst du! Die meisten Male dazwischen allerdings sind nichts als Gewohnheit, und du siehst nicht, was du siehst, deine Liebste, die Kaffeetasse, die Haustür, den Kiesweg, das Gartentor; du gehst am Kindergarten vorbei, ohne ihn zu bemerken, du siehst nicht einmal die Rhododendren um den Parkplatz herum, ebenso wenig die Menschen, die aus ihren Autos aus- und in sie einsteigen, du siehst weder die Häuser noch die Fenster, an denen du vorübergehst, all das ist dir zur Gewohnheit geworden, und manchmal bist du diese alltäglichen Begebenheiten satt, interessierst dich nicht für sie, oder sie regen dich auf, du regst dich über die Autos und den Verkehr auf und all den Lärm und die Dummheit, die im Lauf eines Tages geschieht. Du hast den Tag verloren. Du hast den Glauben an den Tag verloren, an das Erste und das Letzte, an das Neue, das es jeden Tag gibt, das es in jedem Anfang und jedem Ende gibt. Ein neuer Tag. Es ist da, aber du siehst es nicht, dein Tag ähnelt anderen Tagen, denn du bist bereits tot. Etwas in dir ist tot. Wann ist es gestorben, wann bist du gestorben, war es, als die Liebe vorbei war? Man kann ohne Liebe nicht leben. Und doch lebst du, ein Halb-Leben, ein Fast-Leben, ein Tod-Leben lebst du. Derlei Gedanken brachten Ich in Stimmung, in Hochstimmung, sie bestätigten, dass sein Entschluss richtig war: Der schöne Beschluss, den Ich getroffen hatte, der Beschluss zu sterben.

Ich wollte den guten Tod sterben. Nicht denjenigen, der jählings kommt oder als Unfall, oder als Krankheit, nicht denjenigen, den man verdrängt und verleugnet, sondern den Tod, dem man entgegengeht, den man wählt. Ich wollte sterben, während er noch voller Lebenskraft und geistiger Frische war, er wollte gern an einem Tag sterben, an dem er zufrieden war und es ihm gut ging. Vor einem Jahr hatte Ich seinen großen Entschluss getroffen, und er wusste, dass dieses Jahr anders werden würde als alle anderen Jahre zuvor. Er hatte keine Pläne und wollte das Jahr entgegennehmen, wie es auf ihn zukam, als Geschenk. Über das kommende Jahr wusste er nichts, als dass es sein letztes sein würde. Der letzte Juli, der letzte August und Herbst, Winter und Frühling, die letzte Woche und die letzten Tage, wie ein Countdown und eine Intensivierung des gegenwärtigen Tages.

Ich traf seinen Entschluss im Frühling, an einem warmen Tag im Mai; er lag auf der Terrasse in der Sonne und las. Der Entschluss hatte schon in ihm gewohnt, seit Vali ihn verlassen hatte, vor bald sechs Jahren; all diese Jahre hatte er allein gelebt. Er wohnte gern allein. Es war neu für ihn, allein zu wohnen, mittlerweile war es ihm auch zur Gewohnheit geworden, und er wünschte sich nichts Neues; keine neue Beziehung, keine neue Reise, neue Projekte, all das war für ihn gestorben, und der Entschluss eines Endes war in ihm gewachsen und gereift und irgendwann plötzlich hervorgetreten, wie eine innerliche Blüte, schwarz und schön, eines warmen Maitags auf der Terrasse.

You have finished the free preview. Would you like to read more?