Terapolis

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Greg warf einen nervösen Blick auf den Mann in dem Ohrensessel und erstarrte. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, den Schrei, der sich aus seiner Kehle Bahn brechen wollte, zu unterdrücken. Entgeistert starrte er Jesua Fingrey an. Der reiche Fabrikant saß in seinem Anzug da, den Blick auf einen Brief gerichtet, aber keine Bewegung ging von seinem Körper aus. Noch nicht einmal der Brustkorb hob und senkte sich. Eine klaffende Wunde am Hals machte Greg klar, dass sich Mister Fingreys Lungen nie wieder mit Luft füllen würden.

Aber was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatte Fingrey ihn rufen lassen und war dann plötzlich tot? Das ergab doch keinen Sinn!

Plötzlich öffnete sich die Bürotür hinter Greg, der, unfähig sich zu bewegen, einfach nur dastand und den Blick nicht von dem Toten wenden konnte. Die Schritte hinter ihm verharrten in der Bewegung. „Herrje.“, raunte eine kratzige Stimme, die Greg entfernt vertraut vorkam. „Was ist denn hier passiert?“

„Achtung, eine weitere Durchsage.“, vernahm Greg wie aus weiter Ferne erneut die Frauenstimme aus dem Megaphon. „Alle Vorarbeiter mögen sich bitte umgehend bei Mister Fingrey einfinden.“

„Bei allen Heiligen!“, knurrte der Mann in Gregs Rücken. „Greg?“

Der Ausruf seines Namens wirkte auf Greg, als hätte ihm jemand am frühen Morgen einen Eimer kalten Wassers über den Kopf geschüttet. Ruckartig drehte er sich um und starrte den Mann an, der ihn in dieser kompromittierenden Situation überrascht hatte. Er war nicht viel größer als Greg, aber seiner Körperform nach zu urteilen sicher doppelt so schwer. Wollmantel, Tuchhose, Stiefel und Schiebermütze in Schwarz- und Grautönen gaben ihm den typisch verlotterten Ausdruck eines Mannes, der viel zu lange für wenig Geld in den Rauch spuckenden Fabrikhallen des Ostviertels gearbeitet hatte. Ungewaschene graue Haarsträhnen fielen über seine rechte Gesichtshälfte und verdeckten ein Metallgerüst, dass sich um das rechte Auge rankte. „Nick?“, fragte Greg entgeistert, als er den alten Mann erkannt hatte.

„Ja, verdammt.“, fluchte der und packte Greg am Arm. „Komm! Wir müssen hier weg. Gleich wimmelt es hier nur so von Leuten.“ Er stürmte aus dem Büro und zerrte den Jungen hinter sich her. Greg ließ diese Behandlung willenlos über sich ergehen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und war auf dem Weg zu mehreren Erkenntnissen, die alle ein für ihn sehr unangenehmes Ende dieser Sache vorhersagten. Er musste aus der Fabrik heraus. Das war ihm soeben klar geworden. Aber wohin?

Mechanisch liefen seine Füße durch die Fabrik und fanden ihren Weg auch ohne das Zutun seines Kopfes. Er kannte jeden Winkel hier und wusste, wo der schnellste Weg zum Ausgang führte.

„Nicht da entlang!“, bellte der alte Nick plötzlich und zerrte ihn in eine schmale Lücke zwischen zwei Maschinen. „Hier kommen zu viele Leute entlang. Komm!“ Er winkte Greg, ihm zu folgen, und eilte durch eine schmale Gasse zwischen mehreren Maschinen ins hintere Ende der Fabrikhalle. Greg folgte ihm dicht auf den Fersen. Als sie die Wand erreicht hatten, schob Nick mühsam eine Metallplatte beiseite. „Fass mit an, Greg! Oder willst du, dass sie dich schnappen?“, fragte er schnaufend.

Gemeinsam schoben sie die Platte zur Seite. Zum Vorschein kam eine kleine Pforte, die Greg noch nie bemerkt hatte. Ihm blieb keine Zeit, sich zu wundern, woher Nick, den er noch nie in der Fabrik gesehen hatte, von diesem Ausgang wusste, da wurde er auch schon hindurchgeschoben. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Seine Beine schlotterten und drohten nachzugeben, aber Nick schlang ihm einen Arm um die Schultern und schob ihn weiter. Vor ihnen entfernten sich zwei Dieselroller in schneller Fahrt, sonst war es zu dieser Stunde, in der alle Arbeiter an ihren Maschinen waren, ungewöhnlich ruhig auf dem großen Industriegelände.

IV

Bobby Lane hatte die Kunst des patrouillierenden Schlenderns bis zur Perfektion vollendet. Den Unterschenkel bei jedem Schritt leicht nach vorn werfend, um dann mit der Ferse zuerst den Fuß aufzusetzen, bog er um die Ecke einer kleinen Bäckerei am Rand der Innenstadt. Die Kunst bestand darin, das Gewicht gerade so lange auf dem Standbein zu belassen, dass der freie Fuß genug Schwung bekam, um mit möglichst geringem Energieaufwand nach vorn zu schlenkern und dann das gesamte Körpergewicht ohne Krafteinsatz zur anderen Seite schwenken zu lassen, so dass man sich in einer Art Schaukeln vorwärtsbewegte, das ein entspannter Mann stundenlang durchhalten konnte. Bobby Lane war sehr stolz auf seine Fähigkeit des patrouillierenden Schlenderns. Schon von Weitem war er dadurch als im Dienst befindliches Mitglied der Polizeiwache erkennbar, und es gab für ihn nichts befriedigenderes, als einen ganzen Tag mit wachen Augen lang durch die City zu streichen und keinen einzigen Verbrecher zu sehen. Bobby gab sich nicht der Illusion hin, dass es in der City keine Verbrechen gab. Oh nein. Ganz im Gegenteil. Er hatte lange genug in den Außenbezirken am Rand der Schemen Streife geschoben, um zu wissen, welche Abgründe sich in der menschlichen Seele auftaten und er war sich bewusst, dass es auch in den eher wohlhabenden Geschäftsvierteln, die er seit mehr als zwanzig Jahren tagtäglich durchstreifte, nur so von kriminellen Aktivitäten wimmelte. Aber nicht direkt vor seiner Nase. Und dazu trug nach Bobbys Auffassung sein schlendernder Gang nicht unwesentlich bei. Er gab damit den Ganoven und Gelegenheitsdieben genügend Zeit, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen, so dass Bobby im schlimmsten Fall lediglich die eher banale Aufgabe zufiel, die Scherben eines kaputten Fensters in die Schmutzrinne zu kehren oder sich die sehr ungenaue Täterbeschreibung eines sich verdächtig eilig entfernenden suspekten Individuums einzuprägen und später zu Protokoll zu geben. Er kannte diese Straßen wie seine Westentasche und konnte selbst mit geschlossenen Augen allein an den Unebenheiten der Wege, die er unter den Sohlen seiner alten Polizistenstiefel spürte, erkennen, wo er sich gerade befand.

An diesem Tag, als er eben um die Ecke der Bäckerei gebogen war, machte Bobby zwei ungewöhnliche Beobachtungen. Es ereignete sich nichts verbotenes, keine Schreie waren zu hören, niemand rief aufgeregt nach den Ordnungshütern oder verlangte gar im Brustton der Überzeugung nach Rache. Die Ereignisse waren gerade so ungewöhnlich, dass Bobby sie nur im Unterbewusstsein überhaupt registrierte und er sich erst später, als er das Protokoll seiner heutigen Streife anfertigte, für einen Augenblick die Frage stellte, ob sie wohl ungewöhnlich genug waren, um in seinen Notizen Erwähnung zu finden.

Zunächst kamen ihm aus Richtung des Industriegeländes im Osten der Stadt zwei Dieselroller entgegen. Auf dem einen saß ein junger Mann in blauer Tuchhose und Lederjacke, dessen Kopf vorschriftsmäßig von einer Fliegerkappe mit Fliegerbrille geschützt war. Fest an ihn geklammert versuchte eine junge Frau in Wollrock, engem Mieder und Baumwollbluse, nicht von der schmalen Sitzbank zu fallen. Gerade, als der Roller den Polizisten passierte, stieß sie ein kreischendes, fast extatisches Lachen aus. Dicht gefolgt wurde das Pärchen von einem weiteren, kleineren Dieselroller, der von einem weiteren jungen Mann in der typisch braunen Tuchhose und blauen Wolljacke der Zimmerleute gesteuert wurde. Auch er trug vorschriftsmäßig eine Kopfbedeckung, in seinem Fall eine Schiebermütze. Es war für Bobby natürlich nichts Ungewöhnliches, junge Leute auf Dieselrollern durch die Gegend fahren zu sehen, dennoch machte sich sein Unterbewusstsein eine Notiz, dass um diese Uhrzeit noch nie drei junge Leute im arbeitsfähigen Alter das Industriegelände verlassen hatten. Aber verboten? Nein, verboten war es nicht. Gut, das Mädchen trug nicht die vorgeschriebene Kopfbedeckung, aber jetzt war es ohnehin zu spät. Zu Fuß konnte Bobby sie nicht mehr einholen.

Kurze Zeit später, als Bobby sich bereits mehrere Schritte weiter in Richtung Follingdales Kaufhaus bewegt hatte, kamen ein Junge und ein alter Mann ebenfalls aus Richtung des Industriegeländes gerannt. Bobbys Unterbewusstsein wunderte sich, wieso die beiden in solcher Eile waren, da er aber weit und breit keine weitere Menschenseele erblicken konnte, die einen verbrecherischen Hintergrund erkennen ließ, beschloss sein Bewusstsein, sich nicht weiter um die Sache zu kümmern. Es durfte schließlich jeder seine eigenen Prioritäten setzen und wenn die beiden zu spät losgelaufen und nun in Hektik verfallen waren, war das kein Problem der Polizei. Bobbys Unterbewusstsein machte sich noch eine kurze Notiz, dass ihm der alte Mann irgendwoher bekannt vorkam, dann setzte er seine Patrouille fort, ohne noch einmal an die beiden Vorkommnisse zu denken. Es gab ja auch so viel Wichtiges zu beobachten.

V

Nick packte Greg erneut am Handgelenk und zerrte ihn weiter. Als sie das Industriegelände verließen, entdecke Greg auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Polizisten, der seelenruhig dahinschlenderte und mit wachem Blick die Umgebung beobachtete. Gregs Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Jetzt war alles gelaufen. Der Bobby schaute in ihre Richtung. Gleich würde er sie anhalten und dann würde es für Greg keinen Ausweg mehr geben. Nick zerrte ihn weiter und wedelte gleichzeitig mit seiner freien Hand. Winkte er etwa dem Polizisten zu? Wollte er ihn noch mehr auf sie aufmerksam machen? Doch zu Gregs großer Verwunderung wandte der Polizist seinen Blick ab und schien überhaupt keine Notiz von ihnen zu nehmen. Zum Nachdenken blieb ihm jedoch keine Zeit, denn Nick zog ihn immer weiter in einem wilden Lauf durch das Geschäftsviertel der City.

Gregs Lungen brannten, die Beine wollten ihm den Dienst versagen, aber Nick ließ nicht locker und zwang ihn zu laufen, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gelaufen war. Erst, als sie die dampfenden Schornsteine der Fabrikhallen schon weit hinter sich gelassen hatten, ließ Nick sich auf eine Bank in einem kleinen Innenstadtpark fallen und zerrte Greg zu sich hinunter.

 

„So, Junge. Und jetzt erzählst du mir erstmal, was das alles sollte!“, keuchte er und blickte Greg bohrend aus seinem gesunden linken Auge heraus an.

„Fingrey.“, keuchte Greg und hielt sich die stechende linke Seite. „Er ist tot.“

„Ja, das habe ich bemerkt.“, knurrte Nick.

Greg sah ihn von der Seite her an. Sie kannten sich aus der Zeit, in der Greg noch nicht in der Gemeinschaft gelebt hatte. Für beide war der Markt ein lohnendes Revier gewesen und manchmal hatte der alte Nick, wie ihn alle nur nannten, dem elternlosen Straßenjungen einen Happen zugesteckt, wenn er gar zu hungrig gewirkt hatte.

„Was hast du in der Fabrik gesucht?“, fragte ihn Greg misstrauisch.

Nicks Haltung versteifte sich. „Ich wollte mit Fingrey sprechen.“

„Worüber? Du arbeitest doch gar nicht bei ihm.“, hakte Greg nach.

Nick machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Erzähl mir lieber, was passiert ist!“

Greg zuckte mit den Schultern, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ja, was war eigentlich passiert? „Ich war gerade dabei, mit Smitty ein paar Rohre zu reparieren, als plötzlich eine Frauenstimme über Megaphon ausrief, dass ich sofort zu Mister Fingrey kommen sollte.“, begann er stockend zu erzählen. „Komisch eigentlich.“, fügte er nachdenklich hinzu.

„Was ist komisch?“, wollte Nick, der sich interessiert nach vorn gebeugt hatte, wissen.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals jemand über Megaphon ausgerufen wurde. Normalerweise sagen einem die Vorarbeiter Bescheid. Und man sollte doch zumindest denken, dass Molly die Sache übernehmen würde und nicht irgendeine Frau, die niemand kennt.“

Nick wurde hellhörig. „Wie meinst du das?“

„Naja, Molly ist Mister Fingreys Sekretärin. Smitty hat sich auch gewundert, warum er plötzlich eine neue hat.“ Greg rief sich noch einmal die Situation in Erinnerung. Wie er mit Smitty dagestanden und sich über die Ansage gewundert hatte. Wie sein Name gefallen war und Smitty ihn schließlich gedrängt hatte, endlich loszugehen, bevor der Chef noch sauer würde. „Irgendetwas ist eigenartig.“, murmelte er gedankenversunken vor sich hin.

„Inwiefern?“, fragte Nick und ließ Greg nicht aus den Augen.

„Irgendwoher kannte ich die Stimme, aber mir will nicht einfallen, wer es war.“ Wütend schlug Greg die rechte Hand in die linke Faust.

„Gut, du bist also zu Mister Fingrey gerufen worden.“, stellte Nick fest und versuchte, den Faden weiterzuspinnen. „Was ist dann passiert.“

Greg zuckte mit den Schultern. „Ich bin zu seinem Büro gegangen, aber er hat nicht auf mein Klopfen reagiert. Dann habe ich es bei Molly probiert, aber die war nicht da. Durch die Verbindungstür bin ich in Mister Fingreys Büro gelaufen und habe ihn tot in seinem Sessel gefunden.“ Er zuckte noch einmal mit den Schultern und schaute Nick aus unschuldigen Augen an. „Und dann bist du gekommen.“

„Verdammt!“, fluchte Nick und spuckte einen gelblichen Fladen auf das Pflaster vor ihnen. „Das ist ein ganz schönes Schlamassel. Und du steckst bis Oberkante Unterlippe drin.“, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf Greg.

„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Greg in weinerlichem Tonfall. „Soll ich zur Polizei gehen.“

Nick schüttelte energisch den Kopf. „Um Gottes Willen. Auf keinen Fall. Weißt du, wonach deine Geschichte für einen Bobby klingt?“

Greg überlegte kurz und schaute ihn dann aus großen Augen ungläubig an.

„Genau.“, nickte Nick zustimmend. „Für sie und die meisten Leute in dieser Stadt wird es so aussehen, als ob du Jesua Fingrey umgebracht hast. Du wirst zu ihm gerufen, einige Leute sehen, wie du der Aufforderung Folge leistest. Es ist sehr ungewöhnlich, dass man so gerufen wird, also musst du etwas schlimmes ausgefressen haben. Kurze Zeit später verlässt du fluchtartig die Fabrik und Fingrey wird tot in seinem Büro gefunden. Keine Tatwaffe, keine Zeugen, nur der geflüchtete Greg.“ Er atmete kurz durch. „Fall gelöst, würde ich sagen.“, stellte er mit kategorischem Tonfall fest. Als er Gregs fassungsloses Gesicht sah, dessen Farbe sich in ein ungesundes Weiß gewandelt hatte, legte er ihm eine Hand auf den Unterarm und fügte hastig hinzu: „Keine Sorge, Greg. Ich kenne dich schon lange. Ich glaube dir, wenn du sagst, dass du es nicht warst. Aber im Moment hilft dir das sehr wenig. Du musst untertauchen.“

Allmählich wurde Greg bewusst, in welcher Situation er sich befand. „Aber, wie soll ich das denn machen?“, fragte er ängstlich. Er hatte bereits die schlimmsten Geschichten von den Gefängnissen und Untersuchungszellen der Polizei gehört, und er wollte gar nicht wissen, was ihn erwartete, wenn er unter Mordverdacht dort hinein geriet.

„Du musst verschwinden.“, sprach Nick die unangenehme Wahrheit aus. „Am besten, du verlässt für einige Zeit die Stadt. Geh in die Terapolis und suche Inspektor Freydt. Wir kennen uns. Wenn du ihm sagst, dass ich dich schicke und ihm das hier gibst,“ bei diesen Worten zeigte Nick Greg eine kleine kupferfarbene Münze, „wird er dir helfen.“

Greg nahm die Münze so vorsichtig entgegen, als handle es sich um einen brennenden Span. „Danke.“, murmelte er.

„Und noch etwas.“, sagte Nick mit ernster Miene. „Du kannst nicht zurück zu deiner Gemeinschaft.“

Gregs Augen weiteten sich noch ein Stück.

„Es ist zu gefährlich.“, erklärte ihm Nick. „Dort werden sie zuerst nach dir suchen.“ Er legte Greg einen Arm um die Schulter. „Ich werde Suri suchen und ihr Bescheid geben. Am Bahnhof gibt es einen alten Schuppen mit einem grünen Tor. Warte dort heute Abend.“ Er drückte Gregs Schulter noch einmal und erhob sich von der Bank.

Greg war viel zu verwirrt, um zu protestieren. Stattdessen rutschte ihm eine Frage heraus, die schon seit dem Tag, an dem er Nick das erste Mal getroffen hatte, an ihm nagte. „Was ist eigentlich mit deinem Auge passiert, Nick?“

Nick hielt in seiner Bewegung inne und drehte Greg sein Gesicht so zu, dass dieser sowohl die gesunde linke Hälfte als auch die aus einem Drahtgestell bestehende rechte Seite sehen konnte. „Das ist eine lange Geschichte.“, antwortete Nick nachdenklich. „Und für lange Geschichten haben wir im Augenblick keine Zeit.“

Dann wandte er sich ab und schickte sich an, den Park zu verlassen. Abrupt blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu Greg um. „Du musst herausfinden, wem die Stimme gehört. Ich sehe, ob ich etwas über die Dieselroller in Erfahrung bringen kann, die heute Morgen so eilig das Firmengelände verlassen haben. Geh besser da lang!“, gab Nick hageren Jungen letzte Instruktionen, zeigte auf eine Straße hinter Greg, tippte sich zum Gruß an den Hut und verließ den kleinen Park.

Greg beobachtete, wie Nick sich unweit des Parks in die Schlange an einer Suppenküche einreihte, dann stand er mit weichen Knien auf und hastete durch die Innenstadt in Richtung der Unsichtbarkeit versprechenden Schatten der Armenviertel. Egal, wie unsicher es dort war, gefährlicher als die Innenstadt konnten sie für Greg momentan wahrlich nicht werden.

VI

Greg streunte ziellos durch die Straßen, immer darauf bedacht, niemandem, der ihn kannte, zu begegnen. Als Straßenjunge hatte er einen siebten Sinn dafür entwickelt, Polizeistreifen auszuweichen, was ihm jetzt sehr zugute kam. Er drückte sich in die Schatten und verlangsamte vor jeder Kreuzung seinen Schritt, um sicher zu gehen, dass hinter der nächsten Hausecke keine Gefahr lauerte.

Seine Gedanken kreisten unablässig. War es ein Zufall gewesen, dass ausgerechnet er den toten Jesua Fingrey gefunden hatte? Und dass kurze Zeit später der alte Nick in das Büro hereingekommen war? Noch nicht einmal angeklopft hatte er, ganz so, als wäre er dort zu Hause. Was hatte Nick überhaupt in der Fabrik gesucht? Greg überlegte, was er eigentlich über Nick wusste. Es war nicht viel, musste er sich eingestehen. Nick war ein Tagedieb, der von Betteln, Geschichtenerzählen und gelegentlichen Diebstählen lebte. Als Greg noch klein war, hatte er ihm hin und wieder einen Kanten Brot zugeschoben, aber das schien im Augenblick Ewigkeiten her zu sein. Was suchte ein Mann wie der alte Nick in seinem abgetragenen, schmutzigen Wollmantel in Jesua Fingreys Geschäftsräumen? Und das just an dem Vormittag, an dem der Fabrikbesitzer in seinem eigenen Büro ermordet wurde? Und dann ertappte dieser Tagedieb auch noch Greg allein mit dem Toten!

Greg wurde übel bei dem Gedanken daran, was Nick nun gegen ihn in der Hand hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto unklarer wurde die Rolle, die der alte Mann möglicherweise in dieser Angelegenheit spielte. Und dann war da noch die Sache mit der Terapolis. Woher wollte einer wie Nick einen Inspektor in der Terapolis kennen? Ob es diesen Freydt überhaupt gab?

Greg gelangte an eine weitere Kreuzung und blieb abrupt stehen. Er stand vor dem Schwarzen Bären, einem Pub, der besonders von Polizisten gern besucht wurde. War das in seiner Situation nicht schon gefährlich genug, musste Greg außerdem feststellen, dass seine Füße ihn ganz in die Nähe seiner Gemeinschaft getragen hatten. Hier, in der Nähe des Lagerhauses, sollte er sich am allerwenigsten herumtreiben, hatte ihn der alte Nick gewarnt. Schon wieder der alte Nick, zum Kuckuck. Aber in dieser Sache hatte er recht. Wenn jemand Greg erkannt hatte, würde es nicht lange dauern, bis sie herausbekamen, wo er lebte, und dann würden sie dort zuerst nach ihm suchen.

Die Tür des Schwarzen Bären auf der anderen Straßenseite wurde aufgestoßen. Blitzschnell sprang Greg um die Hausecke zurück und prallte beinahe mit einem Mann in Anzug und Stetson-Hut zusammen. „He, pass doch auf!“, brummte der, hielt sich dann aber nicht weiter mit dem Jungen auf und eilte schleunigst weiter.

Greg atmete einmal tief durch. Was sollte er tun? Zu seiner Gemeinschaft konnte er nicht. An seinen Arbeitsplatz konnte er ebenso wenig zurück. Dort würde man ihn sofort festnehmen, dessen war er sich sicher. Er könnte sein altes Leben als Straßenjunge wieder aufnehmen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass die City trotz ihrer enormen Größe zu klein sei, um ihn auf Dauer zu verbergen. Es sei denn – bei diesem Gedanken lief ihm ein unheimlicher Schauer über den Rücken – er zog sich in die Schemen zurück.

Die Schemen oder auf Nick vertrauen? Es kam ihm vor, wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. In der Ferne sah er eine der Hauptverkehrsstraßen. Wenn er seinem jetzigen Weg folgte, musste er bald auf sie stoßen. Er beschloss, dem Zufall die Entscheidung darüber zu überlassen, was er als nächstes tun sollte. War das erste Gefährt, das ihn auf der Hauptstraße passierte, ein Dieselwagen, dann wollte er in die Schemen verschwinden, handelte es sich aber um eine Pferdekutsche, dann würde er Nick vertrauen. Natürlich gab es viel mehr Pferdekutschen als Dieselwagen, aber die letzteren machten den Nachteil mit ihrer höheren Geschwindigkeit wett. Die Chancen waren also ausgeglichen, redete Greg sich zufrieden ein und eilte zielstrebig voran. Zum ersten Mal seit dem Gespräch mit Nick hatte er ein Ziel, auf das er sich fokussieren konnte, und das tat verdammt gut.

Kurz, bevor er die Hauptstraße erreicht hatte, schloss Greg die Augen. Er wollte auf keinen Fall dem Schicksal ins Handwerk pfuschen. Vorsichtig legte er die letzten zehn Schritte zurück. Zum Glück stieß er dabei niemanden an, was er insgeheim befürchtet hatte. Als er sich auf Höhe der Kreuzung befinden musste, öffnete er die Augen. Keine zwei Fuß entfernt passierte ihn eine weiße Kutsche, in der ein glücklich winkendes Brautpaar saß. Vier Schimmel zogen das herrliche Gefährt. Von allen Seiten erschollen Hochrufe und Jubel.

Greg war nicht nach Jubeln zumute. Zwar hatte ihm das Brautpaar den Weg in die Schemen erspart, aber das bedeutete, dass er die City verlassen musste. Die City, die das einzige war, was er im Leben bisher kennen gelernt hatte. Hier war er aufgewachsen, hier hatte er alles gelernt, was er konnte, hier hatte er Freunde und Feinde gefunden, hier wusste er, wie alles funktionierte. Und nun? Nun sollte er dem Rat eines alten verwirrten Mannes folgen und all das hinter sich lassen.

Greg grübelte über all die praktischen Unmöglichkeiten, die einer Reise in die Terapolis entgegenstanden. Zunächst einmal hatte er überhaupt keine Ahnung, wie er überhaupt dorthin gelangen sollte. Die Terapolis war für ihn immer einer jener mythischen Orte gewesen, von denen alle sprachen, die aber noch nie jemand gesehen hatte. Ob Nick schon einmal dort gewesen war? Lag sie im Osten oder im Westen? In der Wüste oder in den Bergen? Greg wusste es nicht. Er hätte einfach einen der Schnellzüge nehmen können. Es gab sicher einen Zug, der Menschen in die Terapolis brachte. Aber zum einen hatte er dafür mit Sicherheit nicht genug Wertmarken und zum anderen würden die Züge sicher gut bewacht, so dass er dort sofort auffallen würde. Aber konnte er zu Fuß bis zu Inspektor Freydt laufen? Greg musste sich eingestehen, dass diese Vorstellung ihm furchtbare Angst machte. Wo sollte er schlafen, was sollte er essen? Und dann war da noch die Frage, wie er ohne Papiere aus der Stadt herauskommen sollte. Er besaß einen Passierschein der Klasse G, was bedeutete, dass er die City verlassen und die Vororte bis zur Kontrolllinie grün besuchen konnte. Einmal hatte er diesen Passierschein tatsächlich benötigt, als er mit Josh und Peanut auf einer Kirmes in einem der Dörfer gewesen war, aber ansonsten hatte er immer wenig Lust verspürt, die City zu verlassen. Aus diesem Grund hatte er seinen Passierschein auch in der kleinen Holzschachtel im Lagerhaus gelassen, in der er seine wenigen Habseligkeiten verstaute. Der Weg zu seiner Gemeinschaft war ihm aber verwehrt. Und ohne Passierschein war es doch nahezu ausgeschlossen, aus der Stadt herauszukommen. Eigentlich war es unmöglich für ihn, die Terapolis zu erreichen. Andererseits wäre es ihm heute Morgen auch noch völlig absurd erschienen, dass er jemals überhaupt an so etwas hätte denken müssen.

 

Als die Dämmerung hereinbrach und die ersten Gaslaternen entzündet wurden, schlich sich Greg zu dem Lagerhaus mit dem grünen Tor, das ihm Nick beschrieben hatte. Es war klug gewählt, denn es stand etwas abseits der großen Lokschuppen, war bereits in Dunkelheit gehüllt und hatte, wie Greg bei einem Erkundungsgang am Nachmittag festgestellt hatte, tatsächlich als einziges Gebäude weit und breit ein grünes Tor.

Greg lehnte sich neben den Türrahmen und versuchte, in den Schatten Bewegungen auszumachen. Von Ferne drangen die Klänge einer Big Band herüber, die einen schnellen Swing spielte. Greg fragte sich, ob es wohl Frogs Band war, die da das Publikum zum Tanz animierte. Ob er Frog und die anderen wohl jemals wiedersehen würde? Was würden sie sagen, wenn er einfach nicht wiederkäme? Ob sie auch glauben würden, er habe Jesua Fingrey umgebracht, wenn die Gerüchte erst die Runde machten?

Der heftige Hieb eines Ellbogens in seine Rippen presste ihm die Luft aus den Lungen und riss ihn aus seinen wehmütigen Gedanken. Stöhnend hielt sich Greg die rechte Seite und blickte nach oben, um den Angreifer erkennen zu können.

„Also wirklich, Junge. Da bist du einer der meistgesuchten Männer der Stadt und träumst in der Gegend herum, als hättest du dich gerade zu einem Schäferstündchen verabredet.“ Nick schenkte Greg ein fast zahnloses Grinsen, denn packte er ihn am Kragen und schob ihn in den alten Schuppen. „So, hier ist es sicherer. Da draußen gibt es zu viele Augen und Ohren.“, brummte er, als er das Tor hinter ihnen zugeschoben und sich den Staub von der Jacke geklopft hatte. Greg beobachtete ihn argwöhnisch, immer darauf bedacht, eine Armlänge Abstand zwischen ihnen beiden zu wahren. Was hatte der alte Nick mit ihm vor?

Nick kramte umständlich in der Innentasche seines Wollmantels. „Ah, da haben wir es ja.“, sagte er endlich zufrieden, zog ein kleines Päckchen hervor und legte es auf einer Kiste ab. In der Dunkelheit konnte Greg nur die Umrisse erkennen. Nick wühlte noch einmal in den Taschen seines Mantels, dann erklangen Klick- und Schabgeräusche, und kurz darauf erhellte die kleine Flamme eines Taschenfeuerzeugs den Raum.

„Los, mach schon auf!“, knurrte Nick und deutete mit dem Kinn auf das Päckchen. Greg beugte sich vor und zog gehorsam die Verschnürung ab. Dann legte er das Päckchen zurück auf die Holzkiste und öffnete es vorsichtig. Darin fand er ein Feuerzeug, ein Taschenmesser mit Griffschalen aus schwarzem Holz, eine Schweißerbrille und ein Stück Papier. Greg warf Nick einen fragenden Blick zu. Der Mund des alten Mannes verzog sich zu einem Schmunzeln. „Ich dachte mir, dass du vermutlich halb nackt auf Reisen gehen wolltest, also habe ich etwas Vorsorge getroffen. Ein Feuer in der Nacht hat schon so manchen Wanderer am Leben erhalten. Na, und was man mit einem Messer alles anstellen kann, muss ich einem Straßenjunge wie dir sicher nicht erklären.“ Mit einer herrischen Geste würgte er Gregs Protest ab, bevor dieser überhaupt einsetzen konnte. „Du wirst es brauchen können. Und wenn du aus der City heraus bist, solltest du unter gar keinen Umständen ohne Schutzbrille herumlaufen. Die Sonne dort draußen ist mörderisch, musst du wissen. Die Schutzhüllen, die man um die Cities gelegt hat, können nicht das ganze Land umfassen.“

Greg schaute Nick verständnislos an. „Der Rauch!“, erklärte Nick mit einer fahrigen Handbewegung. „Er macht irgendetwas mit der Luft. Früher konnte man einfach so in der Sonne herumlaufen, aber seit wir ohne Ende Kohle und Diesel verbrennen und alles in die Atmosphäre blasen, dringt die Sonne unbarmherzig zu uns herab. Für die Cities haben sie Solarpatrocinien errichtet. Die halten die schlimmsten Strahlen ab. Aber wenn du draußen ohne Schutzbrille herumläufst, bist du nach zwei Tagen blind. Und ganz egal, wie heiß dir wird, lass die langen Hosen und die Jacke an. Deine Haut verbrennt schneller, als du dich wieder anziehen kannst.“, setzte er mit energischer Stimme hinzu. „Jetzt aber zum Wichtigsten.“ Nick deutete mit dem Zeigefinger auf das Papier.

Greg nahm es vorsichtig hoch und versuchte, im Schein des Feuerzeugs zu erkennen, was darauf stand. „Ist das eine Art Passierschein?“, fragte er unsicher.

„Eine Art Passierschein.“, wiederholte Nick mit sarkastischem Unterton. „Hör sich einer den Jungen an! Das, mein Junge, ist ein Passierschein, der dich von hier bis zur Terapolis und überall sonst hinbringen wird. So einen Passierschein erhalten nur Handelsvertreter. Er gilt für alle Grenzen und sogar für die Außenbezirke der Terapolis.“, dozierte Nick mit erhobenem Zeigefinger. „Ab heute bist du Handelsreisender im Auftrag der Fingrey Dieselmotoren-Fabrik.“

Greg starrte ihn ungläubig an. „Aber, das ist doch Wahnsinn. Ich bin doch kein Handelsreisender. Das kauft mir doch keiner ab!“

Nun war es an Nick, verständnislos zu blicken. „Wieso denn nicht? Du kennst dich doch mit Dieselmotoren aus. Sogar ziemlich gut, wenn ich es richtig verstanden habe, oder?“

„Nun ja. Ich komme ganz gut zurecht.“, druckste Greg herum. Langsam wurde ihm die Sache unheimlich. Wieviel wusste Nick eigentlich von ihm? Und wo hatte er so mal eben einen solchen Passierschein besorgen können? „Meinst du, es ist nicht etwas verwegen, gerade im Auftrag von Fingreys Firma unterwegs zu sein? Man wird mir Fragen stellen!“

„Und du wirst sie nicht beantworten.“, sagte Nick mit festem Blick. „Du bist schon seit einiger Zeit unterwegs und hast keine Ahnung, was in der Firma direkt vor sich geht. Deine Aufgabe ist es, Dieselmotoren zu verkaufen, und das kannst du richtig gut.“

Greg dachte darüber nach. Nicks Erklärung klang in seinen Ohren vernünftig, doch ein schaler Beigeschmack und das unbestimmte Gefühl, dass es keinesfalls so einfach werden würde, wie Nick es ihm ausmalte, konnte sie nicht verdrängen.

„Ach, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen.“, fügte Nick mit einer gespielten Geste des Erschreckens hinzu und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle, an der der Name eingetragen war. „Offiziell heißt du Theodor Gregorich Knox.“

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