Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk

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Moskau 11. Juni

Artjom lauschte der Abhöranlage in Smirnows Zimmer. Doch die funktionierte nicht so recht. Lediglich ein Knirschen und Knattern aus dem prähistorischen Lautsprecher verriet ihm eine Unregelmäßigkeit. So gab er nur ein harmloses »Blin!« von sich, was so viel wie »Verflixt!« hieß, stand auf und verließ das eigene Hotelzimmer, nachdem er die Waffe entsichert und griffbereit in einer Beintasche platziert hatte. Acht Schritte musste er über den mit dunkelroten, samtig glänzenden Teppichen ausgelegten Flur laufen, um die Tür zu Smirnows Zimmer zu erreichen, vor der ein magerer Typ mit Schnauzbart und billigem Anzug stand, die Kopie eines russischen Gangsters der sechziger Jahre.

Der Hüne betrachtete diesen Mann aus einer Entfernung von fünfzig Zentimetern. »Ich will zu meinem Freund. Was machen Sie hier? Wer sind Sie?« Seine Stimme ließ keine ausweichenden Antworten zu.

»Sergei Michailowitsch Smirnow kann Sie jetzt nicht empfangen«, antwortete der dürre Typ trotzig und zuckte mit dem nikotingelb gefärbten Oberlippenbart. »Gehen Sie zurück in Ihr Zimmer.«

»Kennen wir uns nicht?«, fragte Artjom mit einem Hauch Ironie in der Stimme.

Argwöhnisch blickte der Mann hinauf zum Gesicht des Hünen. »Nicht, dass ich wüsste.«

Ein kurzer, harter, trockener Schlag folgte, der Schnauzbärtige klopfte mit dem Schädel dumpf gegen die Zimmertür und ging ansonsten lautlos zu Boden. »Jetzt kennst du mich bestimmt«, raunte Artjom, zog die Waffe aus der Beintasche und wartete.

Die Zimmertür öffnete sich nach dem Kopfklopfen einen Spalt, den Artjom rasch vergrößerte. Sogleich stand er mitten in Smirnows Zimmer, die Laufmündung am Kopf eines zweiten Mannes. Smirnow saß in seinem Sessel, eine Wodkaflasche in der Hand, und hob abwehrend den zweiten Arm. »Ganz ruhig, das sind ...«

»Komsomolzev?«, unterbrach Artjom, den zweiten Mann keine Sekunde aus den Augen lassend. »Was suchst du hier?« Er kannte diesen Mann mit der Pistolenlauföffnung an der Schläfe recht gut. Alexander Komsomolzev, Inlandsgeheimdienst, sie waren sich oft begegnet, denn Komsomolzev hatte Artjom beschatten müssen.

»Es geht nicht um dich, Artjom. Also nimm die Waffe gefälligst runter, du machst dich sonst unglücklich«, raunte Komsomolzev, ohne auch nur mit einer einzigen Wimper zu zucken. »Passt du etwa auf Smirnow auf? Dann solltest du dein Geschäft wegen fehlender Eignung überdenken!«

»Was soll das dämliche Gequatsche?« Artjom ließ die Waffe sinken, hielt sie jedoch schussbereit und entsichert in der rechten Hand.

»Jemand hat Smirnows Sohn und dessen Kindermädchen hingerichtet. In Deutschland. Und du, unfähiger, überdimensionierter Affe, hast du was davon gewusst? Immerhin: Du konntest nichts dagegen unternehmen.«

»Ihr Idioten wusstet doch auch nicht davon!« Zehn Sekunden lang schaute Artjom in Smirnows leichenblasses Gesicht. Dann schlug er mit der Pistole zu, wütend und hart.

Komsomolzev ging augenblicklich zu Boden, hielt sich die blutende Stirn und fluchte jaulend: »Das wirst du bitter bereuen!«

Sogleich zog Artjom den körperlich weit unterlegenen Alexander Komsomolzev vom Boden hoch, zischte ihn an: »Einzig und allein, dass ich dich nicht sofort abserviert habe, werde ich bereuen, Hurensohn!« und ließ ihn wieder fallen. »Ist das wahr?«, fragte er Smirnow, der regungslos an einer Wodkaflasche nuckelte. »Hast du jemanden, den du fragen kannst, ob dieses Schwein die Wahrheit sagt?«

Smirnow nickte. »Mein Junge ist tot«, lallte er. »Mein kleiner Igor wurde erschossen. Anatolij Sorokin, ein Bekannter aus Deutschland, hat es bestätigt. Er hat ihn gesehen. Mein kleiner Igor wurde mit einem Kopfschuss hingerichtet! Igor, der keiner Fliege etwas zuleide tun würde!« Plötzlich sprang Smirnow auf und näherte sich dem Hünen. »Ich will, dass du alle liquidierst, die damit zu tun hatten! Alle! Egal was es kostet. Alle!« Speichel spritzte aus seinem Mund, er ließ sich erschöpft in den Sessel fallen.

»Anatolij Sorokin?«, raunte Komsomolzev am Boden.

Artjom packte ihn erneut am Kragen und zog ihn hoch. »Was wisst ihr noch? Wer steckt dahinter?«, brüllte er, zog den Beamten mit zur Tür, öffnete diese und richtete die Waffe auf den zweiten Typ, der sich im Hotelflur gerade aufgerappelt hatte. »Rein mit dir, Lebedev! Los!« Er zwang die Kundschafter auf einen Diwan, die Pistole nach wie vor stets auf einen der beiden gerichtet. »Wer hat euch informiert?«

»Hör zu, du aufgeblähtes Muskelpaket«, entfuhr es Komsomolzev wütend. Blut lief über seine Stirn. »Interpol hat uns informiert und wir haben lediglich die Nachricht überbracht. Kapiert das dein Spatzengehirn?«

Der Hüne sicherte die Waffe und packte sie weg. Dann schaute er Komsomolzev lange in die Augen. »Ihr geht mir besser aus dem Weg. Ich habe einen Auftrag. Und den werde ich kompromisslos ausführen. Wer mir im Weg steht, wird vernichtet. – Ich weiß, wo ihr wohnt. – Verstanden?«

Komsomolzev zog ein Taschentuch heraus und tupfte sich Blut von der Stirn. »Das wirst du nicht tun, sonst ...«

»Einen Scheiß werde ich nicht. Wir haben uns verstanden. Und jetzt verschwindet! Alle beide! Mischt euch nicht in meine Angelegenheiten!« Er starrte die beiden an, einer Mumie gleich, die kleine Kinderchen verschrecken wollte.

Smirnow rührte sich nicht. Doch plötzlich öffnete sich sein Mund: »Nicht, dass mein Freund Sorokin meinen Sohn ermordet hat? Immerhin hatte er Zugang zum Haus. Und eine Waffe hat er bestimmt auch.«

Komsomolzev und Lebedev spitzten die Ohren.

»Raus jetzt mit euch!«, forderte Artjom nochmals.

Zwei FSB-Leute räumten geräuschlos die Bühne. Die Zimmertür fiel ins Schloss.

»Pack deine Sachen! Ich bring dich hier raus. Willst du morgen trotzdem zu deinem Treffen?«

»Es wäre eine Kapitulation, wenn ich das Angebot nicht übergeben würde«, raunte Smirnow und ließ die Wodkaflasche fallen.

»Okay. Ich bring dich an einen sicheren Ort und morgen fahren wir zusammen nach Moskau City.« Artjom schaute Smirnow scharf an. »Komsomolzev scheint diesen Anatolij Sorokin zu kennen.«

»Tolik ist ein guter Freund. Er ist aus Russland geflüchtet. Vielleicht war Komsomolzev irgendwann hinter ihm her. Jedenfalls vertraue ich Tolik.«

*

Als Alexander Komsomolzev neben seinem jüngeren Kollegen im Wagen saß, raunte er: »Hast du gehört? Smirnows Freund ist Anatolij Sorokin, die Ameise. Ewig habe ich ihn gesucht! Sollte mich nicht wundern, wenn der hinter dem Mord steckt. Der hat sich Smirnows Vertrauen erschlichen, lebt in der gleichen Stadt in Deutschland und arbeitet dort für eine Polizeispezialeinheit.«

»Du kennst diesen Sorokin?«, fragte Michail Lebedev.

»Seit meinem zweiten Lebensjahr. Er wohnte nebenan, in Magnitogorsk.«

»Ein Fall für Interpol?«

»Wir haben keine Beweise«, erwiderte Komsomolzev.

»Brauchen wir die neuerdings?«

»Sorokin hasst mich ganz bestimmt. Er hat mit seiner Frau gegen Russland gearbeitet. Sie kam zufälligerweise ums Leben. Ich mochte sie nicht mehr, denn sie hat mich wegen Sorokin abgewiesen. Ausgerechnet mich hat er dann um Hilfe gebeten, weil er glaubte, seine Galina wäre ermordet worden, dieses Arschloch. Ich sollte ihn von seinem blinden Balg trennen und zugrunde richten, dann ist er aber nach Deutschland geflüchtet. Er kann mir nichts beweisen, wird aber ganz bestimmt viel ahnen. Jetzt kann ich es beenden. – Du hast recht. Wir brauchen keine Beweise. Vielleicht erledigt Sorokin diesen fetten Sergei Michailowitsch Smirnow und seinen Schutzengel für uns? Oder die erledigen Sorokin. Egal ...«

Michail Lebedev grinste. »Ich liebe es, wenn du deinem Hass freien Lauf lässt, Alex!«

Leipzig 11. Juni

Fedor saß regungslos am Tisch im Wohnzimmer. Er hatte belanglose Fragen von Lauras Mutter beantworten müssen, Tee getrunken und Kuchen gegessen. Laura saß dicht neben ihm, so dass er ihren Atem spürte, wenn sie Fedor beobachtete.

Der Junge hörte ein Geräusch an der Wohnungstür. »Dein Vater kommt«, sagte er und drehte sich zur Wohnzimmertür um, die etwas offen stand.

»Ich habe gar nichts gehört«, meinte Lauras Mutter.

Doch eine Sekunde darauf stand ihr Vater in der Tür und sagte übertrieben laut: »Hallo! Hier bin ich! Und, unser Besucher ist auch da?«

Fedor zitterte plötzlich am ganzen Körper. Er erhob sich unsicher und begrüßte Lauras Vater, »Guten Tag, Herr Sonberg«, der ihm die Hand fest drückte. Fast etwas zu fest.

»Und, alles in Ordnung, junger Mann? Ich wollte nur sagen, ich bin sehr erfreut, dass du Laura besuchst. Ist ja immerhin eine völlig fremde Umgebung für dich.«

»Funktioniert schon.« Fedor wandte sich Laura zu: »Gehen wir wieder in dein Zimmer?«

Laura war angesichts dieser Frage erleichtert. Sie zog ihn sofort mit sich. Fedor schloss die Tür des Kinderzimmers und setzte sich auf eine Liege neben das Mädchen.

»Ich habe einen Freund«, flüsterte Fedor. »Sein Name ist Igor. Er stammt aus Moskau und lebt schon ziemlich lange hier. Ich war oft bei ihm.«

»Und?«

»Er hat sich auf seinen Geburtstag gefreut. Nächste Woche wäre er zehn geworden.«

»Wäre?«

»Igor hat sich einen ganzen Tag mit seinem Papa gewünscht. Das war sein Geburtstagswunsch. Sie wollten in einen Vergnügungspark fahren. Und ich war eingeladen. – Igor wurde gestern erschossen. Ganz aus der Nähe. Und sein Kindermädchen Anja auch. Verstehst du? Gestern erst.«

»Gestern? Das tut mir leid, Fedor.« Laura ergriff die rechte Hand des Jungen. »Weiß die Polizei wenigstens, wer es war?«

»Nichts wissen die. Absolut nichts. Ich habe es dir nur gesagt, damit du weißt, warum es mir nicht ganz so gut geht.« Fedor holte tief Luft und schwieg zunächst. »Als was arbeitet eigentlich dein Vater?«, flüsterte er nach langem Schweigen und lauschte gleichzeitig, ob Lauras Vater nicht ins Zimmer kommen könnte.

 

»Er ist oft bei den Amis. Finanzgeschäfte, sagt er. Er fährt von einer Börse zur nächsten, ist in irgendwelchen Vorständen.«

»Auch in Vorständen von Bauunternehmen?«, flüsterte Fedor.

»Was du alles wissen willst! Keine Ahnung. Ist doch auch egal. – He, willst du mir einen Kuss geben?«

Erschrocken drehte sich Fedors Gesicht zu dem von Laura um. »Soll ich denn wollen müssen?«, fragte er schüchtern und spürte bereits die Lippen des Mädchens auf den seinen. Nur ganz kurz, für eine halbe Sekunde. Fedor holte trotzdem tief Luft. »Ich glaube, ich muss jetzt gehen«, flüsterte er und log: »Mein Vater hat heute noch viel vor.« Er griff in die Hosentasche und berührte einige Tasten seines Handys. Die Abhol-SMS war bereits abgeschickt. »Er wird gleich hier sein.« Sofort erhob sich Fedor.

»Magst du mich etwa nicht?«, fragte Laura, erstaunt über Fedors plötzlichen Ausbruchversuch.

Der Junge suchte verunsichert die Tür. »Doch, schon. Aber ... Ich bin noch nicht so weit.«

»Okay.« Laura ergriff die rechte Hand des Freundes. »Ist nicht so schlimm.«

»Vielleicht kannst du mich mal besuchen?« Fedors linke Hand berührte die Türklinke.

»Ich denke, eher nicht. Mein Vater lässt mich nicht allein raus. Seit ein paar Wochen geht das schon so. Er sperrt mich regelrecht ein.«

Einen Moment zögerte Fedor. »Warum tut er das?«

»Keine Ahnung. Er sagt, es wäre zu meinem Besten. Aber das sagt er ja ständig.«

»Schade«, flüsterte Fedor und ließ die Klinke wieder los. Mit beiden Händen tastete er vorsichtig Lauras Gesicht ab, die Wangen, die Nase, die Lippen und die Ohren. »Mein Papa hat wahrscheinlich recht.«

»Womit denn?«

»Dass du ein sehr schönes Mädchen bist. – Bringst du mich an die Tür?«

»Das hat er wirklich gesagt?« Laura streckte stolz die Hühnerbrust raus. »Klar doch, ich bring dich.«

Auf dem Flur wurden sie von Lauras Eltern empfangen.

»Musst du etwa schon gehen?«, fragte Lauras Vater.

Fedor atmete tief ein und aus. Er antwortete nicht.

Die Antwort übernahm Laura: »Fedors Vater kommt gleich, der hat heute noch was vor.«

»Okay.« Frank Sonberg hielt Fedor die rechte Hand hin. »Also dann, auf Wiedersehen und pass gut auf dich auf.«

Fedor griff zielsicher nach der Hand des Mannes und drückte sie fest, etwas zu fest. »Passiert schon nichts«, meinte er. »Auf Wiedersehen, Frau Sonberg. Vielen Dank für Tee und Kuchen.«

Während seiner vornehm anmutenden Verbeugung klingelte es an der Wohnungstür.

Sonberg berührte einen Sensor unter einem Bildschirm neben der Wohnungstür. Die Überwachungskamera schickte Bilder von der Haustür hoch. »Ah, sieh an. Dein Vater wartet bereits unten.«

Zuletzt gab Fedor Laura die Hand. »Tschüss«, flüsterte er nur.

Und Laura sagte: »Schick mir eine SMS.«

*

»Meinst du, ich könnte noch mal in das Haus?«

Stirnrunzelnd fragte Anatolij Sorokin: »Welches Haus meinst du?«

»Na, in das Haus von Igor.«

»In Onkel Sergeis Haus? Was willst du dort? Ich weiß nicht, ob du das könntest.«

»Es wäre wichtig für mich.«

Sorokin bremste den BMW ab. »Wichtig?« Er wusste, dass Fedor keine weiteren Auskünfte geben würde, ahnte aber auch, dass es für seinen Sohn tatsächlich bedeutungsvoll war, den Tatort erneut aufzusuchen.

»Okay, ich frage Herrn Rattner, ob du darfst. Wäre dir morgen recht?«

Fedor rutschte unruhig in seinem Sitz hin und her.

Tief durchatmend wählte Sorokin Rattners sichere Nummer. »Anatolij hier. Können wir uns noch mal in der Leutzscher Villa umsehen? Es ist wichtig.«

»Ich habe ihr Gesicht abgetastet«, flüsterte Fedor in diesem Moment.

Mit der rechten Hand fuhr Sorokin dem Sohn über den Kopf. »Immerhin ein Anfang. Und was hat sie gesagt?«

Kommissar Rattner meldete sich nach einer kurzen Pause wieder: »Okay. Katie ist dort. Sie wartet auf dich. Ist der Junge mit dabei?«

»Ja, er ist dabei«, sagte Sorokin. »Wir sind in acht Minuten da.«

»Nur das Gesicht. Sie hat sich nicht dagegen gewehrt. Erzählst du es niemandem weiter?«, flüsterte Fedor.

»Ich kann schweigen. Versprochen.«

»Laura hat mir vorher einen Kuss gegeben. – Meinst du, sie mag mich?«

»Laura?« Sorokin lachte auf. »Und wie sie dich mag!«

Fedors Gesicht färbte sich ein wenig rot. Er lächelte trotz der Scham.

»Warum willst du noch mal dahin, wo Igor getötet wurde?«, fragte der Vater plötzlich.

Fedor saß wieder ruhig. »Ein Gefühl. Mehr nicht.«

»Okay. Du vertraust mir aber, falls du mehr wissen solltest als ich?«

Jetzt nickte der Junge. Das tat er sehr selten. Meist sagte Fedor »Ja« oder »Nein«.

Sorokin nahm es zur Kenntnis, denn Fedors Nicken bedeutete nicht zwangsläufig ein »Ja«.

*

»Katie, was tust du hier so allein?« Die Begrüßung zwischen Sorokin und Rattners Kriminalassistentin Katie war überaus intim. Fedor bekam davon nichts mit.

»So richtig weiß ich das selbst nicht.« Katie hatte die beiden unten im Foyer der herrschaftlichen Villa empfangen. »Es lässt mir keine Ruhe. Ich habe ja schon viel erlebt, aber so ein kaltblütiger Mord, da gehört schon mächtig was dazu. Und was suchst du hier?«

Sorokin zeigte auf Fedor, der in tiefen Zügen ein- und ausatmete. »Er wollte hierher.«

»Darf ich nach oben?«, flüsterte Fedor und blickte in die korrekte Richtung die breite Treppe hinauf.

»Du darfst die Bereiche hinter den Absperrbändern nicht betreten, Fedor. Soll ich dich führen?«, fragte Katie und griff nach Fedors rechter Hand.

Der Junge schüttelte die Hand ab. »Bitte nicht.« Dann setzte er Stock und Klicksonar ein, bewegte sich auf die Treppe zu und ging gemächlich hinauf, ohne das massive Geländer zu berühren. Die Erwachsenen folgten ihm fast lautlos. Oben, auf der schmalen Empore, orientierte sich Fedor, ging zielstrebig auf das Büro von Sergei Michailowitsch Smirnow zu, öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Nur seine Nasenflügel bewegten sich.

»Habt ihr die Nachbarn befragt?«, flüsterte Sorokin.

»Selbstverständlich. Die nächsten Nachbarn wohnen dreihundert Meter entfernt. Keiner will was gesehen oder gehört haben. Die Ballistiker wissen aber jetzt, dass mit neun Millimetern geschossen wurde, wahrscheinlich eine Beretta 92 und vermutlich mit Schalldämpfer. Beide Opfer wurden aus dem Kinderzimmer in den Wohnraum geführt und vor dem Kamin hingerichtet. Zuerst das Mädchen, dann der Junge. Beide standen mit dem Rücken zum Mörder. Es war wahrscheinlich ein Einzeltäter, zwischen ein Meter siebzig und ein Meter neunzig groß, das konnte durch die Eintrittswinkel berechnet werden. Todeszeitpunkt war zwischen 20 und 21 Uhr. Der Anruf kam bereits um 21:11 Uhr von einem vor einer Woche geklauten und jetzt schweigenden Handy, um 21:27 Uhr waren die Kollegen vor Ort. – Darf ich dir das überhaupt alles erzählen?«

Sorokin nickte. »Natürlich darfst du.«

»Hat Onkel Sergei Zigarren geraucht?«, fragte Fedor plötzlich.

»Nein«, antwortete sein Vater. »Onkel Sergei hat nie geraucht. Er hasste das Rauchen.«

Der Junge verzog das Gesicht und verließ den Raum. Katie und Sorokin folgten Fedor, der wie in Trance durch den schmalen Flur schlich und schließlich vor einer massiven Zimmertür stehen blieb. »Darf ich?«, fragte er so leise, dass die Frage kaum zu hören war. Hier befand sich die Tür zu Igors Zimmer.

»Auch das darfst du.« Die Kriminalassistentin hielt sich zurück, während Fedor langsam, aber zielgerichtet das Kinderzimmer betrat. Erneut arbeiteten die Nasenflügel des Jungen. Vorsichtig berührten seine Finger die verschiedenen Fächer eines stabilen Regals, in dem vor allem Spielsachen und Bücher aufbewahrt wurden. Ganz plötzlich machte Fedor kehrt und lief zur Tür zurück. Tränen standen in seinen Augen. Wieder zitterte er. Zurück auf dem Flur flüsterte Fedor: »Wir können jetzt ganz schnell gehen.«

Sorokin schaute die Assistentin verdutzt an, und die wirkte ebenso erstaunt. »Nun sag schon ... hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, fragte Sorokin.

Ein einziges Kopfkratzen war Fedors Antwort. Er stieg bereits die Treppe zum Foyer hinunter.

»Danke für die allumfassende Antwort, Fedor!«

Fedor ging auf die Haustür zu. »Bitte, Papa.« Mehr sagte er nicht.

Katie zuckte mit den Schultern.

»Kommst du mit zu mir?«, flüsterte Sorokin, der einen Arm um Katies Schultern gelegt hatte. »Zweisamkeit ist gut gegen Einsamkeit.«

Sie zögerte die Antwort nicht heraus. »Okay. Ich fahre dir nach.« Sie gab Sorokin einen Wangenkuss. »Nur falls es dir keine Umstände macht, wenn ein Ameisenmädchen deinen Ameisenhügel durcheinanderbringt.«

»Halten wir bei Theo? Ich lade dich ein.« Theodorakis, ein urgemütliches griechisches Restaurant, das Fedor und seinen Vater bislang mehr und besser versorgt hatte als die heimische Küche. Zudem war der blinde Junge Liebling des Restaurantbesitzers, der übrigens nicht Theodorakis, sondern Alexander Peleos hieß.

*

Zuerst lauschte Fedor angespannt. Im Wohnzimmer, wo sich die beiden Erwachsenen aufhielten, war es verdächtig still.

Der Junge im blauen Pyjama ging durch das dunkle Zimmer zu seinem Personalcomputer, den er mit vielen Programmen aufgerüstet hatte, die ihm immens halfen. Er steckte sich die Ohrhörer in die Ohren, rückte des Mikrofon des Headsets passend vor die Lippen und fuhr den Rechner hoch.

Zunächst googelte er nach »Frank Sonberg«, fand mehrere Einträge, einen – wie er glaubte – wichtigen auf der Seite eines Börsenmaklers: »Sonberg, Frank – Börsenberater & Makler für die Civil Engineering Consulting Company«, las ihm die barmherzig klingende Frauenstimme im Kopfhörer vor.

»Suche: Civil Engineering Consulting Company!«, sagte Fedor, gerade laut genug, dass sein Spracherkennungsprogramm die Wörter identifizieren konnte.

Kurz darauf meldete sich die Frauenstimme wieder: »Die Civil Engineering Consulting Company ist dem Umsatz nach das zweitgrößte Baukonsortium der Vereinigten Staaten von Amerika mit 580 Großbaustellen weltweit (Stand Dezember 2011).« Unruhig rutschte Fedor auf seinem Sitz hin und her. Plötzlich schaltete er den Rechner aus, ohne ihn herunterzufahren, riss sich das Headset vom Kopf, ging rasch zum Bett, kroch unter die Decke, lag mit dem Gesicht zur Wand und hielt den Atem an. Im selben Moment öffnete sich sanft die Zimmertür.

Sorokin näherte sich dem Bett des Sohnes, zog die Decke zurecht, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Er schläft schon.«

Katie streichelte Fedors Kopf. »Fedor ist so ein Süßer.« Dann verließen beide das Kinderzimmer.

Kaum war die Tür zu, da erhob sich Fedor, ging zur Tür und lauschte. Die Geräusche waren ihm vertraut. Es klang meistens so, wenn Katie bei seinem Vater war und beide dachten, dass Fedor schlafen würde.

Der Junge drehte sich um, griff in die Dunkelheit und hielt sein Handy in der Hand, als er sich wieder auf das Bett warf. Einige wenige Griffe, dann stand die Verbindung zu Laura.

»He, bist du noch wach?«, flüsterte Fedor.

»Ja. Bin ich. Alles okay bei dir?« Laura flüsterte ebenfalls.

Mit dem Handy am Ohr kroch Fedor unter die Bettdecke. »Geht so. Dein Vater war gar nicht mit im Theater«, flüsterte er. »Obwohl der dich doch angeblich nie allein lässt.«

»Er hatte eine Besprechung. Er hat abends oft Besprechungen.«

»Wo? An der Börse? Die hat doch abends zu. Oder?«

»Keine Ahnung.«

»Sag mal, kanntest du Igor Smirnow auch?«

»Nein, der Name sagt mir absolut nichts.«

»Und Anja Weiß? Kennst du die?«

»Nein, sagt mir auch nichts. – Ist das ein Verhör? Fedor, du redest mit mir! Hallo, ich bin es, Laura!«

»Bitte nicht böse sein, Laura. Igor war doch mein Freund, verstehst du? Ich will nichts ungenutzt lassen. Vielleicht weiß ja irgendjemand etwas oder gibt einen kleinen, wichtigen Hinweis, dann ...«

»Okay, hör auf damit. – Willst du mich noch etwas fragen?«

»Dein Vater redet anders als die Leute hier.«

»Logisch. Er ist in Ravensburg aufgewachsen und kam erst nach der Wende hierher.«

»Ravensburg? Wo ist das? Ist es Schwäbisch, was er redet?«

 

»Schwäbisch. Genau. – Noch was?«

»Ja. Wie viele Handys hat dein Vater?«

»Er hat nur eins. Ein Nokia.«

»Er hatte nie ein anderes?«

»Woher soll ich das wissen? Selbst wenn, dann habe ich es nicht gesehen.«

»Hat er eine Pistole?«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Okay.« Fedor dachte nach. »Tust du mir einen Gefallen, Laura?«

»Vielleicht«, flüsterte das Mädchen. »Aber nur vielleicht.«

»›Vielleicht‹ heißt weder ›Ja‹ noch ›Nein‹!« Fedor wartete.

»Okay. Ja!«

»Frag deinen Vater, warum er nicht mit im Theater war. Und dann sag mir, was er geantwortet hat. Meinem Papa hätten sie die Beine abhacken müssen, mindestens die Beine, damit er nicht gekommen wäre.«

»Von dieser Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet. Wahrscheinlich bedeute ich ihm nichts.«

»Vielleicht ja doch. – Laura?«

»Was?«

»Wenn mit mir so etwas passieren würde, ich meine so etwas, wie es mit Igor passiert ist, was würdest du dann tun?«

»Was soll die komische Frage?«

»Bin ich dein Freund?«

»Klar doch. Bist du.«

»Igor war auch mein Freund.«

»Wahrscheinlich würde ich kein Auge zumachen, bis ich wüsste, wer es getan hätte.«

»Und dann? Wenn du es wüsstest?«

»Fedor! Schluss jetzt damit! Sag mir was Schönes.«

»Was Schönes? Weißt du, was mein Papa nebenan mit Katie macht?«

»Wer ist Katie?«

Fedor kicherte. »Sie ist von der Kripo. Sie lieben sich. Und ich kann es ganz gut hören. Sie denken immer, dass ich schon schlafe.«

»Woher willst du wissen, dass sie ...«

Ganz leise wurde Fedors Stimme, fast so, als würde er Laura eine Einschlafgeschichte erzählen. »Weißt du, zuerst reden sie nur. Dann schleichen sie in mein Zimmer und ich tu, als würde ich schlafen. Dann flüstern sie und ich höre das Sofa. Dann küssen sie sich und feixen ständig. Irgendwann stöhnen sie. Dann ist früher oder später Ruhe. Und immer, wenn ich denke, dass sie eingeschlafen sind, stehen sie auf und gehen auf den Balkon Zigaretten rauchen. Dann kommen sie wieder in mein Zimmer und kontrollieren, ob ich noch schlafe. Und dann gehen sie selbst schlafen.«

»Du meinst, sie sind verliebt?«

»Klar doch. Sie küssen sich auch, wenn ich dabei bin. Sie denken, weil ich es nicht sehen kann, merke ich nichts davon.«

Laura lachte übertrieben auf. »Woher willst du wissen, dass sie’s tun?«

»Glaub mir, ich kriege das mit.«

»Wär’ doch schön, wenn du wieder eine Mutter bekommst. Oder?«

Fedor schwieg sehr lange. »Ich kann mich an meine Mama nicht erinnern. Papa schaut sich manchmal Bilder an. Es gibt nur ganz wenige. Er sagt, dass sie auf allen Bildern lacht. Es wird keine andere geben, die so lacht wie meine Mutter.«

»Ach Fedor ...« Jetzt klang Lauras Stimme wieder traurig. »Und wenn ich lache? Wie gefällt dir das.«

»Ich weiß nicht, Laura, wenn du lachst, klingt es wie Schaf und Ziege gleichzeitig. Ich werde dich Schatzi nennen. Halb Schaf, halb Ziege.« Jetzt lachte der Junge.

»Blödmann! Los, ich will jetzt schlafen. Viel Spaß noch mit dem Liebespaar.«

»Gute Nacht, Laura.«

»Gute Nacht, Fedor.« Ein Kussgeräusch war zu hören.

Fedor ließ absichtlich einen Zungenklick in das Handymikrofon los, lachte, legte das Handy unter das Kopfkissen und lauschte kichernd den Ereignissen im Nachbarzimmer.