Auf dem Weg in ein neues Leben

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Kapitel 5

Missmutig schaute Meike aus dem Fenster in den strömenden Regen hinaus. Den Weg zur Firma schaffte sie in zwanzig Minuten. Bei Regen jedoch schien er ihr doppelt so lang. In einer Stunde musste sie los. Auf dem Wohnzimmertisch lag die Post vom Vortag. Zwischen Reklame und Rechnungen fand Meike einen Brief in Blindenschrift. Sie hatte nur einen Brieffreund, und dieser wohnte in der DDR. Ungeduldig öffnete sie den Umschlag und zog ein Blatt heraus. Uwe war nicht gerade der Schreibfreudigste. Leicht glitten ihre Finger über die Zeilen.

Hallo Karin,

vielen Dank für deine lieben Zeilen. Unsere Brieffreundschaft bedeutet mir sehr viel.

Meike hielt im Lesen inne. Warum mussten die Briefe, die sie sich schrieben, immer so neutral klingen? Sogar einen anderen Namen mussten sie verwenden. Sie hoffte, dass dies alles bald der Vergangenheit angehören würde.

Vor einigen Tagen war ich bei einem älteren Herrn, um ein Klavier zu stimmen. Zuerst wirkte er sehr verschlossen, ja er war mir gegenüber sogar ablehnend. Der Mann ist sehr einsam. Nur für seine verstorbene Frau lässt er das Instrument, das wirklich nur noch für den Schrottplatz taugt, stimmen. Ich denke oft über ihn nach.

Der arme Uwe, dachte Meike. Er ist selbst hypersensibel und soll anderen ein Seelsorger sein. Vielleicht gerade deshalb.

Meine Gedanken sind oft bei meiner Freundin.

Ich hoffe doch stark, dass er mich meint! Die junge Frau grinste.

Unsere Bandprobe ist total schiefgelaufen. Überdies haben der Bassgitarrist, eine Sängerin und der Schlagzeuger angekündigt, die Band zu verlassen. Ich muss jetzt los. Später kommen zwei Bekannte zu Besuch. Wir wollen den nächsten Urlaub besprechen.

Es grüßt dich Peter

Schweren Herzens steckte Meike Uwes Brief in den Umschlag zurück. Ein drittes Mal stand ein Wechsel der Deckadresse bevor. Das wäre die Gelegenheit, Peter in Uwe und Karin in Meike umzutaufen.

Das Klingeln des Telefons weckte sie aus ihren Träumen. Ohne sich zu beeilen, ging Meike zu einem kleinen Schränkchen, auf dem ein schwarzes Telefon stand. Kurz angebunden meldete sie sich: „Zieling.“

„Was ist denn mit dir los?“ An der Frage erkannte Meike ihre Kollegin.

„Petra, du bist es. Ich dachte, es wäre Bernd. Der nervt zurzeit mal wieder. Er kann einfach nicht begreifen, dass ich ihn nur als Kumpel will.“

„Ist es dir recht, wenn ich dich zur Arbeit abhole? Es gießt wie aus Kannen.“

„Das wäre sehr schön.“

„Ich komme in einer halben Stunde vorbei.“

Kaum hatte Meike aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. „Was ist noch?“

„Na, na, na, Meike, gehst du immer so mit deinen Anrufern um?“

Die Frau lachte: „Hans du bist es. Ich dachte, meine Kollegin wollte noch etwas. Sie rief mich gerade an und holt mich in einer halben Stunde zur Arbeit ab.“

„Ich habe Nachricht von drüben bekommen.“

Meike lief ein Schauer über den Rücken. „Ist was passiert? Was ist mit Uwe?“

„Beruhige dich. Ihm ist nichts passiert. Es geht um die Freizeit mit den Ostdeutschen.“

Die junge Frau atmete tief durch. Der Kontakt zwischen ihr und ihrem Freund konnte den staatlichen Stellen auf Dauer nicht verborgen bleiben. Ein wenig ruhiger fragte sie: „Konntet ihr euch auf einen Zeitraum einigen? Ich muss rechtzeitig Urlaub einreichen.“

„Dann plane die erste Woche im Juli ein.“

„Weißt du, ob Uwe kommt?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Es ist durchaus möglich, dass ihm davon abgeraten wird. Die Überwachung ist so stark, dass es sich auf das Treffen auswirken könnte, wenn Uwe daran teilnimmt. Niemand darf wissen, dass ihr in Kontakt steht.“

„Hans, ich sehne mich so nach ihm. Seit meiner Flucht haben wir uns nur Briefe geschrieben.“

„Das glaube ich dir. Du darfst aber nicht vergessen, dass es anderen ähnlich geht. Heute Abend wollen sich ein paar Jugendliche bei mir treffen. Dabei geht es um die Freizeit in Ostberlin. Wenn du möchtest, kannst du gern dabei sein.“

„Ich komme auf alle Fälle vorbei.“

„Es geht um 20:00 Uhr los. Halt den Kopf oben.“

Lange noch hielt Meike den Hörer in der Hand. Vier Monate waren es noch bis Juli. Wie würde sie Uwe gegenübertreten, falls sie sich trafen? War er noch der, den sie so liebte? Meike erschrak. War ihr Jugendfreund aus dem Internat in Oberlensbach überhaupt noch allein? Wartete er auf sie, so wie sie auf ihn wartete? Sie gab die Hoffnung nicht auf. Damit traf sie bei ihren Altersgenossen, vor allem bei Männern, die sich für sie interessierten, auf Unverständnis. Wie konnte sie auf einen Ostdeutschen, vielleicht sogar einen Kommunisten, warten? Der jungen Frau taten diese Vorurteile weh. Dennoch hielt sie an der Hoffnung fest, Uwe wiederzusehen, vielleicht sogar irgendwann ihr Leben mit ihm zu teilen. Zurück in die DDR konnte sie nicht. Im Westen angekommen hatte Meike ihre Mitarbeit in der Friedensbewegung fortgesetzt. Daher galt für sie bis auf Weiteres das Einreiseverbot. Oft kamen ihr Zweifel an der Richtigkeit des von ihr eingeschlagenen Weges. Meike war gegen die Aufrüstung in Ost und West. Deshalb hatte sie sich zum Ende der Berufsausbildung in Oberlensbach der ostdeutschen Friedensbewegung angeschlossen. Aufgrund eines Verrats war die Gruppe aufgeflogen und Meike war durch ihre Flucht in den Westen der Verhaftung entgangen. Sie hatte dabei die Trennung von Uwe in Kauf genommen. Seit dieser Zeit fühlte sich die junge Frau ihrem Freund gegenüber schuldig. Seinetwegen wies sie Männer ab und zog sich immer mehr zurück. Die neue Arbeitsstelle gab ihr die nötige Zuversicht. Nach anfänglichen Vorurteilen der Kollegen gegen sie als Ostdeutsche fühlte sich Meike inzwischen vom Team angenommen. Endlich legte sie den Hörer auf und fing an, sich für das Büro fertigzumachen.

„Wir müssen alles genau planen“, sagte Hans Timmroth am gleichen Abend zu seinen jugendlichen Gästen. Diese saßen in seinem kleinen Wohnzimmer auf Kissen und Matratzen. „In den VW-Bus der Kirchgemeinde passen mit Fahrer neun Mann. Somit könnten wir die ganze Gruppe unterbringen.“

Eine junge Frau von zwanzig Jahren meldete sich zu Wort. „Darf Meike mitfahren?“

„Ich gehe davon aus. Ihr Einreiseverbot bezieht sich nicht auf Tagesfahrten nach Ostberlin. Ich treffe mich bald mit dem Leiter der ostdeutschen Gruppe, um ein gemeinsames Programm aufzustellen.“

Günther, der stets im Hintergrund blieb, fragte vorsichtig: „Bleiben wir die ganze Woche drüben?“

Verneinend schüttelte Hans den Kopf. „Wir müssen jeden Abend zurück und fahren morgens wieder nach Ostberlin.“

Meike beschlich eine leise Trauer. Sie beherrschte sich und blieb still.

„Wenn ihr Vorschläge zum Programm habt, könnt ihr sie selbstverständlich anbringen. Ich bin für alles offen.“ Hans beendete den offiziellen Teil des Treffens.

Langsam löste sich die Gruppe auf. Meike nahm den weißen Langstock vom Haken und schickte sich an, die Wohnung zu verlassen.

An der Tür wurde sie von Hans zurückgehalten. „Hast du noch etwas Zeit?“

Meike zögerte: „Ich muss morgen zeitig aufstehen.“

Ohne darauf einzugehen, sagte ihr Gegenüber: „Ich fahre am Wochenende nach Ostberlin.“

Meike versuchte sich zu beherrschen. Zunächst hatte diese Ankündigung für sie keine Bedeutung. Hans fuhr oft in den Osten.

Nach langem Schweigen räusperte sich ihr Gesprächspartner. „Ich könnte dich mitnehmen.“

Das Mädchen hüllte sich weiter in Schweigen. Sollten die langen Jahre des Wartens bald ein Ende haben?

Hans ahnte, was in Meike vorging. Noch war die Katze nicht aus dem Sack. Vorsichtig fuhr er fort: „Ich habe in der Katharinengemeinde zu tun.“

Langsam richtete sich Meike auf. „Ist das nicht unsere Partnergemeinde?“

„Genau. Ende der Woche hat dort ein gewisser Klavierstimmer namens Jäger einen Termin.“

Endlich hielt es Meike nicht mehr auf ihrem Platz. Aufgeregt fragte sie: „Meinst du Uwe Jäger?“

Der Angesprochene schwieg.

„Nun sag doch was! Ist es Uwe?“

Kapitel 6

Nägel kauend saß Uwe vor dem Fernseher. An diesem Nachmittag lief die Handlung scheinbar ohne Spannung an ihm vorbei. Der Grund für seine Aufregung war ein dringender Auftrag eines Mitarbeiters der Katharinengemeinde in Berlin. Sein Name war Engelmann. Warum tat dieser so wichtig? Sicher, die Gemeinde gehörte zu Uwes Stammkunden, galt aber der großen Entfernung wegen zu den schwierigsten. Zögernd stand Uwe vom Fernsehsessel auf, ging zum Schreibtisch in der Ecke und zog den letzten Brief von Meike aus dem Stapel auf der Schreibtischplatte. Langsam glitten seine Finger über die Punkte.

Hallo Peter, gern möchte ich dir ein paar Zeilen schreiben. Viel Aufregendes gibt es nicht zu berichten. In der Firma finden personelle Umstrukturierungen statt. Ich bin zum Glück davon nicht betroffen. Meine Nachbarin hat sich einen Hund zugelegt. Der bellt den ganzen Tag. Magst du Hunde? Ich möchte mir gern einen Blindenführhund anschaffen. Leider ist meine Wohnung zu klein dafür.

Liebe Grüße

Karin

Uwe konnte hinter diesen wenigen Zeilen nichts Geheimnisvolles entdecken. Er las sie ein zweites und ein drittes Mal. Auch der vorletzte Brief enthielt keine versteckten Nachrichten. Also legte er die Briefe wieder weg.

Es war wohl besser, überlegte er, den Auftrag als wichtig einzustufen. Uwe suchte die Karteikarte der Katharinengemeinde aus dem Kasten. Neben den Standardangaben des Kunden hatte er darauf auch einige Informationen notiert, die die Instrumente betrafen. Beim Lesen musste er schmunzeln.

 

- Gemeindesaal: kalt, ein Piano, Tasten gequollen und rostige Saiten.

- Musikzimmer: ein Piano, Brötchen in der Mechanik, Mäusedreck und Mottenfraß. Dämpferabhebestange zum Pedal gebrochen.

- Frau Lippert: Gussrahmen gerissen.

Dieser Dame musste Uwe endlich klarmachen, dass ihr Instrument auf den Schrott gehörte. Und dann war da noch Herr Heimstätter. Er war der Kantor dieser Gemeinde. Der bildete sich ein, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Uwe mochte diese Art von Kunden nicht.

Er griff sich die Notizen, die er während des letzten Telefonats gemacht hatte. Da stand es klar und deutlich: Die Berliner wollten offenbar seinen Unmut heraufbeschwören. Der Gemeindesaal und das kleine Zimmer nebenan waren wieder mal dran. Uwe rang die Hände. Die Kiste im Musikzimmer bedurfte einer Grundreinigung. Fest stand, dass beide Instrumente an einem Tag nicht zu schaffen waren. Zudem litt Uwe unter einer Hausstauballergie. Aus diesem Grund lehnte er Grundreinigungen meist ab. In Berlin kam er aber wohl nicht drum herum. Mottenfraß bedeutete, dass unter anderem die Filzscheiben unter den Tasten erneuert werden mussten. Die standen auf der Bestellliste und waren noch nicht verfügbar. Uwe atmete auf. Der Kelch ging also noch einmal an ihm vorbei. Ihm blieb der Gemeindesaal. Schlimm genug!

Uwe wollte gerade die Karte in den Karteikasten zurücklegen, als er in der Bewegung innehielt. Er erinnerte sich daran, vor einigen Wochen vorsorglich einen Satz Filzscheiben bestellt zu haben. Er ließ die Karte auf die Schreibtischplatte fallen und verließ die Wohnung Richtung Werkstatt. Tatsächlich lag ein neuer Satz in einem seiner Materialkästen. Sogar einen Satz Papier- und Pappscheiben fand er.

Uwe ging zum Telefon und wählte die Nummer der Katharinengemeinde.

Am anderen Ende meldete sich eine etwas schläfrig wirkende Frauenstimme. „Pfarramt der Katharinengemeinde.“

„Guten Tag. Hier ist Uwe Jäger, Ihr Klavierstimmer.“

Die Dame wirkte plötzlich hellwach. „Sie möchten sicher Herrn Engelmann sprechen.“

„Ja“, bestätigte der Angesprochene. Er hörte, wie der Hörer zur Seite gelegt wurde.

Nach einer Weile ließ sich eine freundliche Männerstimme vernehmen. „Sie sprechen mit Fritz Engelmann.“

„Hier ist Uwe Jäger, Ihr Klavierstimmer“, wiederholte dieser.

„Ich freue mich, dass Sie anrufen.“

„Sie baten um einen dringenden Termin?“

„Ja. Wir brauchen Sie unbedingt, und möglichst noch vor nächster Woche, für zwei Klaviere.“

„Um welche Instrumente handelt es sich?“

„Um die beiden im Gemeindesaal und im Musikzimmer.“

Uwe grinste. Dachte ich es mir doch. Die Kleinen wollen singen, schmeißen aber vorher alte Brötchen in die Mechanik. „So schnell geht das nicht“, sagte er. Meinen Notizen nach zu urteilen benötigt das Instrument eine Grundreinigung. Außerdem liegt Mottenfraß vor. Sie könnten es vorläufig gegen ein anderes austauschen. In einem der anderen Zimmer steht doch noch ein Klavier, wenn ich mich recht erinnere.“

„Das wird auch gebraucht. Nächste Woche ist eine Singefreizeit. Und dann ist da noch eine andere Sache ...“ Herr Engelmann hielt inne und kam zu seinem eigentlichen Anliegen zurück. „Herr Jäger, könnten Sie morgen kommen?“

„Wenn es so dringend ist, dann muss es wohl sein. Ich habe zum Glück bis zum Wochenende nur einen Auftrag, den ich deswegen verschieben muss. Ich bin dann, wie immer, im Laufe des Vormittags bei Ihnen.“

„Wir würden uns sehr freuen.“

„Sie sprachen von einer anderen Sache?“ Die Andeutung seines Gesprächspartners hatte Uwe neugierig gemacht.

„Das ... das ist nicht so wichtig“, druckste Herr Engelmann herum. „Wir unterhalten uns darüber, wenn Sie bei uns sind. Wie lange werden Sie brauchen?“

„Bei dem Klavier mit Reinigen und Stimmen etwa sieben Stunden.“

„Das wären also zwei Übernachtungen“, überlegte der Anrufer.

„Wenn ich morgen nach der Ankunft gleich mit der Reinigung beginne, brauche ich nur eine Übernachtung.“ Nachdem Uwe den Hörer aufgelegt hatte, begann er damit, das nötige Material und sein Werkzeug zusammenzupacken. Rechtzeitig fiel ihm noch eine beim letzten Mal gerissene Saite ein. Also mussten neben dem Stimmwerkzeug, Filz- und Pappscheiben auch noch Saitendraht in verschiedenen Stärken, Mikrometerschraube, Saitenschneider, Aufsetzeisen und Rundzange in den Werkzeugkoffer. Dieser gehörte samt Schlafsack und Wechselwäsche zur Standardausrüstung für weite Geschäftsfahrten.

Plötzlich hielt Uwe beim Packen inne. Er hatte das Treffen mit Rico und Wolfgang vergessen. Die mussten bald auf der Matte stehen. Schnell stopfte er den Schlafsack in seinen Rucksack und stellte diesen neben den Werkzeugkoffer in den kleinen Vorraum. Kurze Zeit später klingelte es an der Tür. Rico und Wolfgang kamen zusammen und stürmten gut gelaunt in Uwes kleine Wohnung.

Wolfgang sah sich um. „Das sieht ja wüst aus bei dir. Fährst du weg?“

„Ich habe morgen Kundschaft in Berlin.“

Rico und Wolfgang tauschten verständnisvolle Blicke.

Rico fragte: „Ist es wieder die Katharinengemeinde?“

„Ja“, bestätigte Uwe. „Ich habe jetzt schon die Schnauze voll.“

Wolfgang nahm die von seinem Gastgeber gereichte Flasche Bier entgegen. Rico hielt sich wie immer an Mineralwasser und Uwe öffnete für sich eine Klubkola.

Wolfgang nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, stellte sie auf einem Beistelltisch ab und lehnte sich zurück. „Womit wir beim Thema wären“, eröffnete er die kleine Versammlung. „Zufälligerweise findet die Ost-West-Freizeit in der Katharinengemeinde statt. Du, Uwe, bist demnach sozusagen unsere Vorhut. Ich gehe von einem Termin Anfang Juli aus. Wir haben also noch etwas Zeit.“

Rico räusperte sich vernehmlich. „Laufen die Vorbereitungen in Gemeinschaftsarbeit oder brät jede Seite ihre Extrawurst?“

„Ich treffe mich Anfang Mai mit meinem Jugendwartkollegen in Ostberlin. Bis dahin sollten wir uns schon Gedanken gemacht haben.“

„Nur wir drei?“, fragte Uwe vorsichtig.

„Natürlich nicht“, wehrte Wolfgang ab. „Ich habe vor, Jürgen und Sven mit ins Boot zu holen. Der Rahmen steht so weit fest.“

Uwe tat verständnislos: „Was meinst du damit?“

„Ganz einfach“, erklärte der Jugendwart. „Das Treffen dauert eine Woche. Wir Ostdeutschen werden in der Katharinengemeinde untergebracht. Wie, das ist deren Angelegenheit. Die Westdeutschen kommen morgens von Westberlin herüber und müssen abends wieder zurück.“

Bei den Anwesenden trat betretenes Schweigen ein. Rico fing sich als Erster wieder: „Das ... das geht nicht anders?“

„Was fragst du mich? Ich kann nichts für das System. Die Vermutung liegt nahe, dass die staatlichen Stellen auf diese Weise unsere Zusammenkunft torpedieren wollen.“

„Na gut“, schloss Uwe das leidige Thema ab. „Wie Wolfgang schon sagte, können wir nichts dagegen unternehmen.“ In seinem Kopf arbeitete es. Wenn die Westdeutschen jeden Abend zurückfuhren, würde vielleicht bei der letzten Fahrt die Kontrolle schlampiger verlaufen oder überhaupt nicht stattfinden. Wäre das seine Chance?

„Mehr können wir heute Abend nicht klären“, meinte Wolfgang. „Ich setze euch über die nächsten Schritte in Kenntnis.“

Kapitel 7

In Berlin angekommen, stand Uwe vor einem Klavier, welches schon bessere Zeiten gesehen hatte. Er säuberte sich gewohnheitsgemäß mit einem Schraubenzieher die Fingernägel und überlegte, wie er den Herrschaften beibringen konnte, dass das Instrument auf den Schrott gehörte. Nicht nur die Filzscheiben unter den Tasten waren den Motten zum Opfer gefallen, sondern auch andere Filze in der Mechanik. Zudem lagen wieder alte Brötchen zwischen den Saiten. Um dies zu erkennen, hatte der Klavierstimmer fünf Stunden Bahnfahrt auf sich genommen. Nun, das würde er der Gemeinde in Rechnung stellen. Zudem kamen noch der Wochenend- und der Erschwerniszuschlag.

Die Tür öffnete sich und Frau Kannegießer erschien im Zimmer. „Na, geht es voran?“

Uwe antwortete leicht verärgert: „Sehen Sie sich diese Schweinerei an.“ Mit dem Schraubenzieher deutete er ins Innere des Pianos.

Frau Kannegießer trat näher. „Das ist doch Mäusedreck“, sagte sie angewidert. „Und was sind das für Krümel?“

„Reste von Filzteilen, die die Motten übrig gelassen haben. Ich kann Ihnen noch mehr zeigen.“ Uwe zog eine Gabel und vertrocknete Brötchen aus dem Inneren der Mechanik. „Ich möchte nicht wissen, was unter den Tasten verborgen liegt. Es geht ja noch weiter.“ Er zog die Holzplatte unter der Tastatur heraus, worauf ihm eine zerbrochene Holzstange entgegenfiel. „Wollen Sie noch mehr sehen? Ich weigere mich, diesen Schrott zu reinigen.“

„Wir brauchen das Instrument aber!“, stöhnte Frau Kannegießer.

„Das glaube ich Ihnen“, antwortete Uwe, nun etwas ruhiger. „Das Reinigen ist noch das kleinere Übel. Sie werden keinen Klavierbauer finden, der den Kasten repariert.“ Mit diesen Worten wies der junge Klavierstimmer auf die von Motten zerfressenen Hämmerchen. „Zur Not kann ich das Klavier stimmen, das ist aber auch alles.“

Frau Kannegießer atmete erleichtert auf. „Das ist erst mal die Hauptsache.“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.

Undank ist der Helden Lohn, dachte Uwe und öffnete den Werkzeugkoffer.

„Ist Herr Jäger schon eingetroffen?“, fragte Herr Engelmann Frau Kannegießer, die etwas angesäuert den Raum betrat.

„Ja.“

Wo ist er jetzt?“

„Im Musikzimmer. Er regt sich wegen des Klaviers auf.“

„Mit Recht“, meinte Herr Engelmann. Der hochgewachsene, etwas schlaksig wirkende Mann saß auf einer Tischkante und spielte mit einem Kugelschreiber. „Ich wollte wegen etwas anderem mit Ihnen reden.“

„Wegen der Westdeutschen?“

Herr Engelmann nickte bestätigend. Er rutschte von der Tischkante und lief im Raum auf und ab. „Ein Herr ... Herr ...“ Der Mann ging zu einem kleinen Schreibtisch und wühlte in einem Schubfach. Endlich fand er das Gesuchte. Auf einem dicht beschriebenen Blatt Papier las er den Namen ab. „Ein Herr Steinert aus Oberlensbach gibt uns morgen die Ehre.“

„Hängt das mit der Zieling zusammen?“

„Vermutlich. Ich wurde nur gebeten, Herrn Jäger wegen eines oder zwei der Klaviere zu bestellen.“

„Was hat Herr Steinert damit zu tun?“, fragte Frau Kannegießer.

„Soviel ich weiß, ist er ein ehemaliger Lehrer von Herrn Jäger.“

„Und was hat die Westdeutsche damit zu tun?“

„Das weiß ich ebenso wenig wie Sie. Ich soll nur den Klavierstimmer nach Berlin holen. Irgendwie hängt die Frau mit drin.“

„Übernachtet er wieder im Gästehaus?“, fragte Frau Kannegießer.

„Er schläft doch jedes Mal dort, wenn es nötig ist. Ich schau mal nach ihm.“ Eiligen Schrittes verließ Herr Engelmann den Raum. Zwei Türen weiter betrat er leise das Musikzimmer.

Inmitten von herausgenommenen Tasten saß Uwe, mit einem Lappen Taste für Taste säubernd, auf dem Fußboden. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er den Gemeindehelfer erst wahrnahm, als dieser neben ihm stand.

Erstaunt blickte dieser auf das Durcheinander von Tasten, alten Lappen und neu aussehenden Filzscheiben. „Sie geben sich aber viel Mühe mit diesem Schrotthaufen.“

„Ich gebe mein Bestes“, knurrte Uwe. „Morgen werde ich Schnupfen haben.“

„Sind Sie Allergiker?“

„Leider. Deswegen nehme ich eigentlich keine Reinigungen mehr an.“

„Das hätten Sie uns sagen müssen.“

Uwe lachte: „Ich werde es überstehen.“

Herr Engelmann hockte sich neben dem Klavierstimmer auf den Boden. Nach einer Weile fragte er zögernd: „Kennen Sie einen Herrn Steinert?“

Vor Schreck ließ Uwe eine Taste fallen. „Er war mein Klassenlehrer.“

„Er kommt morgen Vormittag.“

„Ist deswegen Ihr Auftrag so dringend?“

„Nicht nur. Wir brauchen vor allem das Klavier im Gemeinderaum.“

Der Schrotthaufen hier ist dann wohl Beschäftigungstherapie, dachte Uwe. „Was möchte Herr Steinert von mir?“, fragte er.

„Das weiß ich selbst nicht.“

Uwe beschloss, die Frage vorerst auf sich beruhen zu lassen. Er nahm den Lappen, putzte die restlichen Tasten und setzte sie in die Klaviatur ein. „Ich möchte die Reinigung heute noch schaffen, sodass ich morgen für den Gemeindesaal Zeit habe.“

 

Nach einer Weile überließ Herr Engelmann den Techniker sich selbst und verließ den Raum.

Die geplante Ankunft Steinerts hatte Uwe aus dem Konzept gebracht. Das alles fand er sehr sonderbar. Aus welchem Grund interessierte sich sein ehemaliger Schullehrer zwei Jahre nach Abschluss der Berufsausbildung für ihn? Das letzte Mal hatte er ihn getroffen, um Meikes ersten Brief abzuholen. Meike? Sollte das Ganze doch mit ihr zusammenhängen? In ihren letzten Briefen hatte nichts darüber gestanden. Ruhelos lief Uwe durch den Raum. Konnte es sein, dass sie hier war? Bestimmt nicht. Sie hatte ein Einreiseverbot. Doch galt dies auch für Berlin? Hatte vielleicht das ewige Warten bald ein Ende?

Später, in seinem Gästezimmer, wollte der Schlaf nicht kommen. Lange wälzte sich Uwe in seinem Bett hin und her. Sicher machte er sich umsonst Hoffnung. Dass Herr Steinert in Berlin war, brauchte nicht zwangsläufig mit Meike zusammenzuhängen. Uwe stand auf und holte etwas aus seiner Tasche. Es war ein kleines Abzeichen, auf dem Schwerter zu Flugscharen abgebildet waren. Aus der Erinnerung heraus hörte er die Stimme seiner Freundin: „Ich möchte, dass du ein Andenken von mir hast. Schwerter zu Pflugscharen, das Symbol der Friedensbewegung. Es wird uns verbinden, bis wir uns wiedersehen.“

Uwe hielt das Abzeichen in der Hand. Seine Gedanken gingen, wie so oft, in die Vergangenheit zurück. Er sah sich mit seiner Schulfreundin an den verschiedensten Orten in der Blindenanstalt. Das Mädchen war sein Ruhepol, seine Zuflucht gewesen. Beide hatten Mobbing und Brutalität überstanden, nur um aufgrund der politischen Umstände auseinandergerissen zu werden. Meike sehnte sich nach einer Welt ohne Waffen und hatte in der Friedensbewegung für ihre Idee gekämpft. Zuletzt hatte es für sie nur die Flucht in den Westen gegeben. Uwe erschrak. Wie würde es sein, wenn er und Meike sich gegenüberstanden? Hatte ihre Liebe der zeitlichen und räumlichen Entfernung standgehalten? Würden sie sich wiedererkennen? Würden ihre unterschiedlichen Lebensgeschichten sie einander entfremden? War es nur eine Jugendliebe gewesen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war? Den jungen Mann überfiel auf einmal große Angst. Schließlich gab er sich einen Ruck. Uwe wollte nicht mehr nur der Brieffreund namens Peter sein.

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