Nixentod

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Mit einem Stoßseufzer begann sie, die Protokolle durchzulesen. In keinem Protokoll war ein Hinweis, woher die Leiche gekommen sein könnte. Sie telefonierte zwischendurch mit der Gerichtsmedizin. Dort wurde sie allerdings auch auf später vertröstet. Es gab noch keine Ergebnisse. Erst für den späten Nachmittag wurde ein erster Bericht erwartet. Hinsichtlich der Identität gab es auch keinerlei neue Erkenntnisse.

Stahlmann hatte alle Vermisstenanzeigen der letzten Wochen durchgesehen. Auf keine passte die Beschreibung. Die KTU hatte weiträumig das Gelände abgesperrt und systematisch nach brauchbaren Spuren durchforstet. Leider auch ohne Erfolg.

Das Ganze schien sich zu einer ausgesprochen schwierigen und lang andauernden Ermittlung zu entwickeln.


Brandenburg/Havel

Donnerstag, 9. Februar 2006

Louise Elverdink saß in der Kantine der Polizeidirektion vor einem Kaffee und zwei belegten Brötchen. Stahlmann kam an ihren Tisch, ebenfalls beladen mit Kaffee und diversen belegten Teilen. Etwas lustlos rührte sie in ihrem Kaffee herum und beobachtete, wie die Kaffeesahne sich in einem weißen Strudel in der Tasse verteilte. Stahlmann schwieg. Vielleicht wartete er darauf, dass sie das Gespräch eröffnen würde. Sie blickte auf und lächelte eine kleine Winzigkeit.

»Da haben wir ja einen richtigen Mordfall am Hals.«

Stahlmann nickte nur, wohl wissend, was für eine gewaltige Maschinerie nun in Gang gesetzt werden würde, um dieses Kapitalverbrechen zu bearbeiten.

Die nächsten Wochen würden hart werden. Wenig Freizeit, viel Stress. Ein wenig hatte er Mitleid mit seiner Kollegin. Sie ahnte ja nicht einmal, was da auf sie zurollte. Andererseits konnte er sich gut vorstellen, dass die robuste Frau neben ihm diese Situation meistern würde. Sie hatte genügend Intellekt und auch starke Nerven, zwei wesentliche Eigenschaften für ein erfolgreiches Ermitteln in solchen Extremsituationen.

»Wann soll denn der LKA-Mann kommen?«

»Haberer sagte mir, die schicken einen, der schon in einem ähnlichen Fall ermittelt. Es soll einige Parallelen geben. Vielleicht kennst du ihn ja. Linthdorf heißt er ...«

»Ja, kenn’ ich. Guter Mann, kennt sich aus im Lande und ist nicht so überkandidelt. Er war damals schon mit bei, als hier das Familiendrama mit den vielen Toten war. Aber das war ja lange vor deiner Zeit. Bin ich ein bisschen beruhigt, wenn der kommt. Dann wird es nicht ganz so hektisch zugehen.«

Dankbar lächelte Louise Stahlmann an. Ein wenig war ihr schon das Herz in die Hose gerutscht. Der Umgang mit Kollegen aus dem LKA war ihr nicht so geläufig. Sie wusste um die unterschwelligen Animositäten bei Kompetenzstreitigkeiten und Zuständigkeiten.

»Na ja, und wenn du noch dabei bist, kann ja nüscht mehr schiefgehn. Wir packen das schon ... Irgendwie.« Herzhaft biss sie in ihr Käsebrötchen und nahm einen großen Schluck Kaffee.

Ein Artikel im »Märkischen Kurier«

vom 9. Februar 2006


Nixenmörder in Brandenburg - Ominöse Frauenleichen in Brandenburgs Flüssen entdeckt

Bereits im Januar hatte die hiesige Polizei in der Oder eine ungewöhnliche Frauenleiche entdeckt. Die stark entstellte Leiche einer jungen Frau wies unzählige Spuren roher Gewalteinwirkung auf.

Ihre Identität konnte bisher immer noch nicht zweifelsfrei geklärt werden. Wir erfuhren aus gut unterrichteten Kreisen, dass die Ermittlungen bisher im Sande verliefen. Erneut fand die Polizei eine Frauenleiche im Februar. Diesmal in der Havel. Wiederum war mit roher Gewalt auf die Frau eingewirkt worden.

Beide Frauen waren beim Auffinden nackt! Dadurch war es bisher sehr schwierig, die Identität der Frauen zu klären. Die merkwürdigen Übereinstimmungen lassen nur eine Vermutung zu: Beide Frauen wurden von ein und demselben Täter getötet! Sobald wir näheres über die beiden toten »Nixen« wissen, werden wir weiter berichten.

Brandenburg/Havel

Freitag, 10. Februar 2006

Freitag früh klingelte zu Hause bei Louise Elverdink schon um sechs Uhr das Telefon. Noch etwas schlaftrunken griff sie den Hörer. Sie ahnte, dass der Tag Stress mit sich bringen würde. Stahlmann meldete sich. Der Bericht von der Gerichtsmedizin sei fertig, ob eine Abschrift per Email schon mal vorab geschickt werden soll? Sie war schlagartig hellwach.

Ja, natürlich, am besten mailen so dass sie den Bericht gleich am Schreibtisch habe und ausdrucken könne. Innerhalb von zehn Minuten war sie schon unterwegs. Frühstück für Bastian stand bereit, dazu ein Zettel: Bin schon auf Arbeit. Schönen Tag noch!

In der Dienststelle war noch Ruhe. Nur die Nachtbereitschaft war in der Kantine beim Kaffee versammelt. Sie fuhr den Computer hoch, schaute in ihr Postfach. Tatsächlich war ein Posteingang verzeichnet. Im Anhang noch eine Vielzahl von Fotos, allesamt von der Toten aus der Havel. Der Text war anstrengend zu lesen. Sie musste ihr gesamtes medizinisches Grundwissen aktivieren, um halbwegs zu verstehen, was da bis ins kleinste Detail beschrieben wurde.

Todesursache war ein Genickbruch, zugefügt, bevor die Frau ins Wasser gebracht worden war. Ebenfalls waren viele innere Verletzungen festgestellt worden, unter anderem ein Milzriss, zwei Rippenbrüche, wobei eine Rippe in den linken Lungenflügel eingedrungen war, und eine starke Schwellung der Leber, die auch auf äußere Gewalteinwirkung zurückzuführen war.

Sie hatte extreme Schmerzen erdulden müssen, bevor ihr das Genick gebrochen worden war. Rohe Gewalt also, zugefügt von einem außer Rand und Band geratenen Täter, der aber dennoch die Kontrolle über das ganze Geschehen behalten hatte.

Spuren des Täters waren auf der Leiche nicht mehr nachweisbar. Ob sie sich gewehrt hatte, konnte der untersuchende Gerichtsmediziner nicht mehr erkennen. Weder wurden unter den Fingernägeln Hautpartikel gefunden, noch gab es Kratzspuren am Körper der Leiche, die vielleicht auf einen Kampf schließen ließen.

Der Tathergang war daher auch nur schwer nachvollziehbar. Im Magen der Toten waren Reste von Fast Food gefunden worden, alles noch ziemlich unverdaut. Das bedeutete, dass sie kurz vor ihrem Tod noch irgendwo Pommes Frites mit Currywurst gegessen hatte.

Ebenfalls hatte man im Blut der Toten eine große Menge Alkohol nachgewiesen. Sie musste demnach sternhagelvoll gewesen sein, als sie auf ihren Peiniger traf. Der Gerichtsmediziner ging von einem Wert von 2,25 Promille aus. Das war für eine Frau dieser Größe schon eine ziemliche Menge. Inwieweit sie damit noch aufrecht stehen konnte, sei Spekulation.

Geschlechtsverkehr hatte nicht stattgefunden. Es waren keinerlei Spermaspuren im Vaginalbereich entdeckt worden. Also ein klassisches Vergewaltigungsdelikt schien nicht vorzuliegen.

Etwas geschockt lehnte sich Louise zurück. Soviel Gewalt, so nüchtern beschrieben, da musste sie erst einmal tief durchatmen. Das war schon eine ganz andere Dimension als die Keilereien zwischen Jugendlichen oder innerfamiliäre Handgreiflichkeiten.

Die Fotos zeigten in ungewohnter Schärfe die lädierten inneren Organe. Das gebrochene Genick war ebenfalls fotografiert worden. Als Kommentar war ein kurzer Text beigefügt. Die Krafteinwirkung sei durch eine extreme Verdrehung des Kopfes erfolgt. Wieder musste sie schlucken, spürte fast am eigenen Körper diese brutale Gewalt, griff sich instinktiv in den Nacken, nur um sich zu vergewissern, dass alles noch in Ordnung war. Daher die etwas ungewöhnliche Lage der Toten im Wasser. Ihr Genick war gebrochen, so dass der Körper keinen Widerstand mehr bot.

Der Alltag in der Dienststelle hatte inzwischen begonnen. Geschäftig liefen Kollegen in Uniform auf den Gängen des altehrwürdigen Gebäudes herum, die Telefone schrillten, es wurde laut gesprochen, diskutiert, gerufen. Der Lärm drang durch die Glastür ins Büro. Irgendwie beruhigend in diesem Moment.

Die Beklemmung, die sie befallen hatte während des Studiums des Berichts, verließ nach und nach ihren Körper. Sie konnte wieder klar und nüchtern denken.

Stahlmann war zu ihr ins Büro gekommen. Sie winkte ihn gleich heran, zeigte ihm den Bericht. Auch Stahlmann fasste sich instinktiv in den Nacken und zog bedenklich seine Augenbrauen hoch. So viel Gewalt hatte er nicht erwartet. Wer dieser Frau so etwas angetan hatte, musste eine Bestie sein, jenseits aller menschlichen Schranken. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, wenn er daran dachte, dass dieser Typ draußen herumlief, bereit zu weiteren Gewaltorgien.

»Das sieht gar nicht gut aus. Kann ein Psychopath sein, kann eine Abrechnung im Prostituiertenmilieu sein, kann auch etwas mit Menschenschmuggel zu tun haben, da soll es solche Berufskiller geben, die mit sadistischer Ader ihre Opfer quälen.«

»Wissen wir inzwischen etwas über die Herkunft der Toten?«

»Nichts, absolut nichts. Ich habe gestern noch bis spät nachts alle Dateien mit Vermissten bundesweit durchforstet. Anfragen an die osteuropäischen Polizeidienststellen sind ebenfalls schon verschickt worden. Kann ja sein, dass es sich um eine Illegale aus der Ukraine oder sonst woher handelt. Bisher noch keine Rückmeldungen.«

»Hatte sie irgendwelche Merkmale, die eine Recherche in Krankenhäusern lohnen würde? Zahnstatus, Operationsnarben, Schönheitsmakel, was weiß ich ...«

»Nein, nichts. Außer zwei uralten Inlays an den Zähnen ein makelloses Gebiss. Ein Alabasterkörper wie aus der Antike. Rein weiß, ohne irgendwelche Auffälligkeiten.«

 

»Na denn, da warten wir mal auf den Superdetektiv vom LKA. Mal sehn, was der so rausbekommt.«

Das Telefon schrillte. Am anderen Ende war Haberer. »Können Sie mal zu mir kommen? Ach ja, ehhm, bringen Sie doch, ehhm, die Unterlagen zu der ominösen Toten aus der Havel mit.«

Den frisch ausgedruckten Bericht der Gerichtsmedizin heftete sie der Mappe noch bei und machte sich auf den Weg. Stahlmann winkte ihr noch kurz zu.

»Viel Glück.«

Im Büro von Haberer stand ein Riese. Instinktiv wich sie erst einmal zurück, als sie eintrat. Haberer lächelte etwas hintergründig. »Darf ich Ihnen vorstellen. Das ist meine leitende Ermittlerin bei dieser, ehhm, Toten aus der Havel, Hauptkommissarin Louise Elverdink. Auch noch nicht so lange hier bei uns, aber äußerst tüchtig, ehhm, ja, vielleicht einen Kaffee? Ehhm, ja, also, ach so, und das ist Hauptkommissar Theo Linthdorf aus Potsdam vom LKA, ja, ehhm, setzen wir uns doch.«

Auf dem blankpolierten Tisch standen eine Thermoskanne und drei Tassen; ein Schälchen mit Sahnenäpfchen und ein Schälchen mit Würfelzucker waren sauber ausgerichtet neben der Kanne aufgestellt. Haberer fing gleich an, geschäftig Tassen auszuteilen und Kaffee auszuschenken. Schließlich waren solche Tötungsdelikte auch für ihn keine Alltäglichkeit. Der Riese nahm Platz, es wurde wieder etwas heller im Zimmer und Louise verlor die Scheu vor dem Mann aus Potsdam. Linthdorf zog aus seiner schwarzen Aktentasche eine große Mappe hervor.

Er lächelte kurz und kam gleich zur Sache. »Sie haben sicherlich schon eine Vorstellung, warum gerade ich mich hier bei Ihnen melde. Es gab vor knapp fünf Wochen schon ein Tötungsdelikt mit ähnlichen Merkmalen wie jetzt hier bei Ihnen.

Die Unterlagen habe ich mitgebracht, Kopien mit den Ermittlungsergebnissen sind beigefügt, so dass jeder ein Exemplar bekommen kann. Unser Ansatz hatte bisher einen Totschlag im Affekt als Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Aber wenn ich mir die Parallelen zu dem jetzigen Fall betrachte, können wir inzwischen davon ausgehen, dass es wohl eindeutig Mord war.

Das schränkt den Täterkreis ein. Es sieht ganz so aus, als ob ein psychopathisch veranlagter Täter durchs Land zieht und zuschlägt. Mögliche Berufsgruppen für so etwas können alle mobilen Tätigkeiten sein, angefangen vom Fernfahrer bis hin zum Versicherungsvertreter. In beiden Fällen wurde die Leiche ausgezogen in einem Fluss gefunden.

Vielleicht war es auch ein Binnenschiffer?«

Linthdorf machte eine kleine Pause, sah auf den Gesichtern von Haberer und seiner Ermittlerin Erstaunen und Verwirrung sich breitmachen. Er war zu schnell vorgeprescht. Klar, über die Vorgänge an der Oder wussten die beiden de facto nichts. Er lächelte versöhnlich und klappte die Mappe auf. Haberer räusperte sich und wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, da kam Louise ihm schon zuvor:

»Lieber Herr Kollege, da haben Sie aber gleich uns etwas zu viel serviert. Zu dem Fall mit der Toten aus der Oder wissen wir hier bisher noch gar nichts. Da wäre es doch einfach mal ganz nett, wenn Sie mal kurz schildern würden, wie der gegenwärtige Ermittlungsstand ist.«

Haberer nickte zustimmend und schlürfte seinen Kaffee. Linthdorf blickte sein Gegenüber an. Ihm war die dunkelhaarige Frau eigentlich sympathisch. Sie blickte ihn offen und kritisch musternd an. Sie hatte sich ihn total anders vorgestellt, eigentlich eher einen glatten, gesichtslosen Karrieristen erwartet und nicht so ein Ungetüm von Mann. Linthdorf schilderte kurz und knapp den Stand der Ermittlungen zur Toten aus der Oder.

Haberer und Louise Elverdink lauschten zunehmend intensiver den Ausführungen über den ungewöhnlichen Fund in der eisschollenbedeckten Oder, sahen mit einem gewissen Schauder auf die Fotos der Frauenleiche und schwiegen dann etwas betreten.

Nach einem kurzen Räuspern meldete sich Haberer zu Wort.

»Nun ja, eine gewisse Korrelation scheint ja gegeben zu sein. Schon ungewöhnlich, ehhm, ja, also, ich denke, wir sollten die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass es sich hierbei, ehhm, um einen Zusammenhang zwischen beiden Todesfällen handeln könnte.«

Linthdorf blätterte in der Mappe mit der Haveltoten. Sein Blick blieb lange auf dem Foto mit der rothaarigen Nixe, die aus den weit aufgerissenen Augen ins Leere starrte, hängen. Irgendwoher kam ihm das Gesicht bekannt vor. Aber im Moment konnte er es nicht zuordnen.

»Können wir den Fundort der Leiche noch einmal besichtigen?«

Louise nickte kurz.

»Klar, machen wir gleich im Anschluss.«

Sie rührte nun schon das dritte Stück Würfelzucker in ihren Kaffee, immer ein Zeichen für eine besondere nervöse Anspannung, die sie nach außen jedoch gut zu verbergen wusste. Haberer nickte ihr kurz zu.

»Na denn mal los, Frau Elverdink. Zeigen Sie mal unserem Gast die Gegend.« Er lächelte dabei etwas verschmitzt und schlürfte genüsslich seinen Kaffee aus.

Die stumme Nixe


Ein junger Baron war bei der Jagd vom Wege abgekommen und in den tückischen Sümpfen des Havelländischen Luchs stecken geblieben. Je intensiver er versuchte, sich zu befreien, desto tiefer geriet er ins Sumpfwasser. Schließlich musste er schon sein Pferd aufgeben und kämpfte ums nackte Leben. Doch nichts half, der Sumpf zog ihn immer tiefer hinab. Auf dem Grunde des Sumpfes lebte eine wunderschöne rothaarige Nixe.

Sie sah den jungen Baron zu sich herabsinken und es dauerte sie gar sehr um ihn. Sie schwamm zu ihrer Mutter, einer bösen Wasserhexe. Die riet ihr ab, sich um die Rettung des Menschen zu kümmern. Menschen hätten für Nixen nicht viel übrig, speziell wegen ihres Fischleibs. Die junge Nixe schaute an sich herab und fing an zu weinen. Natürlich würde ein Mensch mit einem Fischwesen wenig anzufangen wissen. Sie bettelte ihre Mutter an, ihr zu helfen. Die willigte irgendwann widerwillig ein. Einen großen Zauber wüsste sie, der ihren Fischleib aufspalten würde und zu Menschenbeinen formen könne. Aber der Zauber sei riskant. Sie dürfe ein ganzes Jahr lang kein Wort sprechen, sonst würde er sofort ungültig werden und sie müsse wieder zurück zum Grunde ihres Sumpfes. Freudig willigte sie ein.

Die Wasserhexe gab ihr einen eklig riechenden Trank, den sie trinken solle. Sie tat’s und unter großem Schmerz begann sich ihr Fischleib zu teilen und zwei wunderschöne Menschenbeine entstanden dafür. Jeder Schritt mit diesen neuen Beinen tat höllisch weh, doch tapfer ertrug sie es.

Sie brachte den jungen Baron zurück ans feste Land, hauchte ihm wieder den Lebensgeist ein, der ihn gerade verlassen wollte und setzte sich neben ihn. Der Baron schlug justament seine Augen auf, erblickte die wunderschöne rothaarige Frau neben sich, konnte es kaum glauben, gerettet zu sein und dankte seiner Retterin überschwänglich.

Doch die Nixe schwieg bescheiden, lächelte ihn nur an. Der junge Baron nahm sie mit zu seines Vaters Schloss, kleidete sie ein und verliebte sich Hals über Kopf in die stumme Schöne. Die Leute bei Hofe, üblicherweise Bedenkenträger, beobachteten mit Sorge diese Entwicklung.

Der junge Baron war zu Höherem bestimmt, als zu einer Hochzeit mit einer Unbekannten, die dazu noch stumm war. Also intrigierte man bei Hofe gegen die Liaison. Die Zeit verging, das Aufgebot war schon bestellt, denn der junge Baron wehrte sich tapfer gegen alle Anfeindungen und hielt treu zu seiner schönen Retterin.

Diese führte ein hartes Leben bei Hofe. Das Laufen fiel ihr schwer, die menschliche Kost behagte ihr ebenfalls nicht sonderlich und das stetige Atmen von Luft tat ihr auch nicht gut. Sie verhärmte zusehends, ihr sonst so glänzendes rotes Haar ward stumpf und die Haut, die sonst rosig zart schimmerte, bekam einen bläulichen Farbton. Allen bei Hofe fielen diese Veränderungen auf, nur der junge Baron ignorierte sie.

Der alte Baron, ein grundskeptischer Mensch, ermahnte seinen Sohn, seine Entscheidung doch noch mal zu überdenken, er wisse doch gar nicht, wie denn seine Braut heiße, und das wäre doch das mindeste, was man von seiner späteren Gattin wissen sollte. Wieder und wieder drang er in seinen Sohn damit ein.

Schließlich, am Vorabend der Hochzeit, fasste sich der junge Baron ein Herz und sprach auf seine stumme Braut ein: »So sag mir doch wenigstens deinen Namen. Wie soll ich dich denn nennen? Du machst es mir so schwer! Ich kann dich sonst nicht heiraten, wenn ich deinen Namen nicht kenne ...«

Verzweifelt rannte er aus dem Zimmer. Die Not der Nixe war groß, was sollte sie nur tun. Stumm flossen ihr die Tränen, die am Boden angekommen zu Perlen wurden. Sie fasste sich ein Herz und ging zu ihrem Angebeteten, schaute ihm tief in die Augen und schüttelte nur stumm den Kopf.

In einer Welle von plötzlich aufkommendem Jähzorn stieß dieser sie jedoch von sich: »Dann scher dich doch von mir aus zum Teufel!«. Die arme Nixe brach ohnmächtig zusammen und blieb reglos liegen.

Der junge Baron sah, was er angerichtet hatte, beugte sich hinab zu ihr, um sie auf sein Bett zu legen. Es reute ihn schon sehr, solch harte Worte ihr gesagt zu haben. Die Nixe schlug kurz vor Mitternacht noch einmal kurz die Augen auf, flüsterte mit fast unhörbarer Stimme einen Namen und löste sich flugs in eine große Wasserlache auf. Alle, die rund um ihr Bett versammelt waren, erschraken nicht schlecht und beglückwünschten den jungen Baron, einem solchen Zauber nicht aufgesessen zu haben.

Doch dieser ward von Stund an ein gebrochener Mann, der kurze Zeit später an Trostlosigkeit verstarb. Die Nixe jedoch kehrte zurück auf den Grund des Sumpfes und ließ die Menschen, die in den Sumpf gerieten, darin umkommen.

Wieder am »Alten Fährhaus« in Plaue

Freitagnachmittag, 10. Februar 2006


Louise Elverdink hatte die Führung übernommen und steuerte ihren Polo quer durch die Straßen der Altstadt. Linthdorf saß neben ihr etwas unglücklich zusammengefaltet. Seine langen Knochen hatten in dem Polo nicht wirklich Platz. Den Sitz hatte er schon bis an den Anschlagpunkt zurückgeschoben, aber es nützte nichts. Die Knie stießen an das Armaturenbrett, den Kopf musste er schief legen, um nicht das Wagendach zu durchstoßen.

Louise beobachtete etwas belustigt ihren Beifahrer. Sie war ja auch nicht gerade die kleinste, aber was da neben ihr saß, war einfach vier bis fünf Nummern zu groß für dieses Auto.

»Was für ein Auto fahren Sie?«, fragte sie mit einem Blick auf die langen Beine ihres Begleiters.

»Nen alten Daimler, der hat genug Platz«, lächelte Linthdorf etwas verlegen. Immer noch wurde man hierzulande kategorisiert nach dem Auto, das man fuhr. Daimlerfahrer wurden als reiche Knauser eingeordnet, eine Gruppe, mit der Linthdorf allerdings wenig zu tun haben wollte.

Er legte deshalb stets Wert darauf, zu betonen, dass sein Daimler schon uralt war und damit jenseits der typischen Daimlerbesitzer angesiedelt war. Entschuldigend verwies er stets auf seine langen Knochen, die eben nun mal eine bestimmte Fahrzeuggröße benötigten.

»Okay, bei der nächsten Tour nehmen wir Ihr Auto.«

Linthdorf nickte nur angestrengt. Erste Druckstellen an den Knien begannen unangenehm zu schmerzen, auch ein Krampf im Oberschenkel machte sich bemerkbar. Die Fahrt über das etwas buckelige Pflaster der Altstadt war alles andere als angenehm. Der Polo wurde durchgeschüttelt und die Stöße konnte Linthdorf nur wenig abfedern.

Louise bemerkte die Qualen ihres Mitfahrers und schaltete einen Gang herunter, um so etwas gemächlicher über die Unebenheiten der Straßen zu rollen.

»Die Straßen von Brandenburg sind gewöhnungsbedürftig. Aber nach und nach werden sie ausgebessert und erneuert. In der Neustadt sind fast alle Straßen neu gemacht worden.«

Linthdorf nickte stumm, konzentrierte sich auf die Schlaglöcher, die in immer kürzeren Abständen aufzutauchen schienen. Endlich waren sie aus dem innerstädtischen Labyrinth heraus, die Straßen wurden breiter und glatter. Natur erschien am Wegesrand. Kahle Bäume, dann wieder Weidenruten stachen wie überdimensionale Urzeitigel in den grauen Himmel. Ein feiner Nieselregen perlte an den Fensterscheiben herab.

 

Der Wagen bog auf eine einspurige Straße Richtung Plaue ab. Nach fünf Minuten kurvenreicher Fahrt tauchte das »Fährhaus« auf. Linthdorf quälte sich mühsam aus dem Wagen, froh darüber, dem engen Gehäuse entkommen zu sein.

Das »Fährhaus« war ein zweistöckiger Fachwerkbau mit einer angebauten Terrasse und einem einstöckigen Saalbau direkt daneben. Drei große Linden standen in dem kleinen Terrassengarten. Jetzt waren sie noch ganz kahl. Gartenstühle und Klapptische waren angekettet am Zaun, wohl für die Sommergäste gedacht.

Etwas abschüssig ging ein kleiner Weg hinunter zum Fluss. Das Ufer der Havel war gesäumt von vielen Büschen und Weiden. Nur hier am »Fährhaus« war ein freier Blick auf die Havel möglich. Eine große Wiese breitete sich vom Terrassengarten bis zum Ufer aus. Kleine Laternen waren am Rand aufgestellt. Dazwischen waren bunte Glühlampenketten gespannt. Eine dicke schwarze Katze saß auf den Treppenstufen zum Eingang. Alles machte einen etwas verlassenen Eindruck. Still war es, keine Menschenseele zu sehen.

Louise ging mit resoluten Schritten zum Eingang und klingelte. Die Katze räkelte sich und tapste langsam die Treppe hinunter, fühlte sich gestört von der fremden Frau. Linthdorf ging um das »Fährhaus« herum und lief hinunter zum Fluss. Endlich öffnete sich die Tür, eine etwas missmutig aussehende Mitfünfzigerin in Kittelschürze und Jogginghosen stand vor der Polizistin und schaute sie fragend an.

Die hatte bereits ihren Ausweis griffbereit.

»Schönen Guten Tag, Hauptkommissar Elverdink von der Kripo Brandenburg. Sie wissen, weshalb ich hier bin?« Die Wirtsfrau strich sich eine störrische Strähne aus dem Gesicht, nickte und ließ sie herein.

Linthdorf kam hinzu, die Wirtin erschrak über den Riesen im schwarzen Mantel und schaute fragend zu Louise. »Ach so, das ist mein Kollege, Hauptkommissar Linthdorf vom Landeskriminalamt in Potsdam. Er arbeitet mit mir zusammen an der Aufklärung des Todesfalles.«

Linthdorf zog den Kopf ein und trat in den langen, dunklen Flur. Die Wirtin ging voran, führte die beiden Polizisten zum Restaurant.

»Wir haben heute Ruhetag«, war ihr erster Satz an die beiden. Dabei schaute sie so vorwurfsvoll, als ob sie inmitten einer wichtigen Arbeit gestört worden war. Louise sah den Blick sehr wohl, ließ sich jedoch nichts anmerken.

»Wir sind noch einmal wegen der nächtlichen Ereignisse vom Rosenmontag hier. Sie waren den ganzen Tag hier im Hause?«

»Ja, natürlich, wo soll ich denn sonst gewesen sein? Hab alle Hände voll zu tun jehabt mit der Feier.«

»Sind Ihnen an dem Wochenende Leute aufgefallen, die Ihnen fremd waren?«

»Ach, da kommen imma wieda Gäste rin, die keena kennt. Am Sonntag war tagsüber nich ville los. War ja auch kein Wetta. Den janzen Tag Eisnebel. Da jeht niemand weg, der nich muss. Um die Mittachszeit waren ein paar Familjen zum Essen hier. Am frühen Nachmittach kamen noch n paar Kaffeejäste und det wars.«

»Aber aufgefallen sind Ihnen keine von diesen Gästen?«

»Nö, nur von den Nachmittachsjästen hatten zweie etwas Pech. Die hatten n kleenen Unfall mit nem Auto. Die waren noch ziemlich uffjeregt. Zwei ältere Damen, die sind öfters ma hier zu Gast. Irgend so ein Rowdy in so ner schwarzen Nobelkarosse, so ne Art Jeländewagen, kam ihnen entjejen und streifte sie hier beim Überholen. Die Straße is ja nich für zwei Spuren ausjelegt und wenns da Jejenverkehr jibt, na da muss einer eben aufn Rasen ausweichen. Aba der is stur auf der Straße jeblieben. Die beiden Damen waren janz verstört. Konnten sich nur mit nem beherzten Ausweichmanöver retten. Aber jestriffen worden sind se trotzdem.«

»Kennen Sie die Namen der beiden Frauen?«

»Ja, ick weiß nich so richtig, ob ick ..., aba na jut, Sie sind die Polizei. Also det sind Minna Quittenburg und Alice Krapp. Wohnen beide in Plaue. Den Rest müssen se selba rauskriejen.«

Louise nickte nur stumm, Linthdorf zog seine Augenbrauen hoch. Er blätterte in seinen Notizen. »Kann ich noch ein paar Daten mit Ihnen abgleichen?«

Verwundert sah die Wirtsfrau ihn an. »Det ham doch die Kollejen in der Nacht schon jetan.«

»Keine Sorge. Es sind nur ein paar Standardfragen.«

Linthdorf lächelte für einen kurzen Moment.

»Wie lange haben Sie denn schon das Fährhaus in Bewirtschaftung?«

»Det is n Familjenbetrieb, schon seit drei Jenerationen. Wir, also mein Mann und ick, sind jetzt die dritte Jeneration in Folje hier. Bis 1977 hatten es meine Schwiejaeltern in Besitz, die sind dann in Rente jegangen. Wir ham nach die Wende allet wieda zurückjekooft von die HO und modernisiert. Ville Jeld rinjesteckt, nen Kredit uffjenommen zum Umbau und jerackert bis zum Umfallen. Vorher war et ne HO-Jaststätte. Un davor war et nen echtet Fährhaus, wo noch ne Fähre üba die Havel jing, bis die neue Brücke jebaut wurde. Die Großeltern von meinem Mann waren damals noch Fährleute. Hier könnense sehn auf die alten Fotos. Det war die »Havelprinzessin«, erbaut 1894, außer Dienst jestellt 1956. Nachdem die Fähre wech wa, mussten se ja wat anderet machen, un da war die Idee mit dem Ausflugslokal.«

Linthdorf lauschte dem Bericht der Wirtin. »Im Sommer kann man doch hier baden?«

»Na ja, seit die Havel wieda sauba is, schon. Zu Ostzeiten jabs imma‘n paar Varückte, die rinjesprungen sin, aba so richtig baden is erst wieda seit vier Jahren.«

»Von Eisbadern haben Sie schon mal was gehört? Leute, die auch im Winter ins Wasser gehen, so als Abhärtung ...«

»Ja, jibts hier auch, der Havelnixenclub in Kirchmöser. Die baden aba nich in der Havel, die fahrn meist raus an den Beetzsee oder wo imma sone Treffen sind. Die kommen zum Feian öfters mal hier zu uns. Lustiges Völkchen ... Aba, wenn se glooben, dass die Tote ne Eisbaderin war, nee, det gloob ick nich, die hab ick noch nie bei jesehn. Un so wie det aussah, nee, die jehört nich hierher. So ne Frau wär‘ uns uffjefalln, mit die rote Wallemähne, was die hatte.«

»Können Sie uns noch mitteilen, wann Ihr Mann wieder zurück sein wird?«

Die Wirtsfrau stutzte.

»Eijentlich sollte er schon hier sein. Is schon nach fünfe. Wer weiß, was ihn aufjehalten hat.«

Linthdorf holte ein Visitenkärtchen aus seinem Jackett, gab es der Wirtin und bedankte sich für die Auskünfte. »Ach ja, falls Ihnen oder Ihrem Mann noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich doch an!«

Mit einem verbindlichen Lächeln verabschiedete er sich. Louise Elverdink folgte ihm etwas verdutzt. Ganz unmerklich hatte Linthdorf die Führung übernommen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Und überhaupt, was für eigenartige Fragen hatte der Ermittler aus Potsdam gestellt. Ziemlich belanglos und zusammenhanglos fand sie. Draußen an der frischen Luft machte sie sich unüberhörbar bemerkbar.

»Also, das sind ja eigenartige Ermittlungsmethoden, die Sie haben. Wieso interessieren Sie sich denn so für die Familie der Fährhauswirtin?«

Linthdorf grinste etwas spitzbübisch. »Ach, wissen Sie, Frau Kollegin, man muss manchmal auch Seitenwege beschreiten, um ans Ziel zu kommen.«

Brandenburg/Havel

Montag, 13. Februar 2006

Etwas übermüdet saß Louise Elverdink an diesem tristen Morgen an ihrem Schreibtisch. Zuviel war liegen geblieben in den letzten paar Tagen. Sie sehnte sich nach der Routinearbeit des Januars. Alles lief da so harmonisch und überschaubar, kein Stress wegen irgendwelcher Termine, kein Ärger mit dem Chef.

Seit dem Leichenfund in der Havel überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Die ganze Dienststelle war etwas aus den Fugen geraten. Das Telefon stand nicht mehr still, und so oft wie in den letzten Tagen war sie noch nie zu Beratungen beim Chef. Dazu noch der Mann vom LKA. Mein Gott, war der kompliziert.

Am Freitagabend auf der Rückfahrt vom »Alten Fährhaus« diskutierte er ohne Unterbrechung über alle möglichen Optionen und damit verbundene Ermittlungen. Eine Liste, schnell auf einem Notizzettel erstellt, wurde ihr noch überreicht.

Da solle sie mal anfangen, die Punkte abzuarbeiten. Selbstverständlich werde er sie unterstützen, wo es nur ginge. Ein kurzer Blick auf den Zettel reichte aus: Arbeit für die gesamte Abteilung, Recherchen in diversen Datenbänken, aufwändige Ermittlungsarbeit durch Befragungen, eben Arbeit im Ausschlussverfahren.

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