Nixentod

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Ich glaube, da bist du auch nicht so sehr betrübt darüber, wenn wir da weitermachen.« Linthdorf schaute Voßwinkel direkt an.

Der nickte erleichtert. Es gab genug unangenehme Dinge zu tun. Er blätterte etwas zerstreut in seinem Notizbuch herum, blickte schließlich hoch und fragte Linthdorf: »Haste noch Zeit für nen Kaffee?« Die Beiden trotteten einträchtig nebeneinander den langen Gang entlang Richtung Kantine.

Es war ein eigenartiges Bild, so dass sich viele nach ihnen umdrehten. Linthdorf war es gewöhnt, dass er für Aufsehen sorgte dank seiner körperlichen Präsenz, für Voßwinkel jedoch war der Zustand ungewohnt. »Mein Gott, ermitteln mit dir zusammen stelle ich mir auch lustig vor.«

Potsdam

Mittwoch, 1. Februar 2006

Am Mittwoch wartete in seinem Dienstzimmer bereits ein Stapel Faxe auf ihn. Es waren die Rückmeldungen zu den Anfragen über die psychedelischen Buchtitel, die er aus dem Antiquariat mitgenommen hatte. Alles wie er befürchtet hatte, weder literarisch wertvoll noch sonst wie brauchbar. Leere Floskeln mit Allerweltsweisheiten.

Es gab inzwischen auch ein paar brauchbare Fotos der entstellten Frau aus dem Eis. Damit ließ sich schon etwas mehr anfangen. Er stellte das Material zusammen zu einem Rundschreiben, welches an alle Polizeidienststellen in Brandenburg und Berlin gehen sollte.

Ebenfalls hatte er ein Amtshilfeersuchen an die Berliner Kripo verfasst. So hoffte er, etwas mehr über die letzten Tage der Toten herauszubekommen.

Die Ermittlungen in Berlin konnte er nicht einfach so fortführen. Immerhin war Berlin ja ein anderes Bundesland mit anderen Zuständigkeiten. Als Brandenburger LKA-Mitarbeiter hatte Linthdorf für Ermittlungen in der großen Nachbarstadt von Potsdam jedes Mal eine spezielle Genehmigung zu beantragen. Das war lästig, da oftmals die Wege der Verdächtigen dorthin führten.

Die scherten sich wenig um fiktive Verwaltungsgrenzen. Es gab diverse Vordrucke im LKA, die nur ausgefüllt zu werden brauchten. Aber irgendwie waren diese nervigen Bürokratiehemmnisse für ihn ein Grund zu grollen. Längst hätte man die Arbeit der beiden Landespolizeien zusammenlegen können.

Die Geschwister der Brakel hatte er inzwischen auch benachrichtigt. Diese Augenblicke waren besonders nervend. Irgendwie musste er sich jedes Mal zusammenreißen, wenn er den Angehörigen den unerwarteten und gewaltsamen Tod eines ihnen nahestehenden Menschen mitzuteilen hatte. Es gab auch keine Routine bei solchen Momenten, jedes Mal reagierten die Menschen anders auf die Nachricht.

Linthdorf wünschte sich für diese Gespräche eigentlich eine etwas bessere psychologische Schulung. Aber erstaunlicherweise wurde er mit solchen Begegnungen ziemlich allein gelassen. Mit ein paar seiner engeren Mitarbeiter hatte er sich schon des Öfteren darüber unterhalten, wie man es am besten den Angehörigen beibrachte. Voßwinkel war der Meinung, dass es immer am besten sei, nicht lange um den heißen Brei herum zu reden, sondern direkt und in klaren Sätzen zur Sache zu kommen. Das hatte er inzwischen auch als die gangbarste Methode akzeptiert.

Die Schwestern reagierten erstaunlich gefasst auf die Nachricht. Sie waren mehr daran interessiert, wo ihre Mutter abgeblieben war. Linthdorf glaubte aus den kurzen Telefongesprächen herauszuhören, dass die vier Schwestern zu ihrer in Berlin lebenden jüngsten Schwester ein eher angespanntes Verhältnis hatten. Er bat sie allesamt nach Berlin, um die Leiche zu identifizieren und sich um die Formalitäten zur Beerdigung zu kümmern. Bei der Gelegenheit wollte er sie auch noch einmal zum Vorleben ihrer Schwester befragen.

Auch das Ausbleiben der Mutter nahm immer mysteriösere Züge an. Linthdorf war inzwischen überzeugt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem gewaltsamen Tod in der Oder, dem Verschwinden der Mutter und des Lebenspartners der Brakel gab. Vielleicht könnten die Geschwister da etwas Licht hineinbringen.

Der Tag plätscherte mit wenig befriedigenden Arbeiten weiter dahin.

Am späten Nachmittag traf sich Linthdorf noch mit seinem Chef. Der wollte natürlich auch Ergebnisse sehen. Kriminaloberrat Dr. Nägelein war ein pedantischer Mensch, stets korrekt im grauen Anzug und dezenter Krawatte auftretend. Ein exakt gezogener Seitenscheitel verlieh ihm ein ausgesprochen strenges Aussehen, vergleichbar mit den UFA-Stars in den alten Schwarz-Weiß-Filmen aus den dreißiger Jahren. Ähnlich war auch seine Sprache.

So etwas von emotionslos schnarrend und hölzern, als ob er Dienstanweisungen auswendig gelernt hatte. Linthdorf versuchte sich Nägelein als Privatmenschen vorzustellen. Es gelang nicht. Er blieb ein Mann ohne Eigenschaften.

Draußen am Wannsee sollte er mit Familie eine nette Villa besitzen. Keiner der Mitarbeiter hatte jemals ein Familienmitglied zu Gesicht bekommen und auch um die Villa rankten sich inzwischen zahlreiche Gerüchte, da die Anschrift von Nägelein bewusst verheimlicht wurde. Das Treffen mit ihm fiel dementsprechend wieder sehr unterkühlt aus.

Es dauerte nur knapp zehn Minuten. Linthdorf konnte sich glücklich schätzen, dass er immerhin so viel Zeit für die »Audienz« bekam. Nägelein hob nur einmal kurz die linke Augenbraue, als Linthdorf ihm von dem Erfolg bei der Klärung der Identität berichtete. Diese Regung war als Lob aufzufassen.

Mit schleppender Stimme wies Nägelein noch mal darauf hin, bei den Ermittlungen in Berlin doch bitte die Dienstwege einzuhalten und nicht auf eigene Faust zu ermitteln, man lebe ja schließlich in einem zivilisierten Lande und nicht im rechtsfreien Raum.

Als rechtsfreien Raum titulierte Nägelein immer die alte DDR. Damals, als er seinen Dienst im neugeschaffenen Land Brandenburg antrat, rümpfte er über die heimischen Mitarbeiter nur die Nase und teilte ihnen bei seiner Antrittsrede mit, dass die Zustände in dem rechtsfreien Raum nun ein Ende haben sollten und dass sich doch alle, die hier noch weiterarbeiten wollten, sich entsprechend mit den Gesetzen der Bundesrepublik anfreunden sollten. Nach und nach dünnte er den alten Personalstamm aus, so dass nur noch ein kläglicher Rest ehemaliger Ostdeutscher übrigblieb.

Linthdorf war einer dieser letzten Mohikaner. Er hatte das ungute Gefühl, dass auch er zu den hier noch zu entfernenden Leuten gehörte. Allerdings konnte Nägelein auf ihn nur schwer verzichten. Das über viele Jahre aufgebaute Netzwerk von Verbindungen und die Ortskenntnisse Linthdorfs, der wahrscheinlich ganz Brandenburg als Landkarte im Kopf gespeichert hatte, machten ihn für die Arbeit unentbehrlich.

Linthdorf schaute etwas irritiert an Nägelein vorbei. Etwas Ungewöhnliches befand sich hier im Dienstzimmer. Eine große, glitzernde Narrenkappe war sorgfältig auf dem Regal aufgestellt.

Nägelein registrierte den Blick, räusperte sich: »Ja, man muss ja auch etwas für die Kultur tun. Ich bin Mitglied im Potsdamer Karnevalsverein, und wir haben am Rosenmontag unser große Festsitzung mit anschließender Feier.« Linthdorf stellte sich seinen Chef als Ausbund an Fröhlichkeit vor. Wieder ein Bild, das nicht passen wollte. Wenn alle Mitglieder des Karnevalsvereins solche Typen waren, dann konnte man sich ja auf wahre Spaßtiraden und ursprünglich deftigen Humor freuen.

Ihm war dieser verordnete Humor sowieso suspekt. Für ihn verbarg sich hinter diesem Hang zur Kostümierung und derben Vergnügungen nur ein psychisches Problem der Beteiligten. Endlich mal unerkannt Dinge sagen, die man sich sonst nicht zu sagen traute, und ohne die üblichen Verklemmungen Frauen anbaggern, die man sonst nur höflich grüßte.

Im Übrigen fand er auch, dass dieses laute Karnevalstreiben vielleicht ganz gut in den rheinischen Gefilden aufgehoben war und nicht unbedingt hierher ins nüchterne, preußisch geprägte Brandenburg exportiert werden sollte. Aber im Zuge der Hauptstadtverlegung von Bonn nach Berlin waren tausende rheinischer und schwäbischer Frohnaturen mit an die Spree gezogen, die natürlich auch ihre eigenartigen Bräuche mitbrachten. In Berlin gab es neuerdings sogar eine Karnevalsparade mit Prinzen und Funkenmariechen, die am Brandenburger Tor defilierten.

Für Linthdorf ein Gipfel der Geschmacklosigkeit, er floh vor all solchen neuen Großveranstaltungen.

Mit einem leicht ironischen Unterton verabschiedete er sich von Nägelein: »Na denn noch viel Spaß ...«, nickte dabei vielsagend Richtung Narrenkappe und stand geräuschvoll auf, baute sich in aller Seelenruhe zu seiner vollen Größe auf und ging, den Kopf einziehend, aus dem Dienstzimmer. Nägelein schaute ihm verdutzt nach, wusste nicht, ob das mit dem Spaß ernst gemeint war oder nicht.

Undines Tod

Eine Anzeige im »Havelkurier«


Großer Faschingsball im »Alten Fährhaus« Plaue:

Zu Samstag, den 4. Februar, laden wir zum diesjährigen Großen Faschingsball ein. Ab 18 Uhr erwartet Sie ein buntes Programm mit den Karnevalisten des Plauer FV, des KC Kirchmöser und den Brandenburger Havelnarren. Für musikalische Unterhaltung sorgen die »Swingenden Luchgeister« und die Blaskapelle Rathenow. Höhepunkt des Abends werden unsere große Nixenversteigerung und das mitternächtliche Feuerwerk an der Havel sein. Einlass nur in Kostüm!

Telefonische Voranmeldungen täglich von 9.00 bis 19.00 Uhr unter 03381-3043498

Preis inkl. Abendessen (Buffet) und einer Flasche Wein Ihrer Wahl 39,- €

Wir freuen uns auf Ihren Besuch!

 

Zauberspruch


Wassernixe, du musst sterben

In dem tiefen Wasserloch!

Wassernixe, bist getroffen?

Wassernixe, lebst du noch?

Im Norden von Berlin

Donnerstag, 2. Februar 2006

Ein kalter Wind pfiff durch die Vorstadtstraßen. Feiner Eisregen hatte eingesetzt. Die Frau versuchte vergeblich, sich gegen diesen Eisregen zu schützen. Die modische Baskenmütze hatte sie tief ins Gesicht gezogen und die pelzbesetzte Kapuze ihres Mantels mit einem Schal festgezogen.

Sie stand da am Straßenrand mit zwei Rollkoffern und schien auf jemanden zu warten. Immer wieder schaute sie zu der Kurve am Ende der Straße. Aber es tat sich nichts. Langsam ergriff sie eine Unruhe. Nervös blickte sie immer wieder auf ihre Armbanduhr. Die Zeit schien ihr davonzulaufen. Sie nestelte an ihrer Umhängetasche herum, förderte ein Lederetui zutage, das sie mühsam aufknöpfte.

Endlich hatte sie das Handy griffbereit. Mit zitternden Fingern tippte sie eine Nummernfolge ein, wartete, fluchte.

Ein Besetztzeichen ...

Wahlwiederholung ... wieder Besetzt!

Das Ganze wiederholte sich dreimal. Endlich hatte sie Glück. »Wo bleibt denn mein Taxi? Sollte schon längst hier sein? Hier ist aber niemand. Können Sie noch einmal den Fahrer anrufen, vielleicht hat er sich verfahren. Danke!«

Ärgerlich stampfte sie auf der Stelle. Die Kälte stieg langsam erst in die Füße und von dort die Beine hinauf. Bewegung! Sie musste sich bewegen!

Sonst würde sie vielleicht wieder krank, und das konnte sie im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Sie wusste, dies war ihre letzte Chance. Wenn sie dieses Projekt nicht erfolgreich abschließen würde, wäre sie weg vom Fenster. Zu viele Misserfolge hatten in den letzten Monaten ihr sonst so selbstsicheres Auftreten empfindlich gestört. Und dann war da noch dieser Zusammenbruch! Jedes Mal, wenn sie daran dachte, stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht.

Sich eine solche Blöße zu geben, wäre ihr nie im Traum auch nur eingefallen.

Mein Gott! Sie war doch die Beste!

Alle wussten es ..., und dann so etwas.

Hart hatte sie für diese Position gekämpft. Hatte Wege beschritten, die teilweise an der Grenze der Legalität waren. Alles hatte sie diesem Erfolg untergeordnet. Manchmal fiel es ihr schwer, dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Aber dann hatte sie sich wieder im Griff und alles lief nach Plan. Und jetzt sollte es wieder wie nach Plan weiterlaufen. Einen Durchhänger hatte jeder einmal. Sie hatte auch dies gemeistert. War wieder fit.

Ihr Handy klingelte. »Das kann doch nicht möglich sein! Dann schicken Sie Ersatz! Ich muss in zwei Stunden am Flughafen sein. Egal, wie!«

Unfall! Was für eine banale Ausrede.

Der hatte verpennt!

Sie hasste unfähige Leute. Überall begegneten sie ihr. Und jedes Mal schienen genau diese unfähigen Leute ihr ein Bein stellen zu wollen. Sie konnte noch so sehr ihre Projekte durchplanen, irgendeine Kleinigkeit schien sich immer wieder in eine mittlere Katastrophe auszuwachsen und das ganze Projekt dadurch zu gefährden.

In den letzten Monaten war es wie verhext. Dauernd kreuzte ein solch unfähiger Mensch ihre Pläne und ließ sie auflaufen.

Wieder sah sie auf ihre Uhr. Sieben Minuten waren inzwischen vergangen und von einem Taxi war nichts zu sehen. Verärgert griff sie die beiden Rollkoffer und marschierte Richtung Bushaltestelle. Sie kannte nicht genau die Abfahrtszeiten der beiden Buslinien, die hier hielten, wusste aber, dass jede Viertelstunde eine der beiden Linien hier anhielt. Mit dem Bus konnte sie Richtung S-Bahnhof fahren und dort gab es ja auch immer Taxen, die auf Kundschaft warteten.

Und wirklich, nur kurze Zeit später rollte ein mit bunter Werbung bedeckter Bus um die Ecke. Erleichtert stieg sie ein. Sie war die einzige Mitfahrerin. Beim Busfahrer löste sie ein Ticket, wuchtete ihre beiden Rollkoffer hinein und ließ sich erschöpft auf einen Sitzplatz nahe an der Tür fallen.

Sie spürte plötzlich ein Hungergefühl aufkommen. Sie hatte nur einen Kaffee getrunken, bevor sie das Haus verlassen hatte. Der Magen rebellierte ziemlich heftig. Auf der Zunge hatte sie einen unangenehm säuerlichen Geschmack.

In ihrer Manteltasche fand sie eine Rolle Pfefferminzdrops. Rettung für wenigstens fünf Minuten!

Endlich hatte der Bus den S-Bahnhof Pankow erreicht. Vor dem Bahnhofsgebäude war eine kleine Imbissbude bereits geöffnet. Die zehn Minuten hatte sie noch übrig.

Da sah sie ihn.

Ein Mann in einer schwarzen Lederjacke und mit einem dieser sonderbar unmodischen Basecaps bekleidet, stand ihr gegenüber an dem kleinen runden Stehtisch. Er hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen, von der er ab und zu nippte.

Er nickte ihr zu: »Na, auch verreisen? Nach Tegel?«

Sie kannte ihn. Er ging bei Wendelstein ein und aus. Und er war ein Widerling, ein echter Kotzbrocken. Sie nickte nur und biss herzhaft in ihre Currywurst.

»Ich muss auch rüber, jemanden abholen. Wenn du willst, kann ich dich mitnehmen.«

Sie traute ihren Ohren nicht so recht, als sie diese beiden Sätze vernahm.

Bei diesem Ekelpaket ins Auto steigen?

Niemals.

Lieber verpasste sie das Flugzeug.

Andererseits ..., sie wusste, dass sie sich keine weiteren Fehler mehr leisten konnte.

Und warum auch nicht? Etwas Glück konnte sie nun wirklich gebrauchen.

Dankbar lächelte sie.

»Dann müssen wir jetzt aber gleich los.«

Der Mann mit dem Basecap nickte, stellte den Kaffeebecher ab und trabte Richtung Parkplatz davon.

»Ich bin gleich da, du kannst in aller Ruhe aufessen.«

Er grinste dabei unverschämt, als ob er sie zu sich ins Bett holen wollte.

Sie nickte nur, trank einen großen Schluck Kaffee und putzte sich die Finger ab. Dann sah sie schon den schwarzen Geländewagen aus der Parklücke rangieren. Na ja, besser als ne Taxe und bequemer ist der auch noch! Sie kannte das Modell.

Wendelstein, ihr Chef, fuhr privat auch einen Cayenne. Froh über die glückliche Wendung lief sie mit ihren beiden Rollkoffern dem Wagen entgegen.

Als sie einstieg, bemerkte sie einen eigenartigen Geruch, der ihr irgendwoher bekannt vorkam.

»Wie riecht’s denn hier?«

Der Fahrer lachte nur kurz und fuhr mit zügigem Tempo vom Parkplatz. Es sollte Bettina Khorffs letzte Reise werden ...


Havelufer bei Plaue

Donnerstag, 2. Februar 2006

Als sie aufwachte, hatte sie einen schalen Geschmack auf der Zunge. Es roch nach billigem Fusel und nach etwas noch viel Unangenehmeren. Alles schien sich um sie zu drehen. Ihr war schlecht, eigentlich kotzübel. Außerdem fror sie. Die Zähne klapperten aufeinander. Direkt auf ihrer Haut spürte sie kalte Nässe.

Keine schützende Textilschicht schien zwischen ihrer Haut und dem Untergrund vorhanden zu sein. Sie war nackt. Außerdem konnte sie nichts sehen. Vor den Augen war ein Tuch fest um den Kopf gezurrt. Auch ihre Arme und Beine konnte sie nicht bewegen. Irgendetwas war ihr um die Arme und Beine gewickelt, etwas Klebriges, was es ihr unmöglich machte, sie zu bewegen. Sie wollte schreien, aber nur ein kraftloses Gurgeln drang aus dem tiefsten Innern ihrer Lunge.

Sie spürte eine Angst in sich aufkommen, die sie noch nie vorher auch nur ansatzweise erlebt hatte. Es war etwas Existentielles, eine Grundangst. Instinktiv hatte sie urplötzlich Angst um ihr Leben.

Wenn früher die Gespräche um den Tod gingen, blieb sie erstaunlich ruhig und gelassen. Selbst beim Tod ihrer Mutter hatte sie sich beherrscht. Sie redete sich stets ein, dass sie keine Angst vor dem Tode habe. Souverän meisterte sie das Leben.

Sie war klug, schön, fit ..., der Tod war etwas in sehr weiter Ferne. Und plötzlich war er ganz nah. Sie konnte seine Präsenz spüren. Ihre Sinne erfassten da etwas, was sich nur schwer eingrenzen ließ.

War es ein bestimmter Duft, der die Umgebung ausfüllte? Oder ein Schwingen unsichtbarer Energien, das von ihrem Zwerchfell erspürt wurde?

Sie glaubte ins Bodenlose zu stürzen, als diese Angst von ihr immer mehr Besitz nahm.

Um sie herum war es still. Die einzigen Geräusche, die an sie drangen, waren schwer zu identifizieren. Es konnte vielleicht das Plätschern von Wasser sein. Aber das konnte auch täuschen. Sie traute diesen Geräuschen nicht so richtig. Das letzte, woran sie sich klar erinnern konnte, war die Imbissbude vor dem S-Bahnhof, und dann war da noch dieser schwarze Geländewagen ...

Sie hörte Schritte. Ein ungewöhnliches, schmatzendes Geräusch war bei jedem Schritt zu vernehmen, als ob der Untergrund schlammig oder modderig war.

Jetzt konnte sie auch den merkwürdigen Geruch zuordnen. Es war dieser eigentümliche Geruch, den Flüsse und Seen verströmten. Eine Mischung aus Moder, Fisch und Verwesung. Speziell, wenn die Wetterlage umschlug, wurde ein solcher Geruch spürbar.

Sie war irgendwo an einem Wasser. In der Ferne war ein Zug zu hören. Es war das letzte Geräusch, das sie wahrnahm. Ein stechender Schmerz in der Bauchregion nahm ihr den Atem. Sie schnappte nach Luft. Wieder zuckte sie zusammen, ein weiterer Schmerz war hinzugekommen, diesmal in der rechten Seite. Sie versuchte, dem Schmerz auszuweichen, aber es ging nicht, Beine und Arme waren wie gelähmt. Sie wollte wenigstens schreien. Selbst das funktionierte nicht mehr.

Nur ein erstickendes Fauchen kam noch aus ihrem Hals. Ein dritter Hieb in die Herzgegend folgte. Der Schmerz wurde unerträglich. Sie spürte plötzlich den Atem des Mannes direkt hinter ihr. Er schien stark erregt zu sein. Zwei eisenharte Hände legten sich um ihren Hals. Dann war plötzlich nur noch Nacht ...

Undine – Tod in der Havel


Die Havel

... ist der vielleicht friedlichste und idyllischste Fluss der Mark Brandenburg. Sie entspringt im Norden, nahe Kratzeburg inmitten der Müritz-Seenkette. Zwischen Quelle und Mündung hat die Havel gerade mal 39 Meter Gefälle. Entsprechend langsam ist ihre Fließgeschwindigkeit.

Auf ihrem Weg zur Elbe beschreibt sie einen fast kreisförmigen Bogen. Bis Oranienburg fließt sie südwärts, dann ergießen sich ihre Fluten in die Havelseen rund um Potsdam und dann vereinigt sie sich in Spandau mit ihrer Schwester Spree, um endlich westwärts gen Brandenburg/Havel zu strömen. Hinter Plaue ändert sie noch einmal die Richtung, um nun nordwärts bis Havelberg zu fließen. Hier splittert sie sich in vier große Mündungsarme auf, die ihre Wasser dem Elbstrom einspeisen.

Es macht Spaß, am Ufer der Havel zu sitzen, den Schiffen und Booten zuzusehen und den weißen Schwänen mit den Augen zu folgen, die mit elegantem Flügelschlag den Fluss queren.

Man vergisst dabei schnell, dass die Havel eigentlich ein Grenzfluss war, der zwei Kulturkreise voneinander trennte. Im frühen Mittelalter lebten auf der westlichen Seite die deutschen Siedler und rechts daneben die slawischen Fischer. Eine Zeitlang existierten sie sogar friedlich miteinander, bis schließlich der Zustrom deutscher Bauern und Handwerker so groß wurde, dass sie die Slawen nach und nach verdrängten.

Früher war die Havel Lebensquell der Stahl- und Eisenindustrie, die vor allem im Großraum der Stadt Brandenburg beheimatet war. Auf dem Fluss waren gelbliche Schaumkronen zu sehen, und nicht selten sah man Fische tot im Wasser treiben. Die Farbe der Havel war mehr bleigrau als dunkelblau. Aber dieses dunkle Kapitel ist vorüber. Die Havel ist zu neuem Leben erwacht.

Undine

Die wunderschöne Nymphe Undine lebte auf dem Grunde des Flusses als seelenloses Wesen. Durch die Verbindung mit einem Menschen solle sie eine Seele erhalten, wurde ihr von einer alten Hexe geweissagt. Undine zog es also an Land, dort lernte sie auch einen jungen Ritter kennen, der sich in sie verliebte und sie heiratete. Sie ward schwanger, bekam endlich die so lang ersehnte Seele, verlor aber dabei auch ihre Unsterblichkeit. Leider hatte Undine eine menschliche Nebenbuhlerin, deren Reizen ihr Gatte erlag. Als Undine von dem Verrat erfuhr, erlosch ihr Lebensgeist, und sie ertrank in den kühlen Fluten des Flusses.

 

Das »Alte Fährhaus« bei Plaue

Samstag, 4. Februar 2006


Es ging fröhlich und laut zu beim diesjährigen Faschingsball im »Alten Fährhaus« an der Havel. Die kalte Februarnacht hatte die Feierfreudigen nicht abschrecken können. Trotz Minustemperaturen waren die meisten in leichten Kostümen zu Gange. Damen zeigten viel Dekolleté und waren auch sonst recht freizügig mit ihren Reizen. Die Männer waren da etwas zugeknöpfter, machten dafür aber durch Lautstärke und Trinkfreude alles wieder wett. Im Tanzsaal spielte eine Blaskapelle gängige Schlager aus den Sechzigern und Siebzigern. Der Hofgarten war mit bunten Glühbirnenketten illuminiert. Man schwofte.

Gegen Mitternacht war die Stimmung auf dem Höhepunkt angelangt. Überall waren Konfetti, Papierschlangen und leere Pappbecher verteilt. Die Blaskapelle traf auch nicht mehr jeden Ton, der Schlagzeuger lehnte erschöpft auf seinem Hocker und betätigte mit dem Fuß noch den Rhythmusschläger seines Instruments. Ein Grüppchen stark alkoholisierter Mittvierzigerinnen sang die Brandenburghymne: »Steige hoch du roter Adler«, obwohl die Kapelle »Samba Pa Ti« angestimmt hatte.

Am Lindenbaum hatten sich drei Herren versammelt und erleichterten sich. Sie sangen ebenfalls, allerdings den alten Puhdys-Hit »Alt wie ein Baum« – eigentlich war es nur ein heiseres Gekrächze, die Stimmen waren durch zu viel Gebrauch an diesem Abend stark überstrapaziert worden.

Aus der Frauengruppe löste sich eine stark geschminkte Zigeunerin und trippelte zum Lindenbaum.

Glucksend und kichernd stupste sie die etwas wankenden Männer an, die sofort anfingen zu fluchen und der vorwitzigen Zigeunerin hinterher zu laufen. Die rannte kreischend davon, gefolgt von ihren Begleiterinnen, einer Haremsdame mit Pluderhosen, einer Glücksfee mit aufgenähten Würfeln auf einem enganliegenden, schwarzen Dress und einem etwas pummeligen Marienkäferchen. Die Jagd ging quer durch den Hofgarten bis ans Havelufer, wo alles zum Stehen kam.

Der schwarze Havelsand bremste die Laufgeschwindigkeit ab, schnaufend standen sich Jäger und Gejagte gegenüber, in den Augen ein erwartungsfrohes Glitzern. Die Spannung wurde jäh unterbrochen durch einen gellenden Schrei, den das Marienkäferchen ausstieß. Verärgert schauten die anderen auf die kleine Frau, die etwas abseitsstand und mit beiden Armen auf das Wasser zeigte.

Ihre Schreie verebbten und gingen in ein hysterisches Weinen über. Im Wasser war ein dunkler Körper zu sehen. Die anderen traten näher. Die Havel war hier flach, im Sommer konnte man im Wasser waten.

Was sich im schwarz schimmernden Havelwasser als helles Etwas abhob, war ein Mensch. Eine Frau, nackt, mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegend. Die Arme, hilflos verrenkt, wurden vom leichten Wellengang auf und ab bewegt, als ob sie schwömme.

Die Zigeunerin, eben noch die Anführerin der lustigen Frauen, fing sofort an zu rufen: »Oh Gott, oh Gott, tut doch was!« Sie watete ins eiskalte Wasser, spürte den stechenden Schmerz der nassen Kälte nur flüchtig, blieb abrupt vor der im Uferwasser liegenden Leiche stehen, erst jetzt registrierend, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Sie blickte hilflos zurück zu den am Ufer wie versteinert stehenden Gefährten.

»Marianne, komm zurück, du holst dir bloß was weg!« Einer der drei Männer mit einer ähnlichen Kostümierung wie die im Wasser stehende Marianne begann mit den Armen zu rudern. Als ob der Bann damit gebrochen war, begannen plötzlich alle zu reden.

»Wir müssen die Polizei holen.«

»Erst mal dem Wirt Bescheid sagen!«

»Wer bleibt hier und passt auf?«

Aktionismus setzte ein. Ernüchtert durch den Schock liefen sie am Ufer entlang. »Günni, du holst den Wirt, der soll die Polizei anrufen!« Ein kleiner, etwas rundlicher Mann mit Schnauzbart und Sträflingskostüm nickte nur und trabte Richtung Lokal davon.

»Marianne, du hast doch Handy mit? Ruf ma 110 an!«

Die Zigeunerin nestelte an ihrem Dekolleté und förderte ein hauchdünnes Gerät aus dem Busen, welches sie mit zitternden Händen aufschnappen ließ.

»Hallo? Bin ich richtig bei der Polizei? Wir haben hier ne Frau im Wasser gefunden, die is tot. Kommen se schnell ... Ja, ja ..., wir stehen hier und machen nix ... Am Havelufer vorm »Alten Fährhaus«. Wie ich heiße? Sasse, Marianne ... Ja, hier wohnend.«

Die anderen verfolgten das Gespräch kopfschüttelnd. »Du solltest mit deinen nassen Füßen reingehen, wir machen det schon hier. Und schick ma ein paar Leute mit unseren Mänteln raus, sonst erfriern wa noch.«

Der Zigeunermann schaute etwas mitleidig auf seine Partnerin. Die nickte nur und schlich davon. Das Marienkäferchen fing wieder leise an zu weinen. Es war wohl etwas zu viel Aufregung für diese Nacht.


Die Nixe und der Fährmann an der Havel

Ein Fährmann, der schon viele Jahre mit seiner Frau an der Havel lebte, haderte mit seinem Schicksal. Seit flussabwärts eine neue Brücke gebaut worden war, gingen seine Geschäfte schlecht. So saß er denn wieder am Flussufer und wehklagte.

Plötzlich brauste das Wasser, es schäumte und gurgelte gar mächtig. Eine schöne weiß gekleidete Frau stand vor ihm. Voller Angst wollte er davonlaufen. Doch da hörte er seinen Namen sagen. Die geheimnisvolle weiße Frau schien ihn zu kennen.

Da blieb er stehen und klagte ihr sein ganzes Leid. Sie lauschte und sagte ihm, er solle sich nicht weiter grämen. Sie regele das schon. Er solle beruhigt nach Hause gehen. Nur, als kleines Dankeschön wolle sie das Jüngste aus seinem Hause. Der Fährmann frohlockte.

Seine Katze hatte gerade junge Kätzchen bekommen. So willigte er ein. Frohgemut kam er zu Hause an. Seine Frau, hochschwanger, kam gerade nieder. »Oje, welch’ grausiges Los!«, dachte er just in dem Augenblick, in dem seine Frau einen gesunden Jungen zur Welt brachte. Der Fährmann erzählte seiner Frau von dem Handel mit der geheimnisvollen Dame in Weiß. Seine Frau wusste sofort Bescheid: »Es ist die Nixe vom Havelgrunde, die du getroffen hast. Du musst ihr etwas geben!«.

Er ging zur Havel zurück, ein Körbchen unterm Arm, darinnen zwei kleine Kätzchen. Mit einem Schwung warf er das Körbchen in die Flussmitte. In einem wilden Strudel versank das Körbchen. Der Fährmann glaubte ein lautes Lachen vom Grunde des Flusses zu vernehmen, so dass es im grauste. Schnell ging er wieder zurück zu seiner Frau und seinem kleinen Jungen.

Noch in derselben Nacht riss ein Sturm die neu erbaute Brücke über die Havel weg. Die Leute mussten wieder seine Fähre nutzen.

Der kleine Junge der Fährleute wuchs zu einem stattlichen Burschen heran. Die beiden Alten schärften ihm jedoch ein, niemals allein am Flusse zu spielen oder gar in der Havel zu baden. So glaubten sie, dem Versprechen der Havelnixe zu entgehen. Als der Junge ausgewachsen war, trat er beim Grafen als Jäger in den Dienst.

Die Fährleute waren stolz auf ihn und die Mädchen schauten ihm hinterher. Eines Tages verfolgte er eine riesige weiße Hirschkuh. Die Jagd führte ihn quer durch viele Wälder bis dicht an das Ufer der Havel. Dort stand die weiße Hirschkuh, konnte nicht mehr weiter. Der kühne Jäger frohlockte, endlich hatte er sie schussbereit. Mit einem gezielten Schuss streckte er sie nieder.

Erschöpft, wie er war, ging er zum Ufer um etwas Wasser zur Erfrischung zu sich zu nehmen. In dem Augenblick jedoch, als er sich bückte, fuhren zwei riesige schuppenbedeckte Arme aus dem Wasser, packten ihn und zogen ihn zu sich hinab. Die beiden Gehilfen des Jägers mussten tatenlos zusehen, wie er in das Wasser gerissen wurde.

Kurze Zeit nach dem Verschwinden des Jägers ließ der Graf eine neue Brücke errichten. Die Fährleute verarmten wieder und starben in Gram ...

Noch im »Alten Fährhaus«

Samstagnacht, vom 4. zum 5. Februar 2006

Polizeiwagen standen an der Havel, auch ein schwarzer Leichenwagen wartete diskret im Hintergrund. Das gesamte Gelände war weiträumig mit rotweißem Plastikfolienband abgesteckt. Beamte in Uniform standen inmitten der Faschingsgesellschaft, die inzwischen fast vollständig im Hofgarten versammelt war.

Ein schon ergrauter Zivilbeamter dirigierte seine Leute inmitten des Chaos. Über die Leiche hatten zwei Polizisten eine schwarze Plane gedeckt, so dass kein neugieriger Blick sie mehr erreichen konnte.