Villa Heckel

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From the series: Aus der Reihe Krügers Fälle #5
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Villa Heckel
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T. D. Amrein

Villa Heckel

Krügers Kampf mit dem Nagelmörder

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die wichtigsten Protagonisten der Reihe Krügers Fälle

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Impressum neobooks

Die wichtigsten Protagonisten der Reihe Krügers Fälle

Fall Nr. 5 - Villa Heckel

Hauptkommissar Max Krüger, 48, Dienststelle Freiburg im Breisgau.

Seine Lebensgefährtin Elisabeth Graßel, 48.

Kommissar Eric Guerin, 35, Kripo (Police judiciaire) Colmar, Elsass, Frankreich.

Kommissar Kaspar Gruber, 45, Kripo Basel, Schweiz.

Seine Lebensgefährtin Sonja Sperling.

Krügers Team in Freiburg:

Michélle Steinmann, 29, Krügers Liebling und vorgesehene Nachfolgerin. In dieser Folge ersetzt

durch Nina Böhringer.

Kriminalrat Peter Vogel, 58, Chef der Dienststelle Freiburg.

Dr. Franz Holoch, Pathologe, unberechenbarer aber sympathischer Egozentriker.

Erwin Rohr, Chef Spuren, und sein besonders begabter Mitarbeiter Helmut Paschke.

Krügers Assistenten Otto Grünwald, 33, Thomas Sieber, 32.

Sekretärin Susanne Trautmann, 43, guter Geist des Reviers.

Grubers Team in Basel:

Sein Assistent Bruno Finger, Adrian Betschart, leitender Staatsanwalt und Grubers Chef.

Pathologe in Basel: Dr. Norbert Diener.

Spuren: Markus Känzig, Sekretariat: Kirsten Hohenauer.

Pathologe in Colmar: Dr. Claude Roulin.

Prolog

Bei Merzhausen, Ende März 1945

Zuerst sah er nur ihr blondes Haar. Sie schlief, lag auf dem Rücken, zwischen zwei kahlen Büschen. Langsam schlich Günther näher, die zarte Haut zog ihn magisch an. Aber er musste vorsichtig sein. Wenn sie aufwachte, würde sie böse werden.

Trotz seiner erst sechs Lebensjahre wusste er schon, dass man Frauen nicht ansehen durfte, wenn sie ohne Kleider waren. Es war ein schöner Nachmittag, die Sonne ließ das helle Haar glänzen, sie hielt die Augen geschlossen. Günther nahm all seinen Mut zusammen, wie gebannt betrachtete er die kleinen Hügel auf ihrer Brust, das blonde Dreieck unten am Bauch, die zierlichen Füße. Ein Geräusch schreckte ihn auf. Rasch duckte er sich, schob sich rückwärts in die Hecke.

Ein Mann tauchte auf. Günther kannte ihn, Wolfgang, der ganz in seiner Nähe wohnte. Er packte die Frau grob an den Fersen, Günther konnte einen Schrei gerade noch unterdrücken, und schleifte sie rückwärtsgehend hinter sich her. Ihr Kopf hüpfte auf und ab wie ein fremdes Teil, das mit dem Rest nichts mehr zu tun haben wollte. Die Haare und die Arme schwangen leblos nach hinten.

Dieses Bild würde er niemals wieder vergessen. Auch wurde ihm sofort klar, dass er etwas beobachtet hatte, das nicht für Kinder bestimmt war. Aber wenn er niemandem davon erzählte, konnte ihn auch keiner bestrafen.

Wolfgang war inzwischen mit seiner Last hinter einem kleinen Abhang verschwunden. Günther kroch aus seinem Versteck und trabte davon. Wenn er rechtzeitig zu Hause war, würde die Mutter nicht schimpfen. Dann würde niemand bemerken, dass er herumgestreunt war. Das war verboten, wie so vieles, das Günther gerne gemacht hätte.

1. Kapitel

Kalifornien, 1996, in der Nähe von Fresno

Nachdenklich betrachtete Wolfgang Heckel den Brief, den er soeben erhalten hatte. Graues Altpapierkuvert, Stempelaufdrucke in Blassblau, Deutsche Post, Stadt Freiburg im Breisgau, Nachlassgericht, daneben mehrere Vermerke, schließlich seine Adresse. Die hatten ihn gefunden, einfach so.

Dabei hatte er doch seit Frühling fünfundvierzig jeden Kontakt in die Heimat vermieden.

Ein Kommilitone jüdischer Abstammung, der noch während des gemeinsamen Studiums in die USA emigrierte, hatte ihm damals geschrieben. Hier suchen sie Physiker, was willst du in deinem zerstörten Land, komm her. Du musst dich zu den amerikanischen Truppen durchschlagen oder ausharren, bis sie eintreffen.

Ein amtliches Dokument, das ihm die Einreise in die USA ermöglichen würde, lag bei. Der Brief kam zur rechten Zeit. Forschung würde es in Deutschland vermutlich nicht so bald wieder geben, seine Ausbildung war dort jetzt völlig nutzlos.

Außerdem war da noch „Die Sache“, wie er es stets in seinen Gedanken nannte.

„Die Sache“ auch deshalb, weil er den Namen, den sie ihm nannte, gleich wieder vergessen hatte. In der Euphorie, die sich verbreitete, als der Krieg fast vorbei war, hatte er einfach eine Fremde zu einem Spaziergang eingeladen. Nie war es so leicht, gewesen, eine willige Frau zu finden, wie in diesen Tagen.

Ohne zu zögern öffnete sie ihre Bluse, als sie ein Stück vom Dorf weg zwischen verstreut stehenden Büschen ankamen.

Eiskalt hatte sie danach ein paar Scheine verlangt, wenn er einer Anzeige entgehen wolle, der Herr Doktor. Er kannte sie nicht. Sie dagegen, schien ihn gezielt ausgesucht zu haben.

Wolfgang besaß kein Geld, was sie ihm jedoch auf keinen Fall abnehmen wollte. Dass sie erst sechzehn Jahre alt sei, wie sie behauptete, glaubte er ihr nicht. Er war sicher nicht der Erste gewesen.

An den genauen Hergang konnte sich Wolfgang kaum erinnern. Plötzlich lag sie still da, er kniete auf ihr, seine Hände an ihrem Hals.

Zuerst rannte er entsetzt weg. Dann siegte die Vernunft. Er kehrte zurück, schleppte sie in einen Graben, bedeckte sie mit trockenem Laub. Ihre Kleider verschwanden in einem Reisighaufen, den irgendjemand in der Nähe aufgeschichtet hatte.

Wolfgang hatte darauf gehofft, dass es einige Zeit dauern würde, bis die Leiche gefunden wurde.

Eine von vielen, die den Besatzern oder versprengten Soldaten in die Hände gefallen war, danach hätte es aussehen sollen.

***

Wolfgang nahm sich die Zeit, ein Messer zu holen, sich hinzusetzen und das Kuvert in Ruhe zu öffnen. „Sehr geehrter Herr Heckel“, stand da. Wolfgang konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, die deutschen Behörden mit guten Manieren, das war doch was Neues für ihn.

Erbsache: Frau Ottilie Heckel, Freiburg im Breisgau, Lilienberg 19, ledig. Verstorben 18.07.1996 um 03 Uhr 25 Minuten, in Freiburg im Breisgau, in genannter Wohnung.

Also seine einzige Schwester. Wolfgang rechnete kurz, dann war sie nur 76 Jahre alt geworden.

Das Gericht hatte weiter festgestellt, dass das Testament, das ihn zum Alleinerben bestimmte, gültig war.

Festgestelltes Vermächtnis; ein Grundstück mit Wohnhaus und Inventar, Grundbuch Blatt… Diverse Wertpapiere gemäß separater Liste sowie ein Barvermögen von 528`498,23 DM

Wolfgang ließ den Brief sinken. Und dreiundzwanzig Pfennig, dachte er, da war sie wieder, die deutsche Gründlichkeit.

Das beeindruckte ihn mehr als die Summe selbst. Wolfgang hatte schon lange gelernt, dass ihm mehr Geld, als er brauchte, nichts bringen würde, außer vielleicht die Angst, es wieder zu verlieren.

Er bezog eine absolut ausreichende Pension, das Haus war schon längst bezahlt, und seit seine Frau verstorben war, gab es auch keinen Grund mehr, jemandem etwas zu schenken.

Schließlich las er weiter. Er wurde aufgefordert, binnen sechs Monaten persönlich beim Gericht zu erscheinen, um die Erbschaft gegebenenfalls auszuschlagen. Nach Ablauf dieser Frist würde das Erbe als angenommen gelten.

 

Persönlich, überlegte er, dachten die wirklich, er würde extra vorbeikommen?

Er las weiter: Aha. Ein mit sämtlichen notariell beglaubigten Vollmachten ausgestatteter Vertreter wäre auch eine Möglichkeit.

Ein weiterer Hinweis, ganz zum Schluss, dass das Erbe im Fall einer Ausschlagung auf vorhandene Erben dritter Ordnung übergehen würde.

Wer sollte das denn sein, überlegte Wolfgang. Offenbar war seine Schwester, genauso wie er, kinderlos geblieben. Sonst konnte das Testament gar nicht zustande kommen. Ihre beiden Brüder waren im Krieg gefallen, ledig, viel zu jung.

Und er selbst war dann wohl amtlich noch am Leben, wenn er das Schreiben richtig interpretierte.

Ob er in Deutschland wegen Mordes gesucht wurde, wie er befürchtete, blieb jedoch im Dunkeln.

Sollte das etwa ein Trick sein, um ihn anzulocken?

***

Zwei Monate später. Wolfgang hatte inzwischen dem einzigen deutschstämmigen Freund, der ihm geblieben war, von der Erbschaft erzählt.

„Du willst dir das entgehen lassen?“, hatte Eugen entgeistert gefragt, als er durchblicken ließ, dass ihn das Vermögen nicht sonderlich interessierte.

Wolfgang hatte mit den Schultern gezuckt. „Was soll ich damit anfangen? Ich habe doch alles, was ich brauche. Und jetzt noch nach Europa reisen, Diskussionen mit Behörden. Der ganze Stress mit den anderen Erben, die sicherlich begeistert sein werden, dass da einer aus Amerika herkommt und ihnen alles wegschnappt.“

Eugen Ulbrich, nicht so gut versorgt wie Wolfgang, der eine großzügige Pension vom Staat bezog, hätte sich keinesfalls vorstellen können, freiwillig auf Geld zu verzichten, das man nur abzuholen brauchte.

Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass Eugen als Vertreter nach Deutschland reisen sollte, um das Erbe anzunehmen. Selbstverständlich würde er für seine Mühe eine angemessene Provision erhalten. Auf deren Höhe hatte Wolfgang sich nicht festlegen lassen, er wollte auf jeden Fall einen Teil des Geldes gemeinnützigen Zwecken zuführen. Davon sollte es dann abhängen, wie viel der Freund erhielt. „Außerdem wissen wir noch nicht, wie lange das dauert. Es macht einen Unterschied, ob du nur ein paar Tage bleiben musst oder ob es einige Monate werden“, hatte Wolfgang lächelnd festgestellt.

Eugen hatte eine andere Meinung gehabt, ließ sich jedoch nichts anmerken. Zu groß erschien ihm die Gefahr, dass Wolfgang den Plan im letzten Moment wieder fallenließ, wenn er widersprechen sollte.

Für Eugen war die Provision ohnehin klar. Sie würde genau einhundert Prozent betragen, zuzüglich des Vorschusses, den er für die Reisekosten von Wolfgang erhielt. Wenn der das Geld nicht zu schätzen wusste, dann hatte er es auch nicht verdient. Den größten Teil zu verschenken war für Eugen ein Frevel, dazu durfte es nicht kommen.

***

Sein erster Weg, nachdem er sich am Stadtrand von Freiburg in einer behäbigen Pension einquartiert hatte, führte Eugen nicht zum Nachlassgericht, sondern zur Stadtverwaltung. Zum Einwohnermeldeamt, um mit „seinem“ alten Personalausweis, einer sogenannten Kennkarte, einen neuen, gültigen Ausweis zu erhalten.

Wolfgang hatte ihm das Dokument mitgegeben, „nur für alle Fälle“, wie er betont hatte. Sie sahen sich nicht besonders ähnlich, aber nach fünfzig Jahren war es schwierig, das verblichene und abgeschabte Bild der richtigen Person zuzuordnen.

Von den Fingerabdrücken auf dem Dokument ließen sich nur noch zwei dunkle Flecken erkennen.

Zur Ergänzung besaß Eugen auch noch den Brief des Nachlassgerichts, der den Grund für seinen Aufenthalt und das Anliegen erklärte.

Ohne besonderen Aufwand erhielt Eugen einen vorläufigen Ausweis, den er verwenden konnte, bis das endgültige Dokument fertiggestellt war.

So leicht war aus Eugen Ulbrich Wolfgang Heckel geworden.

Sehr schwer fiel dagegen, sich an den anderen Namen zu gewöhnen, sich überall damit vorzustellen. Ein einziger Versprecher konnte das Ende der Erbschaft bedeuten. Eugen stammte aus Süddeutschland, wie Wolfgang. Seine Aussprache, mit leichtem Akzent, passte. Dass ihn jemand nach fünfzig Jahren als Eugen erkennen könnte, hielt er für unwahrscheinlich.

***

Fast täglich besuchte er das Haus, um den Besitz zu sichten. Einziehen wollte er jedoch nicht, um eine mögliche Begegnung mit alten Bekannten von Wolfgang zu vermeiden.

Vom Bargeld, das auf einer einheimischen Sparkasse lag, hatte er gleich eine halbe Million auf sein Konto in Amerika überwiesen, falls er doch plötzlich verschwinden musste. Den Rest ließ er auf dem Konto, für den täglichen Bedarf, für eine eventuelle Flucht. Die Bankkarte, die er erhalten hatte, ermöglichte ihm, überall in Europa Geld abzuheben.

Sein Ziel blieb jedoch, in Amerika zu leben. Sobald alles geregelt war, konnte er sich dort ein ruhiges Plätzchen suchen. Sich mit dem Bargeld und dem Erlös für das Haus sowie dem Inventar, sich einen schönen Lebensabend gönnen.

Unter seinem eigenen Namen, nur in einer anderen Gegend, in Florida zum Beispiel.

An Wolfgang Heckel schrieb er regelmäßig, berichtete von Schwierigkeiten, dass es möglicherweise ein Jahr dauern würde.

Das Haus, oder besser die Villa, fand er vollgestopft mit antiken Möbeln, die er zuerst sorgfältig durchsuchte. Den Dachboden füllte eine riesige Menge abgestelltes Mobiliar. Dazu die Bilder an den Wänden und der Inhalt der Schubladen und Regale. Bis er alles gemessen, eine Liste mit Einzelheiten geschrieben und jedes Stück grob, im Rahmen seiner Möglichkeiten, bewertet hatte, würden sicher einige Wochen vergehen.

Sobald die Übersicht erstellt war, wollte er damit ein

Angebot von den Antiquitätenhändlern der Gegend einholen. Mit etwas Glück lag eine weitere halbe Million drin, so schätzte er.

***

Es war schon später Nachmittag, Eugen hatte sich einen Kaffee gekocht. Dazu genoss er einen alten Kognak, von dem sich noch eine ganze Menge im Keller fand, als ihn die Hausglocke aufschreckte. Besuch, damit hatte er gar nicht gerechnet. Kam auch sehr ungelegen. Rasch schob er die auf dem Tisch ausgebreiteten Papiere zu einem Haufen zusammen.

Klar würde er abwarten, ob sich der ungebetene Gast von selbst verzog. Die Glocke schlug ein zweites Mal an.

Eugen schob sich ans Fenster. Ein Mann mittleren Alters, die Hände in den Hosentaschen, Filzhut, eher einfach gekleidet. Auf jeden Fall kein Beamter oder sonst eine wichtige Person, das sah Eugen auf den ersten Blick. Er scharrte irgendein Muster in den Kiesweg, während er wartete.

Ein neugieriger Anwohner, der sich nicht schämte, seine schlechte Angewohnheit zur Schau zu stellen.

Eugen zuckte mit den Schultern. Der konnte klingeln, so oft er wollte, sein Ziel würde er damit nicht erreichen.

Kurz entschlossen knautschte er ein Stück Papier zusammen, dass er zwischen Glocke und Hammer der altehrwürdigen Anlage klemmte.

Befriedigt stellte er eine Viertelstunde später fest, dass sich der Besucher verzogen hatte.

Sein Blick fiel auf das Muster, das im Kiesweg zurückgeblieben war.

Undeutlich zwar, aber zu entziffern: Ulrike lässt grüßen.

„Was zum Teufel…“, brummte er, „soll das denn bedeuten?“

Als er am nächsten Morgen zum Haus ging und kurz bei der Schrift stehen blieb, tauchte wie aus dem Nichts der Besucher von gestern neben ihm auf. „Hallo Wolfgang“, begrüßte er ihn grinsend.

„Wer sind Sie?“, fragte Eugen verständnislos.

„Du erkennst mich also nicht, gut, das kann ich verstehen. Ich war damals erst sechs, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe!“

Eugen atmete auf. Kein guter Bekannter, der den Schwindel gleich bemerken würde.

„Wer sind Sie?“, wiederholte Eugen die Frage.

„Das spielt eigentlich keine Rolle“, lautete die spöttische Antwort. „Hauptsache, ich weiß, wer du bist. Ich habe dich zwar ebenso wenig erkannt wie du mich, aber du musst ja Wolfgang Heckel sein, sonst wärst du nicht hier“, stellte der Besucher fest.

„Was willst du denn nun von mir?“ Eugen wechselte auch ins Du.

„Ich wollte dich an Ulrike erinnern.“

„Ulrike“, wiederholte Eugen. „Tut mir leid, ich habe keine Ahnung.“

Der Besucher grinste aufs Neue, „die hast du ganz bestimmt nicht vergessen, das kannst du mir nicht weismachen.“

Eugen zuckte mit den Schultern. „Ist aber so“, beharrte er.

„Genaugenommen ist das auch egal“, erwiderte der Besucher, es ändert nichts daran, dass ich dir zugesehen habe, wie du ihre Leiche weggeschleppt hast, damals, da oben in den Büschen.“

Er deutete in Richtung Süden. „Erinnerst du dich jetzt?“

Eugen suchte fieberhaft nach einer Lösung. „Gehen wir ins Haus“, sagte er schließlich.

2. Kapitel

Ein ruhiger Sonntagnachmittag im Elsass. Jemand hatte die Idee gehabt, man könnte Karten spielen.

Kommissar Krüger hatte ein äußerst schlechtes Blatt, das wie erwartet keinen einzigen Stich schaffte. Die Damen, Michélle und Elisabeth, kicherten, als Guerin ihnen erklärte, dass sie schon wieder eine Runde und somit auch das Spiel gewonnen hatten.

Seit Michélle gekündigt hatte, sah er sie nur noch selten. Jetzt war sie nicht mehr seine Untergebene, trotzdem sprach sie ihn manchmal noch mit „Chef“ an. Nur zum Spaß, ihr Verhältnis war jetzt völlig unbefangen.

Die im Frühling geplante Hochzeit von Eric Guerin und Michélle Steinmann war, soweit notwendig, besprochen. Über den größten Teil ließ man das Paar ohnehin im Ungewissen.

Krüger wurde aufgefordert, die Karten auszuteilen. „Ach, mir reicht’s, wir haben ja doch keine Chance gegen das Glück, das die immer haben“, brummte er.

„Glück?“, tadelte Elisabeth. „Könnte ja auch sein, dass wir einfach besser spielen, oder nicht?“

Krüger grunzte irgendwas, stand auf und ging durch die offene Terrassentür in den Garten.

Guerin folgte ihm. Er bewunderte den Gartengrill, den Krüger schon vorbereitet hatte.

„Holzkohle ist immer noch das Beste“, sagte er zu Krüger.

Dieser nickte. „Ja, finde ich auch.“

Michélle rief nach Krüger. „Telefon, Chef!“

***

Ein Leichenfund, männlich, mittleres Alter mit Schussverletzungen. Im Süden Freiburgs, schon in den ersten Abhängen des Kypfelsens. Grünwald erklärte ihm den Weg. Krüger war einmal mit Elisabeth in der Gegend spazieren gegangen, deshalb wusste er ungefähr, wohin er fahren musste. Ein Streifenwagen würde ihn bei der Abzweigung von der Hauptstraße erwarten.

Doktor Holoch saß auf einem Feldstuhl hinter seinem Wagen und füllte offenbar ein Formular aus, als Krüger eintraf.

„Guten Abend, Herr Kommissar“, begrüßte er ihn.

Krüger erwiderte den Gruß und sah ihn fragend an.

Holoch nickte. „Gleich, Herr Kommissar, nur noch ein paar Zahlen.“

Krüger nutzte den Moment, um einen ersten Blick auf den Toten zu werfen. Die Leiche lag auf dem Bauch, an einem sanften Abhang, mit dem Kopf nach unten. Die Hände und die Schuhe steckten bereits in Plastiktüten. Verletzungen oder Blut ließen sich nicht erkennen.

Holoch räusperte sich hinter Krüger. „Wir haben ihn für Sie wieder so hingedreht, wie er aufgefunden wurde.“

Krüger bedankte sich höflich. Diese Weisung hatte er selbst einmal gegeben, obwohl es kaum viel half.

„Zwei Einschüsse in der Brust“, begann Holoch, „eines der Projektile hat das Herz getroffen, der Tod ist vermutlich sofort eingetreten. Ausschusswunden sind nicht vorhanden, die Kugeln sind stecken geblieben, also wahrscheinlich ein kleineres Kaliber.

Hier ist auch nur der Fundort, das kann ich bereits sicher sagen. Die Leiche wurde transportiert und umgelegt, das beweisen die Livores. Verstorben dürfte er gestern Abend sein, das werde ich noch genauer eingrenzen können.“

„Angaben zur Person?“, fragte Krüger nach.

„Männlich, circa fünfzig Jahre alt, die Hände lassen auf körperliche Arbeit schließen. Die Taschen leer, keine Dokumente oder sonstige Hinweise auf die Identität.“

„Danke Herr Doktor. Wann werden Sie die Obduktion vornehmen?“

„Gleich morgen früh, bis zehn können Sie mit Ergebnissen rechnen. Die Projektile kann ich Ihnen noch heute Abend sichern, wenn Sie das möchten?“

 

Krüger winkte ab. „Lassen Sie nur, auf die paar Stunden kommt es nicht an, ist ja Wochenende.“

Holoch zuckte nur mit den Schultern. Eher ungewöhnlich, aber ihm war es recht.

Krüger hatte absolut keine Lust, sich noch heute Nacht mit dem Fall zu befassen. Wenn die Leiche am Tatort gefunden worden wäre, dann natürlich bliebe keine andere Wahl, als die Spuren so schnell wie möglich zu sichern.

Aber unter diesen Umständen konnte er es bis zum Abendessen zurück ins Elsass schaffen, wie er gehofft hatte.

Der Rest war schnell erledigt. Grünwald hatte die Spaziergänger, die den Toten gefunden hatten, längst befragt und die Personalien aufgenommen. Die Spurensicherung wartete noch darauf, dass die Leiche abtransportiert wurde, um die Liegestelle zu fotografieren und auf liegen gebliebene Gegenstände zu untersuchen. Erwin Rohr war nicht anwesend, wie Krüger festgestellt hatte, aber seine Leute schafften das trotzdem, daran war nicht zu zweifeln.

Um den Schein zu wahren, ließ er sich von ihnen eine erste Einschätzung geben.

„Ein paar Reifenspuren, Herr Kommissar, sonst bisher leider nichts“, sagte der Techniker. „Natürlich haben wir Klebeabzüge der Kleidung gemacht, die Taschen waren jedoch leer. Eine Hoffnung, möglicherweise. Die Schuhe enthalten Erdreste.“

Krüger dankte, und der Techniker beugte sich wieder über die Fundstelle.

***

Eugen Ulbrich saß zur gleichen Zeit in seiner Pension und wartete auf die Abendnachrichten. Inzwischen durfte er damit rechnen, dass der Idiot, der ihn zu erpressen versucht hatte, gefunden worden war.

Zum Glück war im umfangreichen Hausrat auch eine Pistole mit Munition aufgetaucht. Nur so eine Damenwaffe, aber ausreichend. Er hatte ihn zur ausgemachten Zeit erwartet, oben an der Treppe, die zum ersten Stock führte. Den Eingang hatte er mit Plastikfolie ausgekleidet, um Blutspritzer an den Tapeten zu verhindern. Zur Tarnung hatte er bereits eine Wand frisch gestrichen, damit sein Besucher nicht gleich Verdacht schöpfte.

Wie erhofft trat dieser arglos ein. Die Gier ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Eine Million Mark, in einem Koffer, wie man es im Film immer sieht, hatte er für sein Schweigen verlangt.

Eugen hatte ihm erklärt, dass nur einige Tausender auf der Bank lagen, er die Summe unmöglich aufbringen konnte.

Der Unbekannte hatte ihn nur ausgelacht. Im Dorf würde von mindestens zehn Millionen gemunkelt. Das sei ein richtiges Schnäppchen für ihn, er solle sich nicht so anstellen. „Bleibt dir noch genug, du bist auch nicht mehr so jung, hast nicht mehr so viel Zeit, um es auszugeben. Ich habe fünfzig Jahre geschwiegen, vergiss das nicht!“

Zwei Kugeln hatten dafür gesorgt, dass der auch keine Gelegenheit mehr haben würde, um Geld auszugeben, dachte Eugen, zufrieden.

Die Meldung blieb aus. Offenbar lag die Stelle einsamer, als er gedacht hatte.

***

Peter Hanke war ab und zu am Nachmittag an der Villa Heckel vorbeigeschlendert. Erst am Freitag fiel ihm auf, dass ein Mietwagen auf der Einfahrt um die Ecke stand.

Das musste er sein. Der verlorene Sohn, der auftauchte, sobald es etwas zu holen gab. All die Jahre, wo hatte er sich herumgetrieben. Eigentlich war es Peter völlig egal, weshalb der nie aufgetaucht war, aber so ließ sich die Empörung besser genießen. Das schon sicher geglaubte Erbe, die Villa, ein Millionenvermögen, alles futsch, nur weil dieser Lump, den niemand kannte, im Testament der Großtante erwähnt wurde.

Wenn der allerdings dachte, ohne Gegenwehr an das Erbe zu kommen, dann hatte er sich gründlich getäuscht. Die legalen Mittel, wie die Anfechtung des Testaments waren inzwischen ausgeschöpft, aber Peter konnte doch auf einige kriminelle Erfahrungen zurückblicken. Deshalb traute er sich den Nerv zu, den Kerl unbemerkt verschwinden zu lassen.

Viel hatte es ihm bisher noch nicht eingebracht, ab und zu ein paar Scheine oder Schmuck, die er bei Gelegenheit aus Häusern mit einfachen Schlössern geklaut hatte.

Was er dabei gelernt hatte, war, sich unauffällig zu verhalten, nicht in Panik zu geraten. Nur deshalb war er noch nie dabei erwischt worden.

Und dieses Mal durfte auch nichts schiefgehen. Logisch, dass der erste Verdacht auf sie fiel, wenn der Ami plötzlich abkratzte.

Sie, das waren er und sein Bruder Harald, die zusammen mit der „kleinen“ Schwester Majke so etwas wie einen gemeinsamen Haushalt führten.

Die kleine Schwester zählte inzwischen auch schon achtundzwanzig Jahre, hatte bereits einige Kerle hinter sich, war aber immer wieder zu ihnen zurückgekehrt, wenn sie wieder mal einer zum Teufel geschickt hatte.

Dass es an ihr lag, daran zweifelte Peter nicht. Sie konnte ein richtiger Satansbraten sein, wenn sie schlechte Laune hatte.

Zuhause bekam sie ab und zu eins aufs Maul, wenn sie es übertrieb. Kein großes Problem für sie, sie war das von klein auf gewöhnt.

Dass die Großtante jetzt ziemlich früh verstarb, war ein Glücksfall, sie hatten sich auf eine viel längere Wartezeit eingestellt.

Deshalb hatten sie die ganze Nacht gefeiert, nachdem sie die Nachricht erhielten, und auch die Tage danach. Sie konnten sich schließlich kaum auf den Beinen halten bei der Beerdigung. Der Pfaffe hatte sich sehr darüber aufgeregt, ihnen damit gedroht, die Zeremonie abzubrechen, wenn sie sich nicht zusammenreißen würden.

Das war ein Fehler gewesen, wie Peter inzwischen zugeben musste. Niemand wusste vorher von einem Testament. Er traute dem Pfaffen durchaus zu, dass der da was gemauschelt hatte, um sie um ihr Geld zu bringen. Mindestens hatte er erreicht, dass nach dem Verschollenen gesucht wurde. Ob er den Wisch auch noch selbst geschrieben hatte? Immerhin möglich. Die Alte hatte schließlich regelmäßig gebeichtet, das hieß, der Pfaffe wusste alles über sie.

Peter hatte schon einen Plan. Bisher hatte er seinen Geschwistern nichts davon gesagt, und dabei sollte es auch bleiben. War doch gut möglich, dass die Alte in der Küche irgendwo ein Rattengift oder sowas ähnliches aufbewahrte, das nicht beschriftet war, soweit die Ausgangslage. Wenn dann der verlorene Sohn in der Villa nach Essbarem stöberte, würde er leider dem unvorsichtigen Umgang der Großtante mit Gift zum Opfer fallen. Und damit die Erbfolge korrigieren.

Jetzt musste Peter nur noch dafür sorgen, dass das Zeug im richtigen Behälter lag. Im Kaffeepulver zum Beispiel. Aber nicht nur dort. Sobald er wusste, was sich der Ami so schmecken ließ, wenn er im Haus aß, wurde auch die Marmelade oder die Butter zur möglichen Variante.

Am späteren Abend des Sonntags erkundete er die Lage. Das Schloss ließ sich mit dem Rüttelgerät leicht öffnen, schon stand er im Eingangsbereich. Es roch nach frischer Farbe. Seltsamerweise war nur eine kleine Wand frisch gestrichen. Sollte wohl ein Muster sein, dachte Peter kopfschüttelnd, während er sich Latexhandschuhe überstreifte.

In der Küche standen neben der Spüle einige Teller und Tassen, offenbar zum Trocknen. So, wie Peter gehofft hatte, war der Ami zu geizig, um im Restaurant zu essen.

Der Kühlschrank sah ordentlich aufgeräumt und gut bestückt aus. Geschnittener Speck in Streifen, das konnte eine Möglichkeit bieten.

Peter wusste nicht, was in dem weißen Pulver enthalten war, dass er schon vor vielen Jahren im Keller seines Elternhauses gefunden hatte. Eine grüne Glasflasche mit Totenkopf, nicht aufgeklebt, sondern direkt im Glas. Damit hatte schon sein Vater schon irgendwelches Ungeziefer bekämpft.

Dass es noch wirkte, hatte der dämliche Kläffer in der Nachbarschaft, der Peter schon jahrelang auf die Nerven ging, bewiesen. Gerade bis zu seiner Hundehütte hatte der es noch geschafft. Danach war Ruhe gewesen, auch in der Nacht. Eine winzige Dosis in einer Scheibe Wurst hatte schon ausgereicht.

Peter untersuchte den Kühlschrank genauer. Eine große Tube Senf, das war das Richtige. Er schraubte den Deckel ab, setzte die Tube an den Mund und presste den Senf ein Stück zurück. Das Gift hatte er in einem kleinen Plastikbehälter dabei, der eigentlich für eine Dosis Ausbesserungslack gedacht, für seinen Zweck jedoch auch bestens geeignet war.

Peter arbeitete in einem Farbenfachgeschäft, da lagen die Dinger in Massen herum.

Sorgfältig füllte er die Tube auf. Deckel drauf, ein wenig geknetet, fertig. Natürlich kontrollierte er seine Arbeit. Der Senf hatte das Pulver völlig zum Verschwinden gebracht. Ausgezeichnet, dachte er, das würde auch den stärksten Ami aus den Socken hauen. Hoffentlich sparte der nicht mit dem Zeug, so dass es womöglich noch reichte, um Hilfe zu rufen.

Das Telefon? Mit seinem Taschenmesser säbelte er solange an dem an der Wand verlegten Kabel herum, bis das Freizeichen verstummte. Zu sehen war das bestimmt nicht, und wenn, konnte es von einem Nager stammen.

Genauso leise, wie er gekommen war, verschwand Peter wieder.

***

Montagmorgen in Basel, Binningerstraße, Kripo Basel. Kommissar Kaspar Gruber blätterte in einer Zeitung, als Staatsanwalt Betschart bei ihm eintrat. „Guten Morgen, Kaspar. Schön, dass Sie schon da sind!“

Gruber legte die Zeitung weg. „Morgen Herr Staatsanwalt. Wie war ihr Wochenende?“

Betschart winkte ab. „Meine Frau hat mich auf eine Kunstausstellung geschleppt. Zu viel Champagner, zu viele Leute, zu wenig gute Bilder.“

Gruber konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er war froh, dass ihn in seiner Freizeit keine solchen Verpflichtungen plagten. Betschart hatte doch niemals wirklich frei, dachte er.

Der Staatsanwalt legte ihm einen Hefter auf den Tisch. Ganz oben Fotos, auf denen eine Badende im Bikini zu sehen war. Nur auf den ersten Blick schien es, dass sie badete. Die weiteren Bilder zeigten, dass sie leblos im Wasser trieb. Der dunkelblaue Bikini war vorne mit Schlamm bedeckt, vermutlich, weil sie bei der Bergung an Land geschleppt worden war.

„Wurde heute Nacht am Kraftwerk Birsfelden angetrieben“, bemerkte Betschart. „Dürfte ertrunken sein, irgendwann am Sonntag.“