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Paradoxer Glaubensvater



Einer der dramatisch unqualifiziertesten biblischen Helden, den ich mir vorstellen kann, ist Jakob. Ich habe mich vor einer Weile bei der Vorbereitung einer Predigtreihe sehr intensiv mit seinem Leben beschäftigt, und dann kam mir wie aus dem Nichts ein ebenso erschütternder wie ernüchternder Gedanke:





Gott kann die Person nicht segnen, die man nur vorgibt zu sein.





Bevor mir dieser Gedanke kam, hatte ich mich gefragt, wieso um Himmels willen ich beschlossen hatte, fünf Wochen lang ausgerechnet über diesen paradoxen Glaubensvater zu predigen. Es stellte sich nämlich heraus, dass er der komplizierteste biblische Antiheld war, mit dem ich mich je befasst hatte. Die meisten Geschichten, in denen Jakob eine Rolle spielt, sind wie eine Folge aus der Serie

Die Sopranos

 – man weiß nicht, zu wem man halten soll, weil einer so verkorkst ist wie der andere. Wie in der Situation, als Jakobs Onkel ihn betrunken macht und Jakob daraufhin in seiner Hochzeitsnacht aus Versehen mit der falschen Frau schläft.



Jakob war ein Lügner, ein Betrüger, ein Trickser, ein Gauner und ein Hochstapler. Einen Großteil seines Lebens wurde er von den Konsequenzen eigener schlechter Entscheidungen verfolgt und musste in dem Chaos leben, das er dadurch selbst verursacht hatte. Wenn also jemand die Bezeichnung „ungeeignet“ bzw. „unqualifiziert“ verdient hätte, dann Jakob. Er war nicht unbedingt der Typ, aus dem ordentliche Predigtgliederungen und Sonntagsschullektionen gemacht sind.



Und trotzdem wurde er von Gott erwählt, berufen und reich gesegnet. Und am Ende spielte Jakob sogar eine wichtige Rolle in Gottes Heilsplan für diese Welt. Er taucht in der Bibel als eine der wichtigsten und zugleich als eine der verkorkstesten Gestalten auf.



Als ich an jenem Donnerstagnachmittag über meiner Bibel und meinen Notizen saß, traf mich wie aus heiterem Himmel die Erkenntnis, dass ich in vielerlei Hinsicht ganz genauso bin wie Jakob. Wenn auch natürlich nicht annähernd so wichtig für den Lauf der Menschheitsgeschichte. Aus rein menschlicher Sicht bin ich ganz genau so unqualifiziert wie er, aber in Gottes Augen auch ganz genau so wertvoll und geliebt.



Ich merke oft selbst, dass ich mich – genau wie Jakob – verstelle und tue, als wäre ich jemand anders, weil mir so peinlich ist, wie ich wirklich bin. Das liegt daran, dass ich dann meine Schwächen für das Problem halte und glaube, die Lösung könnte darin bestehen, dass ich einfach so lange so tue, als wäre ich schon so, wie ich gern sein möchte, bis ich es schaffe, wirklich so zu sein.



Aber Gott kann ja niemanden segnen, der ich gar nicht bin. Er möchte mich so gern segnen, aber nur

mein wahres Ich

, mit all seinen Stärken und Schwächen und Widersprüchen.



Je intensiver ich mich mit der Geschichte von Jakob auseinandersetzte, desto klarer wurde mir, dass es Gott selbst ist, der dafür sorgt, dass wir qualifiziert sind für das, wozu er uns beruft. Jakob ist ein Paradebeispiel dafür, was für ein Durcheinander und heftige Verwicklungen durch persönliche Schwächen entstehen können, aber er ist auch ein spektakuläres Beispiel dafür, wie jemand es schafft – wenn auch erst gegen Ende seines Lebens –, seine Unzulänglichkeiten zu akzeptieren, über sie hinauszublicken und Gott zu vertrauen.



Erst als er das endlich tat, übernahm Gott. Er setzte Jakobs Grenzen außer Kraft und übertrumpfte selbst dessen Unfähigkeit.



Jakob war absolut und auf schmerzliche und spektakuläre Weise menschlich. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sein Leben mich so klar und deutlich anspricht. Ich kann mich besser in sein Versagen und in seine Fehlschläge hineinversetzen als in seine Heldentaten, und ich nehme an, dass es Ihnen nicht anders geht.



Was ich durch die intensive Beschäftigung mit Jakob gelernt habe, hat mein Denken radikal verändert, und deshalb werde ich in den letzten paar Kapiteln dieses Buches auch noch ausführlicher und detaillierter auf Jakobs Leben eingehen. Seine Geschichte ist nämlich ein faszinierendes Beispiel dafür, wie die Kraft Gottes in unserer Schwäche wirkt.



Letztlich hat Gott Jakob nicht trotz seiner Schwächen, sondern durch seine Schwächen befreit, gerettet, weiterentwickelt und neu ausgerichtet, und das Gleiche kann er auch bei Ihnen und mir tun.








An dem Tag, an dem mich der Theologe auf YouTube darüber informierte, dass ich unqualifiziert sei, erinnerte mich Gott an einen Bibelvers, in dem es um unsere Befähigung geht.



Wir halten uns selbst nicht dazu fähig, irgendetwas zu bewirken, was bleibenden Wert hätte. Unsere Kraft dazu kommt von Gott. Er hat uns befähigt dazu, Diener seines neuen Bundes zu sein, eines Bundes, der nicht auf schriftlichen Gesetzen beruht, sondern auf dem Geist Gottes. Der alte Weg führt in den Tod, aber auf dem neuen Weg schenkt der Heilige Geist Leben. (2. Korinther 3,5-6, Neues-Leben-Übersetzung).



Und plötzlich fühlte ich mich befreit.



Ja,

unqualifiziert

 passt sehr gut. Das hat was. Und ich befinde mich dabei in allerbester Gesellschaft – angefangen bei Jakob.



Also nur zu, schreiben Sie es auf meine Visitenkarten und auch auf meine Twitter-Vita.



Gott

 hat mich berufen.

Gott

 hat mich ausgerüstet.

Gott

 hat mir Türen geöffnet. Meine Qualifikation oder das Fehlen selbiger hat demnach offenbar keine besonders große Rolle gespielt.



Ich hatte also doch ein wenig festen Boden unter den Füßen bei der Verteidigung meines Stammbaums im geistlichen Dienst. Aber warum? Tatsache ist: Gott segnet meine Bemühungen trotzdem, und zwar mehr, als ich es je verdient hätte. Und das ist erstaunlich! Wieso sollte ich mir da wünschen, meinen Einfluss und meinen Erfolg lediglich auf das zu beschränken, wozu ich qualifiziert bin?



„Unqualifiziert“ war also gar keine Kritik, sondern ein Kompliment. Zugegeben, ein unbeabsichtigtes und zweifelhaftes Kompliment, aber nichtsdestotrotz ein Kompliment. Ich wurde in aller Öffentlichkeit daran erinnert, dass Gott an mir und durch mich viel mehr für mich getan hat, als ich verdient habe.



Ich hoffe, das klingt jetzt nicht stolz, weil es das nämlich wirklich nicht ist. Ich glaube sogar, dass es das Gegenteil von stolz ist, nämlich demütig. Echte Demut bedeutet nicht, sich selbst schlechtzumachen, sondern anzuerkennen, dass man alles Gott zu verdanken hat. Es bedeutet, die eigene Bestimmung anzunehmen, und zwar nicht auf der Grundlage dessen, wer man ist oder was man kann, sondern aufgrund dessen, wer Gott ist und was er durch einen tun will.



Ich bin überzeugt davon, dass der zitierte Theologe Gott und die Gemeinde liebt. Wenn wir irgendwann beide im Himmel sind, lade ich ihn vielleicht mal zu mir nach Hause ein auf ein paar Erdnüsse, und vielleicht lachen wir dann zusammen über die ganze Geschichte.



Aber im Moment ist das, was einer anderen Person einfällt, wenn sie meinen Namen hört, nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, was

Gott

 und was

mir selbst

 bei meinem Namen einfällt.



Am Ende habe ich mir diesen kleinen Teil des Interviews noch mindestens fünfmal mehr angeschaut und beim letzten Mal dann laut gelacht. Ich habe den Link an ein paar Freunde geschickt und sogar ganz kurz überlegt, wie lustig es wäre, ihn über Instagram zu verbreiten.



Dann machte ich mich für den Gottesdienst fertig. Vor dem Gottesdienst betete ich noch mit dem Team, wie ich es fast immer tue, fügte aber am Ende noch einen Satz hinzu, den ich sonst nicht betete. Mein Team fragte sich wahrscheinlich, was um Himmels willen ich meinte, aber ich selbst musste lächeln und war von einer seltsamen Zuversicht und Dankbarkeit erfüllt, als ich betete: „Und danke, Herr … dass wir unqualifiziert sind.“






Das dritte Wort



„Ich bin Steven.“



Das habe ich schon Tausende Male gesagt und es auch beinah genauso oft buchstabiert, denn wenn ich nicht extra darauf hinweise, schreiben die Leute meinen Vornamen immer mit ph statt mit v.



Ganz zu schweigen von meinem Nachnamen Furtick.



Was ist der Kernbegriff der Aussage:

Ich bin Steven?

 Es ist der Name Steven, richtig? Der Name benennt mich, identifiziert mich. Die ersten beiden Worte – ich bin – sind nur dazu da, die Aussage zu bilden. Sie haben für sich allein keinen Sinn, sind einsilbiges Beiwerk.



Aber stimmt das wirklich?



Behalten Sie diesen Gedanken einmal kurz im Kopf.






ZWEI

Das Name-Game



Ich habe eine – zugegebenermaßen ziemlich seltsame – Phobie.



Ich habe Angst, Leute, die ein Baby erwarten, zu fragen, wie ihr Nachwuchs heißen soll. Woran das liegt? Ich glaube daran, dass – wie sage ich das jetzt am besten? – die Menschen immer „kreativer“ werden bei der Namensgebung.



Natürlich ist es das gute Recht von Eltern, ihren Kindern genau den Namen zu geben, den sie für richtig halten, das ist mir schon klar. Der Grund, weshalb ich nicht fragen mag, ist der Umstand, dass ich einfach nicht in der Lage bin, mich bei der Reaktion auf ihre Antwort zu verstellen.



Wenn ich frage: „Und, wie soll es denn heißen?“, und sie nennen einen Namen, für den ihr Kind spätestens in der Mittelstufe gemobbt werden wird, dann reagiere ich mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem erstaunten: „Aha …“, und das ist in aller Regel nicht die Reaktion, die sich werdende Eltern wünschen. Deshalb stelle ich die Frage einfach nicht mehr. Es hängt einfach zu viel Verantwortung daran. Ich erfahre den Namen lieber schriftlich, wenn niemand dabei ist und ich reagieren kann, ohne die Gefühle von jemandem zu verletzen.

 



Nur fürs Protokoll: Mein erster Vorname ist gar nicht Steven, sondern Larry. Mein korrekter, offizieller Name ist also Larry Stevens Furtick Jr. Dass ich mit zweitem Vornamen

Steven

 heiße, liegt daran, dass der zweite Vorname meines Vaters auf seiner Geburtsurkunde falsch geschrieben war. Statt das zu ändern, hat der Gute den Fehler bei der Beurkundung meiner Geburt einfach übernommen. Vielen Dank auch, Dad.



Es hätte aber auch noch schlimmer kommen können, denn ursprünglich wollte mein Vater mich Clem nennen, und schon allein der Gedanke daran lässt mich schaudern. Meine Großmutter hat nämlich an der Clemson University in South Carolina ihren Abschluss gemacht, und mein Vater fand es unglaublich geistreich, mich später einmal „Clem! Son! Komm mal her, Clem, Son!“ rufen zu können.



Zum Glück konnte meine Mutter diesen Wahnsinn gerade noch rechtzeitig verhindern.



Aber es gibt noch schlimmere Namen. Vor kurzem hat mir ein Mitarbeiter aus der Gemeinde von jemandem erzählt, der sein Kind La-a genannt hat. (Das wird genau so ausgesprochen, wie man es schreibt.)



Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für Gedanken mir durch den Kopf gingen, als ich das hörte. Du tust mir so leid, La-a, wo auch immer du gerade bist. Wir beten für dich. Ganz besonders beten wir dafür, dass die Engel deinen Namen richtig buchstabieren, wenn sie ihn ins Buch des Lebens schreiben.



Zum Glück für die Clems und La-as dieser Welt werden wir zwar mit unserem Namen gerufen, aber unser Name bestimmt nicht, wer wir sind. Er beschreibt nicht unsere Persönlichkeit. Unser Name sagt nichts darüber aus, wer wir wirklich sind, nichts über unsere Träume, unsere Gefühle, unser Potenzial und das, wofür wir uns begeistern.



Ich glaube, die meisten Menschen wissen, dass sie mehr sind als ihr Name, aber wie viel Mühe setzen wir ein, um herauszufinden und zu verstehen, was uns antreibt und wovon wir uns bestimmen lassen?



Wenn wir eine verzerrte Wahrnehmung davon haben, wer wir wirklich sind, dann leidet unser seelisches Gleichgewicht darunter, und deshalb tut es auch so weh, wenn wir scheitern oder hinter den Erwartungen zurückbleiben. Unsere Defizite scheinen der Beweis dafür zu sein, dass wir von Grund auf fehlerhaft sind, und das lässt uns an unserem Wert und unserer Identität zweifeln.



Aber wie ich ja bereits im vergangenen Kapitel festgestellt habe, sieht Gott uns nicht so, wie wir selbst uns sehen. Sein Maßstab und seine Beurteilungskriterien sind anders als unsere, doch solange wir nicht wissen, wie er denkt und uns sieht, werden wir unsere Erfolge und Niederlagen als einzige Indikatoren für unseren Wert betrachten. Das wiederum führt unweigerlich zu übertriebenen, immer wieder anderen Schlussfolgerungen darüber, ob wir fähig und qualifiziert sind oder nicht. Und eine Identität, die auf Gefühlen der Unzulänglichkeit beruht, ist etwas ziemlich Gefährliches.



Ich möchte, dass wir uns im Folgenden einmal selbst anschauen in Bezug auf unsere Identität, und, was vielleicht noch wichtiger ist, ich möchte, dass wir uns mit unserer eigenen

Interpretation

 unserer Identität beschäftigen. Wissen wir eigentlich, wer wir wirklich sind? Und stimmt unser Bild von uns selbst mit dem überein, was Gott darüber sagt, wer wir sind? Und was tun wir, wenn die beiden Vorstellungen nicht übereinstimmen? Wie gehen wir mit der Diskrepanz um?



Das ist kompliziert, weil

wir

 kompliziert sind, aber zum Glück sieht die Bibel diese Komplikationen voraus.





Was kommt in die Lücke?



Vor fast viertausend Jahren berief Gott aus einem brennenden Dornbusch heraus einen Mann namens Mose. Die Geschichte ist im 2. Mose Kapitel 3 nachzulesen, und wenn Sie schon länger mit Glauben und Kirche zu tun haben, dann haben Sie sie bestimmt schon einmal gehört. Hier noch einmal kurz die Geschichte, gewürzt mit ein paar Details, die meiner Phantasie entsprungen sind.



Gott trifft Mose mitten in der Wüste und präsentiert ihm einen umwerfenden Plan. Er will, dass Mose nach Ägypten – die damals mächtigste Nation der Welt – geht und den Pharao dort auffordert, die Millionen israelitischen Sklaven freizulassen, die für ihn arbeiten. Das verschlägt Mose wirklich die Sprache, allerdings nicht im positiven Sinn. Schon allein bei der Vorstellung fängt er an zu schwitzen und zu stottern und zu hyperventilieren.



Also fragt Mose Gott erst einmal, wie er denn überhaupt heißt, in dem verzweifelten Versuch, irgendetwas zu finden, das ihm dabei helfen könnte, den Israeliten diesen unglaublichen Plan plausibel zu machen.



Instinktiv ist Mose klar, dass das Allerwichtigste in diesem Moment die Frage ist, mit wem er es hier überhaupt zu tun hat. Wer da aus dem brennenden Busch heraus zu ihm spricht, ist viel wichtiger als seine eigenen Fähigkeiten, sein Bildungsstand und sein Lebenslauf und auch wichtiger als die Macht des Pharaos oder die Politik, die Ägypten verfolgt, oder wie er es anstellen soll, von jetzt auf gleich ein Gegner der Sklaverei zu werden.



Und Gott ist bereit, Mose zu sagen, wer er ist, und ihm seinen Namen zu nennen.



„Mose, mein Name ist … Der Ich bin.“



Es folgt eine lange, unbehagliche Pause, in der sich Mose vorbeugt und lauscht, ob der Busch sein Geheimnis preisgibt:

Sprich weiter, ich höre zu. Du bist … was? Ja, wer denn nun? … Moment … ist das etwa alles? Einfach nur „Der ich bin“? Da fehlt doch was.



Aber mehr sagt Gott nicht. Dafür, dass er ein vollkommener Gott ist, hat er offenbar eklatante Probleme mit der Grammatik. Weiß er denn nicht, dass da noch ein Nomen kommen muss, weil sonst die Aussage unvollständig ist?



Vielleicht ist in dieser Aussage eine Botschaft für Mose – und für uns alle – enthalten: nicht das

Ich bin

 einfach überspringen. Füllen Sie nicht leichtfertig in die Lücke ein, wer Sie sind.



Denken Sie einmal über diese beiden Worte nach:

Ich bin.

 Nur zwei kleine Silben, aber die stärkste, ja, umwälzendste Aussage, die man machen kann. Darin steckt eine Kraft, die von der Vergangenheit befreien, durch die Gegenwart lotsen und den Rahmen für die Zukunft stecken kann.



Ich bin hier nicht irgendwie mystisch, sondern es handelt sich um etwas sehr Konkretes und Praktisches. Gott hat genau diesen Ausdruck gewählt, um sich selbst präzise zu beschreiben, weil Identität und Selbstbild grundlegende Lebensprinzipien sind. Das ist ein ganz wesentlicher und großer Aspekt der

„Ich bin“

-Offenbarung Mose gegenüber.



Dennoch braucht der Name Gottes kein weiteres Wort, weil Gott alles und jeder ist, was er im Moment gerade sein muss. Er ist die Fülle, er ist die Vollendung, er ist die Erfüllung jedes Bedürfnisses und jedes nur denkbaren Verlangens. Man könnte beliebig Superlative aneinanderreihen und würde damit Gott nicht einmal annähernd gerecht, aber Sie und ich, wir Menschen, wir brauchen noch ein weiteres, ein drittes Wort. Wir müssen unsere Identität an konkreten, greifbaren und beschreibenden Begriffen festmachen. Wir müssen die Aussage vervollständigen, und das tun wir auch ständig, ob es uns bewusst ist oder nicht.



Auf der allgemeinsten, der Makroebene, ist dieser fehlende Begriff unser Name.



Aber das ist nur der Anfang.



Dieser Begriff ist nicht nur der Name, den uns unsere Eltern gegeben haben, oder der Spitzname, der uns damals auf der Klassenfahrt verpasst worden ist, und es geht bei diesem Begriff auch nicht um den Namen, den Sie bei der Tupperparty auf Ihr Namensschildchen schreiben, oder darum, wie Sie von Ihren Freunden genannt werden.



Wie würden Sie denn selbst den Satz

„Ich bin …“

 zu Ende bringen? Was würden Sie einsetzen? Wie würden Sie sich selbst beschreiben?



Es ist jedenfalls nicht so einfach, wie es sich anhört.



Wenn Sie zu einer Gemeinde gehören, dann bekommen Sie in der Regel jede Menge Hilfestellung bei der Beantwortung der Frage, wer Gott ist. Sie erfahren von seiner Liebe, seiner Heiligkeit, seiner Gerechtigkeit und seiner Güte. Es wird mit theologischen Begriffen wie

Allgegenwart

,

Allwissenheit

 und

Allmacht

 hantiert, und wir lernen, Gott in jeder herrlichen Einzelheit zu beschreiben, einschließlich der dazugehörenden Bibelstellen. Das ist natürlich gut und richtig und auch wichtig, aber wer

wir

 sind, das wissen wir oft nicht. Und das ist eine verhängnisvolle Abkoppelung.



Es ist ja das Eine, zu wissen, wer

Gott

 für Sie ist, aber wer sind

Sie selbst

 für sich? Wie sehen Sie sich selbst? Vielleicht können Sie Gott beschreiben und definieren, aber passt das mit dem zusammen, wie Sie sich selbst beschreiben und definieren?



Denn es ist ja nicht so, dass wir uns nicht selbst definieren würden. Das tun wir sogar ständig. Wir füllen die Lücke, wer wir sind, aus, allerdings meist ganz unbewusst. Wir halten gar nicht lange genug inne, um zu merken, welches zusätzliche dritte Wort wir einsetzen, um zu beschreiben oder gar zu definieren, wer wir sind. Das geschieht wie automatisch – und ist unglaublich aufschlussreich.

Ich bin ein ziemlich guter Vater. Ich bin ein grottenschlechter Handwerker. Ich bin ein aggressiver Autofahrer. Ich bin ein mittelmäßiger Musiker. Ich bin erfolgreich. Ich bin ein Versager. Ich bin …



Ich spreche von

einem

 zusätzlichen Wort zu dem

„Ich bin“

, aber in Wirklichkeit sind es oft viel mehr Wörter. Das „dritte Wort“ kann auch eine Redewendung, ein ganzer Satz oder sogar eine Aufzählung sein. Es kann eine Befürchtung oder ein Gefühl sein, eine Erinnerung oder ein Trauma, aber es kann auch ein Vorwurf oder eine Anklage sein, die tief in unserer Psyche gespeichert ist.



Wir füllen diese Lücke nach dem

„Ich bin …“

 schon unser Leben lang aus, aber nur selten halten wir inne, um zu hinterfragen, ob das dritte Wort tatsächlich stimmt.



Ich muss dabei an die Lückentests in der Schule denken, bei denen ein Begriff oder manchmal auch zwei fehlten und die Aufgabe darin bestand, den richtigen Begriff in die entsprechende Lücke einzusetzen.



Auf den ersten Blick schien das ziemlich einfach, aber das war es oft gar nicht, denn für jede Lücke gab es eine – und nur eine – richtige Antwort. Entweder das eingesetzte Wort war richtig, oder es war falsch. Das war meistens richtig schwer.



Bei Multiple-Choice-Tests hatte man wenigstens eine Chance von 1:4, die richtige Antwort anzukreuzen, und bei offenen Fragen, zu denen man selbst eine Antwort formulieren musste, konnte man auch noch Punkte für Kreativität, Fleiß und allgemeines Gelaber einheimsen. Und in allgemeinem Gelaber war ich immer ziemlich gut.



Doch bei diesen gnadenlosen Lücken war das ganz anders. Da war kein Platz für Überflüssiges oder Fehler. Beim Lückentest ging es nur um die eine korrekte Antwort.



Und es gab nur eine Person – den Lehrer bzw. die Lehrerin –, die das Recht hatte zu entscheiden, was in die Lücke gehörte. Er oder sie traf die Entscheidung, wofür die Lücke stand.



Wer hat in Bezug auf Ihr Leben das Recht, diese Lücke auszufüllen und den richtigen Begriff einzusetzen? Sie selbst? Oder sind es Ihre Eltern, Ihre Freunde oder Ihre Lebensumstände?



Ich habe mir vor kurzem ein altes

60 Minutes

-Interview mit Bob Dylan angeschaut, in dem der Interviewer fragte, warum er sich Bob Dylan und nicht mehr Robert Zimmerman nenne?



„Man kann sich doch nennen, wie man will“, antwortete Dylan auf die für ihn so typische nonchalante Art: „Das hier ist schließlich ,the land oft the brave and the free‘.“

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Seinen offiziellen Namen kann man ja tatsächlich relativ problemlos ändern. Aus einem Zimmerman kann durch das Ausfüllen einiger Formulare und eine Unterschrift ganz einfach ein Dylan werden. Aber was ist mit den inneren Bezeichnungen und Namen, die Sie definieren? Wer entscheidet über die? Und was ist, wenn Ihnen das, was bei Ihnen bisher in die Lücke eingefüllt wurde, nicht gefällt? Lässt es sich noch ändern? Und wenn ja, in welchem Ausmaß ist das möglich, und in welchem Ausmaß sollte es dann auch geschehen?



Und gibt es denn auch hier nur eine richtige Antwort? Lassen sich all die Nuancen, die Komplexität und die Widersprüche Ihres Lebens so kurz und knapp zusammenfassen?



Das alles sind ganz praktische Fragen, die den Kern Ihres Selbstbildes und Ihres Identitätsgefühls betreffen.

 



Wahrscheinlich brauchen Sie sich ja inzwischen nicht mehr mit Lückentests herumzuschlagen, aber die

„Ich-bin“

-Fragen des Lebens sind eine noch viel größere Herausforderung, weil Sie sie tagtäglich beantworten. Und Ihre Antworten lenken wohl oder übel den Verlauf Ihres Lebens bzw. lenken ihn um.



Im Folgenden ein paar dritte Wörter, die ich ständig sowohl in meinem Kopf als auch laut aus meinem Mund höre:

Unfähig. Dumm. Stark. Getrieben. Verkorkst. Loyal. Verletzt. Überfordert. Gesegnet. Fähig. Enttäuscht. Kaputt. Hoffnungsvoll. Abgestumpft. Zufrieden.



Kreisen Sie doch einmal im Geiste die Wörter ein, mit denen Sie sich identifizieren können, und ergänzen Sie w