Geschichte im Text

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3.2.1 Hayden White in der Kritik

Bis in die Gegenwart gilt Hayden White als Initiator einer systematischen, »meta«-historischen Auseinandersetzung mit den Bedingungen historischen und literarischen Erzählens und wird in jüngeren Veröffentlichungen entsprechend gewürdigt.1 Dies soll jedoch nicht blind machen für die berechtigte Kritik, die Whites Thesen sowohl von Seiten der Geschichtswissenschaft wie auch durch Vertreter der Literaturwissenschaft erfahren haben.

Die entscheidenden Vorwürfe aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive äußert mit Blick auf die recht spät einsetzende White-Rezeption in Deutschland der Historiker Jörn Rüsen schon früh.2 Zum einen vermisst er in Whites Untersuchung die im Rahmen der Historik, also der systematischen Selbstreflexion der Fachhistorie, »unerläßliche Frage nach der Wissenschaftsspezifik von Geschichtsschreibung«, die im Kontext einer streng textlinguistischen Untersuchung, wie White sie unternehme, zwangsläufig ausgeblendet bleiben müsse.3 Zum anderen wirft Rüsen White vor, die historische Dimension narrativer Verfahren der Geschichtsschreibung zu ignorieren, indem er sich auf eine Typologie berufe, die unhistorisch arbeitet. Die für den Wandel historischer Darstellungsformen so relevante zeitliche Dynamik bleibe dadurch unberücksichtigt.4

Insbesondere der Vorwurf, Hayden White unterschlage in seiner Profilierung eines Geschichtsbegriffes, der auf seine narrative Form als konstitutives Merkmal reduziert wird, das wissenschaftliche Selbstverständnis und die damit einhergehenden Ansprüche des Faches, wird bis in die Gegenwart diskutiert. So beklagt etwa Chris Lorenz die Unfähigkeit des von White etablierten metaphorischen Narrativismus, »das historische Schreiben mit der historischen Forschung zu verbinden.«5 Lorenz verteidigt einen Geschichtsbegriff, der den Wahrheitsanspruch des Historikers ernst nimmt, und warnt davor, die stilistischen wie rhetorischen Merkmale der Geschichtsschreibung mit der Geschichte als solche zu verwechseln und diese auf einen »Zweig der Ästhetik oder der Literaturwissenschaft« zu reduzieren:

Das ist im wesentlichen, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschehen ist, und es ist kein Zufall, daß viele Bücher zur Philosophie der Geschichte heutzutage in literaturwissenschaftlichen Instituten geschrieben werden.6

Der von Lorenz hier stellvertretend geäußerte Anspruch der Historiker auf die wissenschaftliche Selbständigkeit ihres Faches in Abgrenzung von der Literaturwissenschaft spiegelt sich im literaturwissenschaftlichen Bemühen um eine Differenzierung des Geschichts- vom Literaturbegriff. Diesbezüglich hat der Anglist und Narratologe Ansgar Nünning eine der ausführlichsten literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Thesen Whites vorgelegt.7 Im Einzelnen nennt er vier zentrale Kritikpunkte an Whites Thesen, die, so Nünning, nicht nur fundamentale Unterschiede zwischen historisch-wissenschaftlichen und fiktionalen Texten ignorieren, sondern zudem einen nur wenig präzisen Literaturbegriff formulieren würden. Zunächst unterstreicht Nünning, Jörn Rüsen folgend, die Wissenschaftsspezifik historischer Darstellungen sowie den historischen Texten inhärenten Wahrheitsanspruch, der die Diskurse Geschichte und Literatur grundsätzlich voneinander trenne. Tatsächlich profiliere White einzig den narrativen Modus als gemeinsames Charakteristikum historischer und literarischer Texte, ignoriere damit aber, dass beide Diskurse einen vollkommen differenten Wahrheitsanspruch für sich beanspruchen und grundsätzlich für »die Produktion und Rezeption literarischer Werke ganz andere Konventionen gelten als für geschichtswissenschaftliche«.8 Nünnings Kritik zielt auf einen in Whites Ausführungen installierten Literaturbegriff, der aus Sicht einer um die Autonomie des literarischen Kunstwerks bemühten Literaturwissenschaft heikel anmutet. White nämlich verteidigt seine Lektüre des historischen als literarischen Text mit dem Hinweis, dass beide doch ein ähnliches Ziel verfolgen: die Wirklichkeit zu erklären und Weltwissen zu vermitteln. So heißt es explizit in einem seiner Aufsätze jüngeren Datums:

It is literature’s claim to manifest, express, or represent reality, to summon up and interrogate the real world in all its complexity and opacity, that brings it into conflict with writers of historical discourse.9

Hier bringt White einen Realismusbegriff ein, der nicht geeignet ist, den Begriff der Literatur zu erklären – vielmehr droht er die Literatur auf ein Werkzeug der Historiografie zu reduzieren und damit ihren autonomen Status einzuebnen. Ähnlich deutlich wird White in seinem Beitrag zum »historischen Text als literarisches Kunstwerk«, wenn er darin den erkenntnisstiftenden Status der Historiografie zu verteidigen sucht:

Es würde ihn [den Status der Erkenntnis historiografischer Texte, S.C.] nur mindern, wenn wir der Meinung wären, daß die Literatur uns nichts über die Wirklichkeit lehrte, sondern Produkt einer Phantasie sei, die nicht von dieser Welt, sondern von einer anderen, nichtmenschlichen Welt wäre. Meines Erachtens erfahren wir die Fiktionalisierung der Geschichte als eine »Erklärung« aus demselben Grunde, wie wir große fiktionale Literatur als Erhellung einer Welt, in der wir zusammen mit dem Autor leben, erfahren. In beiden Fällen erkennen wir die Formen, mit denen das Bewußtsein die Welt, in der es sich einrichten will, sowohl konstituiert als auch kolonisiert.10

Die fehlende Abgrenzung der erkenntnisleitenden Intention eines historiografischen Textes (und seiner damit verbundenen Wissenschaftlichkeit) von jeglicher Art literarischer Texte erlaubt White, relativ unbedarft von den Gemeinsamkeiten beider auszugehen – führt jedoch zu einem prekären, engen Korsett, in das der Literaturbegriff gezwängt wird.

Ähnlich undifferenziert, führt Ansgar Nünning in seiner Kritik an White weiter aus, gehe der Historiker bei seiner Einebnung des Unterschieds zwischen literarischen Verfahren und fiktionalem Aussagemodus vor. In der Tat wäre mit Nünning etwa zu fragen, ob ein literarischer Text, der realistische/dokumentarische Erzählelemente verwendet, zwangsläufig an Fiktionalität einbüßen muss. Drittens kritisiert Nünning die seines Erachtens »nicht haltbare[] Gleichsetzung von emplotment mit Literarizität und Fiktionalität«.11 Hier liegt tatsächlich eine entscheidende Schwäche der White’schen Argumentation verborgen, da es ihm nicht gelingt, überzeugend nachzuweisen, inwiefern das emplotment (nämlich »die Kodierung der in der Chronik enthaltenen Fakten als Bestandteile bestimmter Arten von Plotstrukturen«), so wie White es mit Bezug auf Frye verstanden haben will, tatsächlich nur Literatur und Historiografie vorbehalten ist. Vielmehr ließe sich dieser Konstruktionsprozess auch auf journalistische und dokumentarische Texte ebenso wie auf jede Art von Fallbeschreibungen (juristische, klinische, psychologische) übertragen – die deshalb noch lange keine fiktionalen oder literarischen Texte darstellen.

Zuletzt, hier setzt Nünning seinen vierten Kritikpunkt an, begegne bei White ein deutlich überstrapazierter Fiktionalitätsbegriff, der sich zumindest für die literaturwissenschaftliche Arbeit nicht eignet. Zu leichtfertig setze White den Konstruktionscharakter historiografischer Texte mit deren fiktionaler Beschaffenheit gleich. Statt von den Konstruktionsmechanismen eines Textes auf seine literarische Dimension zu schließen, wäre es (zumindest aus literaturwissenschaftlicher Sicht) sinnvoller, nach jenen Unterschieden zu fragen, die möglicherweise die narrative Konstruktion der Geschichte in literarischen Texten von jener in historischen trennt.

Die Kritikpunkte an Whites Argumentation ließen sich fortführen, etwa mit Blick auf die Tatsache, dass White in Metahistory seine Thesen ausschließlich über eine Analyse der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entwickelt, die in den Folgeveröffentlichungen apodiktisch auf die geschichtliche Darstellung generell übertragen wird. Darüber hinaus ignoriert White, wenn er die tropische Struktur des Plots (der diegetischen Ebene) untersucht, eine zweite Ebene, die der erzählenden Distanz, die in historischen wie literarischen Darstellungen jenseits der diegetischen Ebene positioniert sein und diese extradiegetische Position selbstreflexiv zum Ausdruck bringen kann. Zuletzt haben auch Whites oben ausgeführte Ansätze einer Narrationsanalyse und die darin vorausgesetzte Kombination der dominierenden Plotstruktur (Romanze, Komödie, Tragödie, Satire) mit Formen der ideologischen Implikation (konservativ, liberal, anarchistisch, radikal) literaturwissenschaftliche Vertreter in ihrer Logik nur bedingt überzeugt.12

Ungeachtet dieser, gerade aus literaturwissenschaftlicher Perspektive durchaus berechtigten Einwände bleibt Hayden White, und zwar deutlicher noch für Literaturwissenschaftler als für seine Historiker-Kollegen, die zentrale Referenz, wenn es um die Diskussion narrativer Verfahren der historiografischer Darstellungen geht: Tatsächlich wird seinem Werk bereits der Status eines »cultural icon« zugesprochen.13

3.2.2 Hayden White und die postmoderne Geschichtswissenschaft

Die nahezu unüberschaubare, affirmative wie kritische Rezeption Hayden Whites in literaturwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Beiträgen zur Narrativität historischer Darstellungen hat dafür gesorgt, dass White als Vorreiter einer postmodernen Kritik am positivistischen Begriff der Geschichte wahrgenommen wird – auch White selbst gibt sich (wenngleich vorrangig in seinen späteren Veröffentlichungen) namentlich als ›Postmodernist‹ zu erkennen.1 Diese Fremd- und Selbstetikettierung hat dazu geführt, dass White für einen Repräsentanten jener poststrukturalistischen Ansätze gehalten wird, wie Roland Barthes, Jacques Derrida und Richard Rorty sie vertreten. Diese Positionen jedoch, so stellt ein genauer Blick insbesondere in Whites Veröffentlichungen der 1970er und 1980er Jahre klar, liegen dem Historiker fern. Entsprechend rechnet er in einem frühen Aufsatz mit der seines Erachtens »absurdistischen«, durch dekonstruktivistische Ansätze geprägten Literaturkritik der französischen Theoretiker ab, allen voran mit Jacques Derrida, dem, so White polemisch, »derzeitigen Magus der Pariser Intellektuellenszene«.2 Die Schärfe seiner Argumentation lässt keinen Zweifel daran, dass ihm der radikale Entwurf Derridas, in dem »der Welt jegliche Substanz abgesprochen wird und die Wahrnehmung blind ist«,3 zu weit geht.

 

Vor diesem Hintergrund erklären sich die offensichtlichen Unterschiede, die zwischen White und der poststrukturalistischen Infragestellung jeglicher realer Ereignisse, wie sie etwa Roland Barthes in Historie und ihr Diskurs vertritt, bestehen. Barthes erklärt die Trennung zwischen res gestae (als Signifikat der Geschichte) und historia rerum gestarum (als Signifikant) für obsolet, da er wie Derrida die Existenz eines »Text-Äußeren«4 bestreitet und die historischen Fakten nicht als Realität, sondern »Be-deutetes« erkennt. Hayden White jedoch gibt die historische Referenzialität nicht preis, sondern hält an der Existenz einer historischen Wirklichkeit fest – wenngleich er die Möglichkeit, diese mimetisch abbilden zu können, hinterfragt. Hier ist dem deutschen Historiker Hans-Jürgen Goertz zuzustimmen, der als einer der wenigen Fachvertreter darauf hinweist, dass White gerade nicht der postmodernen Neigung nachgibt, »die Wirklichkeit […] dem Text zu opfern«.5

Deutlich wird dies, wenn White in Metahistory als sein erklärtes Arbeitsziel angibt,

das Geschichtswerk in seinem offensichtlichsten Aspekt [zu] erschließen, nämlich als sprachliches Gebilde in der Form alltäglicher Rede, welches ein Modell oder Abbild vergangener Strukturen und Prozesse zu sein und auf dem Weg ihrer Darstellung das »wirkliche Geschehen« zu erklären beansprucht.6

Hier wird die bei White noch aufrecht erhaltene Differenzierung zwischen der Geschichtserzählung und den ihr möglicherweise zugrunde liegenden Fakten offensichtlich – White problematisiert die historische Erkenntnis aufgrund der poetischen Eigenschaften der Geschichtsdarstellung, nicht aber die Existenz historischer Tatsachen an sich. Diesen jedoch entzieht Roland Barthes bereits den Boden, wenn er dem historischen Diskurs nicht mehr das Reale, sondern lediglich dessen Effekt (l’effet de réel) zugrunde legt. Auch in späteren Veröffentlichungen hält Hayden White an der von ihm nicht weiter hinterfragten Existenz so genannter ›realer Ereignisse‹ oder ›realer Ereignisreihen‹ fest, etwa in seinem 1987 erschienenem Aufsatz zum Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in dem er sich explizit mit Barthes poststrukturalistischen Thesen auseinandersetzt.7 Darin skizziert White die »›Dekonstruktion‹ von Narrativität, wie sie von Barthes und den Poststrukturalisten betrieben worden war,« und lässt keinen Zweifel an seiner Distanz zu deren Positionen, wenn er Barthes’ Schlussfolgerungen als das Resultat »einer Menge höchst problematischer Theorien« versteht, »die insbesondere mit den Namen von Jacques Lacan und Louis Althusser verbunden sind.«8

Umso erstaunlicher ist, dass Hayden White und Roland Barthes nicht nur häufig in einem Atemzug genannt werden, sondern Whites Positionen gerade wegen ihrer vermeintlichen Nähe zu poststrukturalistischen Ansätzen und deren Dekonstruktion des Wirklichkeitsbegriffes attackiert werden.9 Noch im Jahr 1995 reagiert White in Journal of Contemporary History auf einen solchen Angriff, der in der gleichen Zeitschrift in der vorausgegangenen Ausgabe erschienen war. Arthur Marwick, Historiker und überzeugter Kritiker der aus seiner Sicht überbewerteten Diskussion um die Narrativität der Geschichtsschreibung bzw. der Geschichte, vollzieht darin eine Abrechnung mit postmodernen Theoretikern und spannt seinen Bogen von Lévi-Strauss, Lacan, Barthes, Foucault bis hin zu Hayden White und Antony Easthope. Ihnen allen unterstellt er die Instrumentalisierung und Banalisierung der anspruchsvollen, gewissenhaften, einer seriösen Quellenkritik verpflichteten historischen Tätigkeit im Dienste eines fragwürdigen postmodernen Geschichtsbegriffes.10 Hayden White nimmt Bezug auf diese Kritik, wirft Marwick (zu Recht) einen insgesamt undifferenzierten Umgang mit dem Begriff der Postmoderne vor und positioniert sich in bezeichnender Weise zu Barthes’ theoretischen Standpunkt, indem er diesen zwar nicht angreift, jedoch in seinem Sinne umdeutet.

I have been criticized elsewhere for my agreement with Barthes’s remark: ›Le fait n’a jamais qu’une existence linguistique‹. This has been taken to suggest that ›events‹ are only linguistic phenomena, that events have no reality, and that therefore there are not and possibly never were any such things as historical events. Now, such a view, if anyone ever held it, is manifestly absurd. By ›history‹ (considered as an object of historical research), we can only mean the sum total of all the events (including the interconnections between them) that happened in ›the past‹. The events have to be taken as given; they are certainly not constructed by the historian. It is quite otherwise with ›facts‹. They are constructed: […] It is the ›facts‹ that are unstable, subject to revision and further interpretation, and even dismissible as illusions on sufficient grounds. Thus, Barthes’s statement that ›facts have only a linguistic existence‹ I construe as an assertion that ›facts‹ – unlike events – are linguistic entities […].11

White gibt hier weder die historische Referenzialität noch den Wirklichkeitsbegrifft preis, da er zwar die Fakten des Historikers als Konstrukt, die dahinter liegenden historischen Ereignisse (events) jedoch weiterhin als objektiv gegeben begreift.

Zuletzt hat Hayden White sich an einer Differenzierung zwischen historical fact und historical event in einem 2008 veröffentlichten Gespräch mit der polnischen Historikern Ewa Domanska versucht. Unter Rückgriff auf Arthur C. Danto bezeichnet White facts hier als »linguistic phenomena or concepts because the fact is an event under description« und gibt damit die herkömmliche Trennung zwischen den res gestae und der historia rerum gestarum, wie sie auch Barthes bestritten hatte, scheinbar doch auf.12 Den Prozess, in dem ein Historiker aus dem tatsächlich Ereigneten das historische Faktum generiert, nennt White »factualization« und begreift diesen als performative Äußerung. Er nimmt damit implizit Bezug auf Barthes, der den historischen Diskurs ebenfalls als »verfälschte[n] performative[n] Diskurs« enttarnt hatte.13 Tatsächlich scheint White sich hier deutlich stärker an die Positionen Roland Barthes anzulehnen als in seinen frühen Veröffentlichungen – seine Interviewpartnerin bezeichnet sein Konzept des historischen Faktums entsprechend (und ohne dass White widerspricht) als »inherited from Barthes«.14 Und dennoch: White beharrt darauf, sich, anders als Barthes, auf etwas außerhalb des Diskurs Liegendes zu beziehen, das nicht mehr die Fakten, sondern die events meint. Hier scheint ein auffälliger Widerspruch im Denken Whites zu liegen, der – obgleich er die sprachliche Gestaltung, die Selektions- und Interpretationsverfahren, denen die historischen Fakten unterliegen, immer wieder unterstreicht – nach wie vor an seinem Begriff der events als »things that really happened«15 festhält. Die Aufgabe des Historikers ist es mit White gerade, jene historischen Ereignisse (events) zu interpretieren, die

do not conform to the factual records that we already have processed. They fall outside and they are asking to be classified. This is what a historian does in his/her research about a given event.16

Wie aber lässt sich zwischen facts und events differenzieren, wenn sämtliches Wissen um ein vergangenes Geschehen, wie auch White betont, Prozesse der Repräsentation und der Erklärung voraussetzt? Das vergangene Geschehen ist jenseits seiner, mit White, Faktualisierung nicht zu haben und steht damit ausschließlich als »event under description« zur Verfügung. Mit dieser Einsicht aber ist eine Beschäftigung mit dem, was White als given event bezeichnet, nicht mehr möglich, da die Geschichte sich nicht mehr, mit Barthes, auf das Reale, sondern lediglich das Intelligible zurückrechnen lässt.

Whites Bedeutung für die Geschichts- wie die Literaturwissenschaft liegt, das lässt sich abschließend feststellen, weniger in seiner Relativierung der historischen Wirklichkeit – das vollziehen (auch vor ihm) andere konsequenter. Vielmehr bleibt das entscheidend Neue seiner Arbeit die konsequente Analyse historischer Texte mithilfe einer Untersuchung ihrer rhetorischen Struktur und damit die analoge Betrachtung literarischer und historischer Texte. Die Reaktionen auf Whites Thesen durch die Geschichts- wie die Literaturwissenschaft fallen bis in die Gegenwart äußerst unterschiedlich aus, erweisen sich jedoch gerade in ihrer Heterogenität als konstruktiv: Im Versuch, Whites Argumentation zu entkräften und die Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung und Literatur aufrecht zu erhalten, wird eine fruchtbare Diskussion über das Verhältnis von Literatur und Geschichte, eine Poetik der Historie und das historische Wissen der Literatur angestoßen.

3.3 Die Diskursivierung der Geschichte: Michel Foucault

Die inzwischen nahezu unüberschaubare fachübergreifende Rezeption der Werke Michel Foucaults spiegelt sich in seiner geschichtswissenschaftlichen Berücksichtigung, allen voran im deutschsprachigen Raum, nur bedingt. Hier setzt eine Auseinandersetzung mit dem Franzosen erst in den 1990er Jahren ein und bringt zunächst Einzelanalysen hervor, die etwa machtanalytische und genderorientierte Ansätze für geschichtswissenschaftliche Untersuchungsfelder fruchtbar zu machen suchen oder an Foucaults archäologische Studien zur Geschichte des Wahnsinns, der Pathologie sowie der Kriminalität anknüpfen.1 Die Entdeckung des Historikers Foucault verdankt sich vorrangig der umfangreichen, 1998 erschienenen Studie Ulrich Brielers, die zu folgendem Ergebnis kommt:

In summa: Die Historie Foucaults kann als der radikalste Versuch zeitgenössischen Geschichtsdenkens verstanden werden, die vermeintliche Objektivität der historischen Gegenstände und ihrer theoretischen Fassungen zu brechen.2

Inzwischen sind Brielers Untersuchung weitere Arbeiten gefolgt, die das Werk Foucaults aus einer breiteren geschichtswissenschaftlichen Perspektive beleuchten.3

Von Interesse für die vorliegende Untersuchung ist die Frage, inwieweit Foucaults Ausführungen zur Geschichte an der tiefen Verunsicherung der Geschichtswissenschaft angesichts der postmodernen Einsicht in die sprachliche Verfasstheit der Wirklichkeit teilhaben, inwieweit also eine positivistisch vorausgesetzte historische Realität in Foucaults Diskursbegriff aufgeht. Diesbezüglich findet eine frühe Verurteilung durch die Geschichtswissenschaft statt, indem Foucaults Konzept der Diskursanalyse hier ausdrücklich als Signal des linguistic turn und als Ansatz verstanden wird, den außersprachlichen Kontext unberücksichtigt zu lassen – mithin die historische Referenzialität einmal mehr aufzugeben.4

Als vermeintlich exponierter Vertreter des (Post-)Strukturalismus wird Foucault zum einen (insbesondere von Vertretern eines um politische Intervention bemühten Marxismus) die Flucht aus der Realität in einen apolitischen Szientismus unterstellt. Zum anderen – und dies ist das aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive entscheidendere Argument – wird ihm die grundsätzliche Infragestellung historischer Kontinuität zugeschrieben sowie die Absage an die Möglichkeit des Einzelnen zur historischen Veränderung und damit das »Ende des Subjekts«.5 Offenbar zeigt sich innerhalb dieser Diskussion eine ähnliche Undifferenziertheit, wie sie bereits die oben ausgeführte Vereinnahmung der Thesen Hayden Whites durch poststrukturalistische Positionen (und der Kritik daran) sowie die fehlende Trennschärfe zwischen der Narrativitätsdebatte und dem vermeintlich postmodernen Abschied von den historischen Fakten kennzeichnet. Zum Teil verführt wohl der Foucault’sche Diskursbegriff dazu, ihn analog zu dem von Barthes profilierten und damit ganz im Sinne des Poststrukturalismus zu verstehen. Tatsächlich aber ist Philipp Sarasin zuzustimmen, wenn er mit Blick auf das Foucault’sche Gesamtwerk behauptet: »Wir werden sehen: Diskursanalyse nach Foucault hat kaum etwas mit dem linguistic turn zu tun […].«6 Wie Barthes entwickelt Foucault den Diskursbegriff ausgehend von der Unterscheidung der Ebene des Geschehens (histoire) und der Ebene seiner sprachlichen Darstellung (discours), löst sich in der Folge jedoch von dem streng linguistischen Entwurf und hält beide, wie Hans-Jürgen Goertz im Blick auf die sich wandelnden Positionen Foucaults unterstreicht, in »einer Spannung, die neue Perspektiven für die historische Arbeit zu eröffnen vermag«.7 Diese Spannung wird insbesondere im Übergang von Die Ordnung der Dinge (1966) zu Die Archäologie des Wissens (1969) nachvollziehbar, jenen Schriften, die im Kontext geschichtswissenschaftlicher Auseinandersetzungen am stärksten rezipiert worden sind.8 Foucaults Einordnung als Poststrukturalist verdankt sich unübersehbar dem früheren der beiden Werke, in dem Foucault eine Archäologie der Humanwissenschaften (so der Untertitel der Studie) entfaltet, welcher er seinen Begriff der Episteme zugrunde legt, jenes Ordnungschema, das »im Raum der Gelehrsamkeit« die Bedingungen konfiguriert, »die den verschiedenen Formen der empirischen Erkenntnis Raum gegeben haben.«9 Als Episteme der Renaissance begreift Foucault die Ähnlichkeit, welche die Signatur und das von ihr Bezeichnete verbindet – beide sind hier noch »von genau gleicher Natur«.10 Das Prinzip der Ähnlichkeit fungiert damit als das erkenntnisstiftende Zwischenglied, das Zeichen und Bezeichnetes miteinander verknüpft: »Den Sinn zu suchen, heißt an den Tag zu bringen, was sich ähnelt.«11 Das heißt auch, dass die Sprache als epistemologisches Instrument hier zum einen nicht in Frage gestellt wird, und zum anderen Hermeneutik (als die Suche nach dem bedeuteten Sinn) und Semiologie (als Auseinandersetzung mit den deutenden Zeichen) ineinander übergehen.12

 

Im Übergang zum klassischen Zeitalter, im auslaufenden 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, beginnen Signifikat und Signifikant sich, mit Foucault, voneinander zu lösen. Um eine Verbindung zwischen beiden herzustellen, dominiert nun die Episteme der Repräsentation und später, im modernen Zeitalter, die des Menschen und der (subjektiven) Bedeutung, die er den Dingen verleiht. Von nun an, so Foucault, wird

man sich fragen, wie ein Zeichen mit dem verbunden sein kann, was es bedeutet. Auf diese Frage wird das klassische Zeitalter durch die Analyse der Repräsentation antworten, und das moderne Denken wird mit der Analyse des Sinnes und der Bedeutung antworten. Aber genau dadurch wird die Sprache nichts anderes mehr sein als ein besonderer Fall der Repräsentation – für die klassische Epoche – oder der Bedeutung – für uns. Die tiefe Zusammengehörigkeit der Sprache und der Welt wird dadurch aufgelöst.13

Das im klassischen Zeitalter etablierte Ordnungssystem der Repräsentation stellt dabei ein selbstregelndes Zeichensystem zur Verfügung, welches das Bezeichnete im repräsentierenden Bezeichnenden unmittelbar aufgehen lässt und die Erkenntnisfunktion der Sprache weiterhin aufrecht hält. Foucault verweist in seiner Argumentation auf das in der Logik von Port-Royal angegebene Beispiel der Landkarte, die dem von ihr bezeichneten Raum nicht ähnelt, sondern allein über die abstrakte Idee der Repräsentation funktioniert:

Tatsächlich hat das Bezeichnende als alleinigen Inhalt, als alleinige Funktion und als alleinige Bestimmung nur das, was es repräsentiert: es ist völlig danach geordnet und transparent; aber dieser Inhalt wird nur in einer Repräsentation angezeigt, die sich als solche gibt, und das Bezeichnete liegt ohne Rückstände oder Undurchsichtigkeit im Innern der Repräsentation des Zeichens.14

Dieser Glaube an eine Naturgeschichte, in der die Erkenntnis der Wesen aus der Möglichkeit ihrer Namensgebung resultiert und das Prinzip der Repräsentation den Dingen eine Realität gibt, erfährt im modernen Zeitalter, im Umbruch zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert, eine radikale Erschütterung. Diese wird, folgt man Peter Sloterdijk, ausgelöst durch die Einsicht in die »den Dingen selbst inhärenten Grenzen, […] die Autonomie der sachlogischen Ordnungen und ihre Irreduzibilität auf die Weise ihrer Vorstellung«.15 Repräsentation und Realität fallen nun mit Foucault auseinander, veranschaulicht an den Bereichen der Arbeit, des Lebens und der Sprache. Jedes Sprechen ist von nun an durch den historischen und sozialen Ort determiniert, in dem es stattfindet – der Diskurs als die (zunächst noch sprachlich gefasste) Erscheinungsform der Episteme rückt in den Vordergrund der Foucault’schen Argumentation und meint nun eine Denk- und Aussagepraxis, die jene Dinge, von denen sie spricht, erst produziert.

Hier erst setzen jene sprach- und erkenntnistheoretischen Reflexionen Foucaults an, die seine Wahrnehmung als Poststrukturalist primär verantworten. Exemplarisch zeigt das die Rezeption durch Hayden White, der einen Schulterschluss mit Foucault bereits früh übt. In einem 1973 veröffentlichten Beitrag setzt er sich mit Die Ordnung der Dinge und Die Archäologie des Wissens auseinander und deutet Foucaults Aussagen dabei als erkenntnistheoretische Prämissen einer Geschichtswissenschaft, die sich der sprachlichen Konstitution ihres Sujets stellen müsse. Denn Foucault schreibe, so White,

»die Chronik des Verschwindens und Wiederauftauchens der Sprache – ihr Verschwinden in der Repräsentation und ihr Wiederauftauchen anstelle der Repräsentation, als diese ihr Ende gefunden hat in der Erkenntnis des abendländischen Bewußtseins seiner eigenen Unfähigkeit, Humanwissenschaften hervorzubringen, die auch nur annähernd die Überzeugungskraft ihrer Gegenstücke in den Naturwissenschaften besitzen.«16

Foucault gilt White als »der Philosoph des französischen Strukturalismus«17, er versäumt zwar nicht auf Foucaults eigene Ablehnung dieser Kategorisierung hinzuweisen, schreibt der Ordnung der Dinge jedoch jene Prämissen ein, die seine These von einer durch den Historiker »erfundenen« Geschichte stützen:

Der eigentliche Grund, warum man über manche Dinge schweigen muß, ist der, daß wir bei jeder Bemühung, die Ordnung der Dinge in der Sprache zu erfassen, einen bestimmten Aspekt dieser Ordnung ausblenden. Da die Sprache ein »Ding« wie jedes andere ist, ist sie ihrem Wesen nach intransparent. Der Sprache die Aufgabe zuzuschreiben, die Welt der Dinge zu »repräsentieren«, als könne sie diese Aufgabe angemessen erfüllen, ist daher ein tiefgreifender Irrtum. Jede gegebene Diskursform kann daher nicht danach, was sie dem Bewußtsein über die Welt zu sagen erlaubt, bestimmt werden, sondern danach, was sie von ihr zu sagen verbietet, nach dem Erfahrungsbereich, den der sprachliche Akt selbst von der Repräsentation in der Sprache ausschließt. Sprechen ist ein repressiver Akt, als spezifische Form der Repression identifizierbar anhand des Erfahrungsbereichs, den es zum Schweigen verurteilt.18

Im Unterschied zu der Vereinnahmung durch White begründet Foucault den Repressionscharakter der Sprache jedoch nicht ausgehend von zeitgenössischen strukturalistischen Überzeugungen, sondern indem er, spätestens in der Archäologie des Wissens, einen Diskursbegriff etabliert, der »die diskursiven Praktiken in ihrer Komplexität und in ihrer Dichte« nachzeichnet und dabei zu zeigen sucht, »daß Sprechen etwas tun heißt.«19 Im Gespräch mit Raymond Bellour versucht Foucault den entscheidenden Unterschied zwischen strukturalistischen Ansätzen und der eigenen Diskursanalyse auszuführen:

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